Die Schreibmaschine
Prothese, bürokratisches Herrschaftsinstrument, Wegbereiterin der digitalen Welt
von Annette Vowinckel
Das älteste überlieferte Schriftstück, das mit einer Schreibmaschine geschrieben wurde, ist ein Brief der erblindeten Gräfin Carolina Fantoni da Fivizzano aus dem Jahr 1808 – es macht der von Marshall McLuhan vertretenen These, dass Medien eine Art Prothese für die Sinne sind, alle Ehre.
Tatsächlich ist die Schreibmaschine, neben dem Fotoapparat, die wichtigste Erfindung des 19. Jahrhunderts. Sie war (und ist) das Instrument der Bürokratie als Herrschaftsform, denn mit der Maschine schrieben sich Dekrete, Erlasse und Strafzettel leichter als mit der Hand. Das Kohlepapier – eine Art mechanischer Fotokopierer – half, wie von Zauberhand, bei der Vervielfältigung. Bürokraten schrieben nämlich nicht für sich selbst, sondern für und an andere: An Steuerzahler, an das Wahlvolk, an Kläger und Beklagte, an Käufer und Verkäufer, an Schuldner und Gläubiger. In Akten und Archiven, vor allem aus oder in Preußen und den Nachfolgestaaten, finden sich deshalb neben den Originalen auch erstaunlich viele schwarze, später violette Durchschläge.
Der Buchdruck ist zwar eine Erfindung des 16. Jahrhunderts, aber das einfädeln von Bleilettern blieb mühselig, bis die Schreibmaschine – wieder im 19. Jahrhundert – in die Setzmaschine überging. Sie machte es möglich, große Textmengen schnell zu drucken. Weitaus schneller drucken wir heute digitale Daten, aber das Interface zwischen Mensch und Maschine ist noch die gleiche Zehnfingertastatur wie bei der Gabriele.
Dankbar sind wir Historiker*innen nicht nur dafür, dass wir selbst am Bildschirm geschriebene Texte jederzeit verändern (sprich: korrigieren, erweitern, verbessern) können. Dankbar sind wir auch dafür, dass wir mit der Schreibmaschine geschriebene Texte scannen und per OCR in durchsuchbare Dateien verwandeln können.
Das hier gezeigte Bild von einer verrosteten und verformten Schreibmaschine habe ich in einer verlassenen Fabrik in Brandenburg aufgenommen. Es ist ein visuelles Denkmal für ein Gerät, das nicht mehr gebraucht wird und das den digital natives des 21. Jahrhunderts schon fremd ist. Gleichzeitig hat das Bild etwas Poetisches: Es ist ein (Ab-)Gesang auf eine Kulturtechnik, deren mechanische Variante zwar ausgestorben ist, deren digitales Erbe aber die Welt beherrscht. Keine Email, keine Excel-Tabelle, keinen Blog, kein aus einer Datei gedrucktes Buch hätten wir ohne diese wunderschöne Maschine.
Casablanca
von Andreas Ludwig
Vom Buchdeckel strahlt das Eckhaus in reinstem Weiß und kühn geschwungener Fassade wie ein Schiffsbug. Die Straße ist leer, der Himmel wolkenlos blau. Wo das wohl aufgenommen sein mag? Südamerika? Marseille, Beirut, Israel? Oder doch nur die Niederlande? Eingeschweißt und doch sofort gekauft. Das Bild verspricht eine wiederaufgefundene Moderne, eine urbane Zone, die es zu entdecken gilt, trotz des Übermaßes an Bauhaus, Bauhaus, Bauhaus in diesem Jubiläumsjahr, in dem die einst faszinierenden Teekännchen und Barcelona-Pavillons mich zunehmend bedrängen.
Ich ertappe mich bei einer Art Exotismus, die das harte Weiß, die strenge Ordnung und die Leere der Betonlandschaft in mir auslösen. Filme, schwarz-weiße natürlich, gehen mir durch den Kopf, in denen Hitze und die vergebliche Illusion des Glücks einander bedingen. Das Buch wird geöffnet, der Schiffsbug steht in Casablanca.
