Entsetzliche, kaum auszuhaltende Bilder

Am 22. März 1960 sendete die ARD die erste der fünf Folgen der Mini-Serie „Am grünen Strand der Spree“. An diesem Abend wurden die Zuschauer*innen mit einer zweiundzwanzigminütigen Szene konfrontiert, die einen Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Orschas in der von den Deutschen besetzten Sowjetunion zeigt. Die Ausstrahlung der Mini-Serie bezeichnen einige Forscher*innen als einen „Bruch des kollektiven Schweigens“.
Die Produktion der Serie hat eine lange Vorgeschichte und basiert auf dem gleichnamigen Roman von Hans Scholz. Anlässlich des 60. Jubiläums der Sendung soll diese Vorgeschichte in Erinnerung gebracht werden.

 

Hans Scholz wuchs in einer gutbürgerlichen Anwaltsfamilie in einer großen Wohnung am Rande des Berliner Kurfürstendamms auf. Er studierte an der Preußischen Akademie der Künste Malerei und verdiente an den Abenden gelegentlich als Saxophonist sein Geld. Er trat vor allem in der berühmten Jockey Bar auf, in der sich die Stars der damaligen Kultur- und Filmwelt tummelten. Von Politik versuchte sich Scholz fernzuhalten, doch spätestens als seine jüdische Freundin, Felicitas Lourié, emigrieren musste, bekam er die Folgen der NS-Rassenpolitik zu spüren. Er meldete sich trotzdem 1939 freiwillig zum Wehrdienst, denn er „wollte wissen, wie Krieg ist, und Erfahrungen mit sich selbst machen“.[1]
Als Angehöriger des Kraftwagen-Transport-Regiments 605 kam er 1940 nach Frankreich, danach gelangte er über Jugoslawien und Polen in die Sowjetunion. Im Herbst 1941 war seine Einheit in der Stadt Orscha stationiert. Orscha war ein strategisch wichtiger Stützpunkt mit einer Brücke über den Dnepr und einem Bahnhof, an dem sich zwei zentrale Bahnlinien kreuzten: in den Osten ging es von hier aus nach Moskau, in den Norden – nach St. Petersburg.
Am 26. und 27. November 1941 beobachtete Scholz – eigenen Angaben zufolge als „Schaulustiger“ – die Liquidierung des örtlichen Ghettos.

Das Ghetto in Orscha befand sich auf einem, ca. fünfhundertmeter langem, Abschnitt der Engelsstraße am Rande der Stadt. In den ungefähr 25 Häusern der Straße wohnten im November 1941, unter schlimmsten Bedingungen, schätzungsweise 2000 Menschen.[2] Für die Durchführung der Exekution bestellte der stellvertretende Ortskommandant Paul Eick, der der 286. Sicherungs-Division unterstellt war, ein Teiltrupp des Einsatzkommandos 8 (EK8). Als die „Aktion“ – wie sie im NS-Jargon genannt wurde – begann, ließ Eick das Ghetto und die Erschießungsstelle von Wehrmachtssoldaten überwachen. Die Juden wurden in kleinen Gruppen zum benachbarten jüdischen Friedhof geführt, wo sie sich bei Frosttemperaturen ausziehen und in eine zuvor ausgegrabene Grube hinabsteigen mussten. Dort wurden sie im Verlauf von zwei Tagen, Gruppe für Gruppe, erschossen. Anschließend verbrannten die Täter die Leichen. Der Tatort lag auf einem Hügel und war in der wenig bewaldeten Gegend auch von Weitem gut einsehbar. Keinesfalls handelte es sich dabei um ein vor der Außenwelt verheimlichtes Kriegsverbrechen.