Die Assoziationskette läuft an: Bergmann und Bogart, natürlich, obwohl der Film gar nicht dort gedreht wurde. Das Vichy-treue Französisch-Nordafrika als Fluchtpunkt der Entwurzelten. Ein lost place? Wie gut, dass der Jahresurlaub in Marokko schon feststeht. Ich bringe Casablanca gegen diverse Medinas und wilde Gebirgslandschaften in Stellung und lese mich in die Kolonialgeschichte ein, lerne, dass Marokko 1912 gemeinsam mit Spanien zum französischen Protektorat wurde, die territoriale Brücke zu Französisch-Westafrika, mit Casablanca als Zentrum. Lerne, dass die Franzosen ihre villes nouvelles neben die arabischen Städte gebaut haben. Ich bin fasziniert. Von den Marokkanern ist allerdings kaum die Rede. Ich habe ein schlechtes Gewissen.
Die Staatsbibliothek zu Berlin zeigt die Ausstellung „Bau1haus trifft Hans Scharoun“ mit Fotografien von Jean Molitor. Da ist es wieder, das Bauhaus. Der Fotograf spricht zur Eröffnung, ein sympathischer, unaufgeregter Weltenbummler, der sich auf die Suche nach der Architektur des art deco begeben hat. Die abweisen, kalte Leere der Fotografie erklärt sich aus dem Zeitpunkt der Aufnahmen früh morgens. Eine Situation der Unwirklichkeit, der die Unwirtlichkeit des Betons noch steigert.
Vor Ort stelle ich fest, dass der Schiffsbug nicht zu finden ist. Die halbe Innenstadt ist art deco, die Franzosen machen Casablanca zu ihrem Handelszentrum und bauen in Afrika ihre Interpretation einer modernen Stadt und einer überlegenen Gesellschaft. Die Überfülle einer Architektur der Moderne, die in Deutschland durch Weltwirtschaftkrise und Nationalsozialismus abgebrochen ist, macht atemlos. Im Gegensatz zu den Fotografien Jean Molitors erweist sich Casablanca jedoch als Stadt im Gebrauch. Was auf den Fotografien als Ikonen der Moderne erscheint, ist einfach da, jedenfalls solange es noch einen Zweck erfüllt. Die Frage nach einem Architekturführer durch die Stadt stößt auf verständnisloses Lächeln. Also flaniert man, so gut es geht und versucht, den Blick von den Mobiltelefonkettenläden, Reisebüros und Kleidungsgeschäften abzulenken, auf der Suche nach: ja, was?
Der umstandslose Gebrauch der baulichen Relikte der Kolonialzeit beruhigt, doch irritiert er auch. Das obligatorische Café de Paris suggeriert eine fortdauernde Orientierung am modernen Lebensstil als Import. Selbstverständlich sind Patisserien, die Schulhefte haben immer noch eine französische Lineatur, moderne Infrastruktur, Niederflurstraßenbahnen oder Schnellzüge, kommen immer noch aus der ehemaligen Kolonialmacht. Die mangels arabischer Sprachkenntnisse höfliche Frage, ob man französisch spreche, erübrigt sich. Angesichts der Allgegenwärtigkeit dieses kulturellen Einflusses verhält man sich selbst gleichsam kolonial, man erwartet das Europäische als Selbstverständlichkeit.
Die Reise zur Fotografie ist zutiefst verstörend. Sehen wir eine postkoloniale Realität, die so post- gar nicht ist? Verdrängt die Faszination an der architektonischen Moderne die kritische Sicht auf ihren historischen Kontext? Verweist die äthetisierende Sprache der Fotografie auf die Ambivalenz von „heritage“oder ruft sie lediglich einen neuen, gleichsam umgekehrten Exotismus hervor, in dem wir uns pionierhaft zu bewegen glauben? Ist mein Traumbild des Jahres 2019 ein Traumbild?