 


Buch und Feuilletonroman

Seine Kriegs- und Nachkriegserfahrungen verarbeitete Hans Scholz in einer Sammlung von Erzählungen, die in einem inhaltlich nur losen Zusammenhang stehen. Er schickte seine Sammlung sowohl an den Rowohlt- als auch an den Hoffmann & Campe Verlag. Während Rowohlt schnell eine Absage erteilte, akzeptierten die Redakteur*innen bei Hoffmann & Campe das Manuskript.[3] Trotz einiger Bedenken von Verlagsseite, blieb die Beschreibung des Massakers nahezu unverändert. Scholz wurde allerdings aufgefordert eine Rahmenhandlung für die Erzählungen hinzuzufügen. Er schilderte einen Männerabend in der Jockey Bar. Die Teilnehmer des Treffens erzählten an diesem fiktiven Abend Geschichten, die sie entweder selbst erlebt, gehört oder ausgedacht hatten.
Die Runde wurde eröffnet mit dem Vorlesen eines Kriegstagebuchs des gemeinsamen Freundes, Jürgen Wilms, der nun in sowjetischer Gefangenschaft saß. Darin beschrieb er den Massenmord in Orscha. Obwohl seine elfseitige Darstellung mit den historischen Fakten größtenteils übereinstimmt, gibt es darin eine signifikante Änderung: die Schützen sind hier nicht die Angehörigen des EK8, sondern lettische Volksgardisten.

Unter dem Titel „Am grünen Strand der Spree“ erschien das Buch von Hans Scholz im September 1955. Bereits im Dezember desselben Jahres war die erste Auflage vergriffen. Begeisterte Rezensent*innen lobten den Novellenroman sowohl in kleinen Lokalzeitungen als auch in der überregionalen Presse. Der damalige Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Karl Korn, ging sogar so weit, dass er für den Sommer 1956 einen Nachdruck in Serie im Feuilleton der FAZ veranlasste. Dabei handelte es sich um eine Ausnahme, denn der jeweils untere Abschnitt der zweiten Seite war prinzipiell für Manuskripte bestimmt, die noch nicht in Buchform erschienen waren. Allerdings änderte Korn den Untertitel: statt des ursprünglichen „So gut wie ein Roman“, der auf den Novellencharakter hinweisen sollte, hieß es nun „Am grünen Strand der Spree. Ein Berliner Decamerone“. Auf diese Weise hob Korn den Berliner Kontext, für den sich Leser*innen in Westdeutschland besonders interessierten, hervor.

In seiner Ankündigung des Feuilletonromans ging Korn auf das Kapitel aus Orscha nur sehr vage ein. Diese Lesart war für die Rezeption des Buches charakteristisch. Die Rezensent*innen konzentrierten sich auf die geschickte Verbindung der sieben Geschichten in einem Werk, sowie auf die Darstellung der westberliner Jockey Bar, kommentierten die Geschichte von der Ostfront jedoch nur selten. Lediglich Joachim Kaiser und Helmut Kreuzer, die aus dem Umkreis der Gruppe 47 stammten und für die literarischen Zeitschriften „Texte und Zeichen“ sowie „Frankfurter Hefte“ schrieben, widmeten der Schilderung des Massakers mehr Platz. Ihre Rezensionen waren ein Verriss: Kaiser beschuldigte Scholz ernste Themen an einem heiteren Abend, an dem viel Alkohol geflossen war, zu thematisieren. Kreuzer hingegen fand es inakzeptabel, die Schuld auf lettische Volksarmisten zu schieben. Diese Kritiken stießen jedoch weithin auf Ablehnung. Beim Verlag gingen einige Briefe ein, zum Teil von renommierten Literaturwissenschaftlern, die Scholz verteidigten.

 


Hörspiel und Fernsehfilm

Die enthusiastischen Rezensionen machten den Südwestfunk-Intendanten, Friedrich Bischoff, auf das Buch aufmerksam. Wegen seiner Struktur eignete sich das Buch hervorragend für das neue Format des mehrteiligen Hörspiels. In Zusammenarbeit mit dem Regisseur Gert Westphal und dem Dramaturgen Manfred Häberlen überarbeitete Scholz das Manuskript für ein fünfteiliges Hörspiel. Er ließ zwei der sieben Geschichten aus und kürzte die Rahmenhandlung. Das Tagebuch von Jürgen Wilms haben die Autoren in einer nahezu unveränderten Fassung beibehalten.
Das Hörspiel wurde Ende August und Anfang September 1956 im SWF1 gesendet. Da der Sender eine vergleichsweise kleine Reichweite hatte, blieb die Rezeption des Hörspiels sehr spärlich. Parallel verhandelte Hoffmann & Campe mit mehreren Filmproduktionsunternehmen über die Lizenz für einen Kinofilm. Die Gespräche verliefen jedoch ohne Ergebnis. Nachdem der Verlag im Jahr 1958 die Lizenz für eine Lesering-Ausgabe des Buches verkauft hatte, schien die Geschichte von „Am grünen Strand der Spree“ an ihr Ende gekommen zu sein.

Als sich im Jahr 1959 Hanns Hartmann, der Intendant des WDR, bei Hoffmann & Campe wegen einer möglichen Verfilmung für das Fernsehen meldete, sorgte das für Überraschung. Der Erfolg der ersten westdeutschen Mini-Serie „Soweit die Füße tragen“ veranlasste ihn nach weiteren Stoffen zu suchen, die sich für dieses Format eignen würden. Die Geschichten in „Am grünen Strand der Spree“ lagen dabei auf der Hand. Diesmal wollte Hans Scholz jedoch nicht an dem Drehbuch mitarbeiten und fuhr stattdessen lieber nach Griechenland in den Urlaub. Der Regisseur, Fritz Umgelter, übernahm – mit kleinen Änderungen – die Struktur des Hörspiels und plante ebenfalls fünf Folgen ein. Die Dreharbeiten verliefen entsprechen der Chronologie und folgten der Reihenfolge der Szenen im Drehbuch, mit Ausnahme allerdings der Szene aus Orscha. Sie wurde erst kurz vor dem Ende der Dreharbeiten, im Februar 1960 fertiggestellt.[4] Nur wenige Tage vor der Ausstrahlung informierte Hartmann die Mitglieder des Verwaltungsrates über den Inhalt des Films und bat sie sich Zeit für die erste Folge zu nehmen, denn sie könne „zu harten Kontroversen führen“.[5] Auf die Bitte Hartmanns folgte keine Reaktion.

Die Sendung indes, löste tatsächlich zahlreiche Reaktionen aus. Anders als nach der Veröffentlichung des Buches, als die Beschreibung des Massakers nahezu ignoriert wurde, gingen diesmal die meisten Kritiker*innen genauer darauf ein. Schließlich ließ sich eine zweiundzwanzig Minuten andauernde Erschießungsszene nicht leicht übersehen. Umgelter führte zudem einige Änderungen ein: die Letten trugen Armbinden mit der Aufschrift „Lettische Volksarmee im Dienste der deutschen Wehrmacht“, deutsche Polizisten bewachten die Erschießungsstelle, und ein SS-Mann hatte das Kommando über den Ablauf des Massakers. Angesichts der eindeutigen Hinweise auf die deutsche Täterschaft, machten die meisten Rezensent*innen einen recht ratlosen Eindruck. Die Kommentare, obwohl in fast allen Zeitungen veröffentlicht, begrenzten sich auf wenige Phrasen über die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.[6] Anders reagierten einzelne Zuschauer*innen. Das Infratest-Institut führte am Abend der Ausstrahlung eine Umfrage durch, aus der hervorging, dass die Mehrheit des Publikums die (Erschießungs-)Szene ablehnte. Die Zuschauer*innen fühlten sich von den Bildern regelrecht angegriffen. Sie hielten sie für „entsetzlich“ und behaupteten, sie hätten sie vor dem Fernseher nicht „aushalten“ können.[7]