Über die schwierige Akzeptanz der Abwesenheit
von Helen Thein
Im letzten Sommer ist meine Mutter gestorben. Sie war nicht wirklich alt, keine 70 Jahre. Sie war auch nicht erkennbar krank. Noch am Donnerstag hat sie mit ihrer liebsten Freundin gefeiert und Sekt getrunken. Am Samstagabend rief sie mich aus der Notaufnahme an und fragte, ob ich ihr ein paar Sachen bringen könne, die sie in der Aufregung vergessen habe. Am Sonntag musste sie ins künstliche Koma versetzt werden. Als ich Montagfrüh nach ihr sehen wollte, hieß es, dass nichts mehr zu machen sei. Ich hatte noch zehn Minuten, die ich ihre Hand halten, ihre Stirn küssen und mich über sie beugen konnte. Noch Wochen später hat mein Körper sich über sie gebeugt.
Sie sah im Sterben sehr schön aus. Wie die junge Frau auf den Fotos, die vor meiner Geburt entstanden sind, als sie inmitten vieler Männer Ingenieurwesen studierte und sich nicht hat unterkriegen lassen. Nur ihre grauen Haare erinnerten daran, dass das schon lange her war. Dieses Bild meiner sterbenden Mutter hat sich mir in die Seele eingegraben. Sie lag ganz ruhig da, schien keine Schmerzen zu haben. Irgendwann kam die Schwester und sagte: Es ist vorbei. Dann hat sie die Beatmungsmaschine abgestellt. Wenige Minuten später verwandelte sich der Körper meiner Mutter in den einer Leiche. Ein Körper ohne Leben. Von diesen beiden Zuständen, ihrem Sterben und ihrem Tod, gibt es keine Fotos.
In den Wochen danach habe ich, gemeinsam mit meiner Schwester ihre Wohnung aufgelöst. Das war weniger schlimm als befürchtet. Unsere Mutter war sehr pragmatisch. Sie hat nichts Überflüssiges aufgehoben. Wir haben aber auch kaum Erinnerungsobjekte gefunden. Unsere Mutter hat ihre Freundschaften gelebt und losgelassen, wenn etwas vorbei war. Allerdings fanden wir unzählige Fotoalben und noch mehr Fototaschen. Ich hatte ganz vergessen, wie gerne sie in den Jahren nach 1989 gereist war.
Die meisten der Fotos habe ich weggeworfen. Es sind nicht meine Erinnerungen. Und sie war keine gute Fotografin, eher eine Knipserin. Ich habe nur Bilder aufgehoben, auf denen sie und ihre Freundinnen zu sehen sind.
Ein Bild aber, das schon im Papierkorb lag, habe ich wieder herausgeholt. Es muss in einem Urlaub entstanden sein und zeigt, wie meine Mutter sich selbst im Spiegel eines Museums fotografiert. Das Blitzlicht macht ihr Gesicht unkenntlich, aber ihre Gestalt ist erkennbar. Ihre Haltung deutet Unternehmungslust an.
Ich habe das Bild gerahmt und über meinen Schreibtisch gehängt. Es ist das einzige Bild von ihr, dass ich zur Zeit aushalten kann. All die anderen Bilder, auf denen sie lebensfroh in die Kamera lacht, schmerzen zu sehr.
Dieses Bild aber scheint von der Entfernung zu wissen, die der Tod mit sich bringt. Meine Mutter kann nicht mehr Teil meines Alltags sein. Wir können nicht mehr telefonieren. Wir können nicht mehr füreinander da sein. Ich muss ihre Abwesenheit akzeptieren und damit zu leben lernen.
Dieses zunächst weggeworfene Bild aber lese ich wie einen Gruß von ihr. Dass unsere Verbindung auch über ihren Tod hinaus nicht abbrechen wird.
„Dear Living Room Owner“
von Miriam Zlobinski
Ein auf vielen Foto-Festivals und in Magazinen nicht zu übersehendes Fotoprojekt ist mir in diesem Jahr nicht mehr aus dem Kopf gegangen, die Serie „Living Room“ der Fotografin Jana Sophia Nolle. Ein Bild aus dem Projekt soll hier stellvertretend stehen.
Als Kind habe ich liebend gerne Höhlen gebaut, Fantasieräume erschaffen, in denen wir unseren Tee aus Bechern statt aus Tassen tranken und in denen nur unsere eigenen Regeln, etwa nicht ins Bett zu müssen, gelten sollten. An diese unschuldige Freiheitssuche und zugleich die Geborgenheit der Akzeptanz muss ich denken, wenn ich die Bauten auf der Fotografie betrachte. Verschiedenfarbige oder glitzernde Tücher bilden das Dach, ein Vogelkäfig in Herzform verwahrte vielleicht ein Haustier und dient nun unten links als Zeltelement. Aus dem Inneren quillt Verschiedenes unter dem Zeltdach hervor. Bei genauerem Hinsehen lassen sich ein Brett und Rollen entdecken, auf die alles montiert ist. Das macht die ganze Behausung ziemlich rutschig, mobil an einer Stelle, dem Wohnzimmer, an dem nichts mobil sein müsste.
Doch das Zelt, im Mittelformat aufgenommen, ist kein Spiel.
Es ist eine Intervention der Fotografin Jana Sophia Nolle, aufgenommen in San Francisco , Kalifornien. Die Bedingungen für Obdachlose gelten hier als die schlechtesten der Welt. Obwohl die Stadt mit ihren zahlreichen Innovationsunternehmen im Silicon Valley in den USA zu den drei teuersten Wohnorten gehört, verurteilte die UN-Sonderberichterstatterin Leilina Farha in einem Bericht 2018 die "grausame und unmenschliche Behandlung" von Obdachlosen in San Francisco.[1]
„Ich bemerkte, dass sich diese beiden Welten zwar einen Bürgersteig teilen, aber im täglichen Leben unverbunden sind“, sagt Jana Sophia Nolle über den Ausgangspunkt ihres Projekts.[2]
In den letzten Jahren reiste die Fotografin zwischen Berlin und San Francisco und knüpfte Kontakte zur Oberschicht wie zu Obdachlosen, um ein Wohnzimmer zu schaffen. Sie entschied, sich auf das Zuhause zu konzentrieren, weil sie glaubt, dass ein ständiger Ort für Privatsphäre und Sicherheit eines unserer grundlegenden menschlichen Bedürfnisse ist. Sie sammelte Pappe, Einkaufswagen und kaputte Möbel und baute die Unterkünfte von der Straße nach. Einige Obdachlose gaben ihr Teile ihrer Unterkunft im Austausch für neue Materialien. Wenn du ein Wohnzimmer hast, kannst du es dekorieren, es zu deinem eigenen machen, deine Persönlichkeit in deiner Wahl der Gegenstände widerspiegeln", ein universeller Wunsch auf beiden Seiten erklärt Nolle, „es könnte zeigen, dass wir alle versuchen, Sinn und Verständnis durch den Ort zu schaffen, den wir zu Hause nennen“. Die Unterkünfte der Straße in den Wohnzimmern der Oberschicht, verursachten bei dem teilnehmenden Umfeld Fragen, Zuspruch und Ablehnung. Zeigt das Bild Unterschiede oder Vereinbarkeit?
Die Offenheit fotografischer Bilder lebt letztlich von Interpretation. Aus zwei Gründen ist diese Arbeit für mich stellvertretend für 2019 - zum einen vor den aktuellen Diskussionen über das Wohnrecht in Deutschland und zweitens aus den damit verbundenen größeren Diskussionen um Gesellschaft und grundlegende Lebenskonzepte. Ist der „American Dream“, der eng mit wirtschaftlichem Reichtum verbunden ist, noch unser Traum? Neben dieses Vorbild treten zunehmend weitere Wünsche wie Notwendigkeiten in Bezug auf Klimaschutz, Arbeitsmarkt und Digitalisierung. Dabei darf Angst kein Aktionstreiber sein, kann Erfolg nicht definiert werden über Produkt-Innovation und Alltags-Ignoranz, wie es die Situation in San Francisco nahe legt. Ich habe das Gefühl, dass wir gut 70 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erneut an der Wurzel ansetzen - Welches gemeinsame Ziel geben wir uns?
[1] Report of the Special Rapporteur on adequate housing as a component of the right to an adequate standard of living, and on the right to non-discrimination in this context, United Nations General Assembly, 19. September 2018.
[2] Nolle, Jana Sophia (2019): Über das Projekt „Living Room“, persönliches Interview, 27.05.2019.
Bildgeschichten 2019 | Teil 1
Mit Beiträgen von Annette Vowinckel, Helen Thein, Andreas Ludwig und Miriam Zlobinski