 


Nachleben

Trotz mehrerer Anfragen, wurde die Mini-Serie erst sechs Jahre später wiederholt. Im Jahr 2011 erschien eine DVD in der Jubiläumsausgabe der ARD.[8] Dennoch ist der Fernsehfilm allenfalls Expert*innen bekannt.[9] Neben den offensichtlichen Auswirkungen des Fernsehfilms auf das Buch, wie der Steigerung der Auflage und Lizenzeinnahmen durch die Taschenbuchausgaben, hatte die Verfilmung unerwartete Folgen für Hans Scholz:
Am 19. April 1960, pünktlich zum 17. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto, verlieh im die jüdische Gemeinde in Berlin den Heinrich Stahl-Preis für seinen Beitrag „zur notwendigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“.[10]

 

 

 

Auch Teil 3 bis 5 finden Sie auf YouTube.

 

 


[1] Hans Scholz: Jahrgang 1911. Leben mit allerlei Liedern. In: Hans Mommsen, Hans Scholz, Jan Herchenröder: Jahr und Jahrgang 1911, Hamburg, Hoffmann & Campe, 1966, S. 54–116, hier: S. 106–107.
[2] Zur Liquidierung des Ghettos in Orscha siehe u.a.: Gennadij Vinnitsa: Cholokost na okupirovannoj territorii vostočnoj Belarusi v 1941–1944 godach, Minsk, Kovčeg, 2011, S. 300–305; Aleksandr Rozenberg: Po stranicam istorii evrejskoj Oršy. A.N. Varaksil: Minsk, 2012; Wolfgang Curilla: Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weissrussland 1941–1944, 2. Auflage. Paderborn: Schöningh 2006, S. 440–442.
[3] Die Produktionsgeschichte des Buches wird rekonstruiert anhand der Dokumente im Hans Scholz Archiv, das im Archiv der Akademie der Künste aufbewahrt wird.
[4] Siehe den Dispositionsplan im Historischen Archiv WDR, ohne Signatur.
[5] Hartmann, Hanns. Brief an Peter Blachstein, Hans Waterman, Gerhard Schröder vom 14. März 1960, Historisches Archiv WDR, Sign. 4084.
[6] „Im Urteil der Presse: ‚Am grünen Strand der Spree‘“ In: Westdeutscher Rundfunk. Jahrbuch 1959–1960, Köln, WDR, 1960: 41–64.
[7] Infratest GmbH. Sehbeteiligung und Stellungnahmen der Fernsehzuschauer zur 1. Folge der Sendung Am grünen Strand der Spree am 22.3.1960, Deutsches Rundfunkarchiv.
[8] Hierzu siehe die ausführliche und sehr empfehelnswerte Besprechung von Hans Schmid: Scheener Herr aus Daitschland. In: Telepolis vom 23. Juni 2011 (zuletzt am 13.4.2020)
[9] Knut Hickethier: „Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust im Fernsehen der Bundesrepublik der fünfziger und frühen sechziger Jahre.“ In: Michael Greven (Hg.): Der Krieg in der Nachkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik, Opladen: Leske+Budrich, 2000, 93–112; Peter Seibert: „Medienwechsel und Erinnerung. Der Beginn der Visualisierung des Holocaust im westdeutschen Fernsehen“, In: Das Deutschunterricht 5 (2001): 74-83; Jüngst erschienen: Stephan Scherer, Simon Lang, Stephanie Heck (Hg.): »Am grünen Strand der Spree«: Ein populärkultureller Medienkomplex der bundesdeutschen Nachkriegszeit, Bielefeld: Transcript, 2020.
[10] Jüdische Gemeinde Westberlin. Pressemitteilung vom 18. April 1960. Archiv der Akademie der Künste, Hans Scholz Archiv 17.

 

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Der Holocaust in der Fernsehserie „Am grünen Strand der Spree“ im März 1960

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