Mittelerde in Ost(mittel)europa

„Der Herr der Ringe“ von J.R.R. Tolkien ist eines der weltweit am meisten gelesenen und übersetzten Werke, die Romanreihe wurde bisher insgesamt 150 Millionen Mal verkauft. Im Original erschien die Fantasy-Reihe erstmals im Jahr 1954 in englischer Sprache. Die erste deutsche Übersetzung wurde 1969/1970 veröffentlicht. Aber auch in den ehemaligen staatssozialistischen Staaten erfreute sich die Romanreihe großer Popularität, erschien dort allerdings meist nur in der Untergrundzirkulation des Samizdat. In der Tschechoslowakei war „Der Herr der Ringe“ in der – in den 1980er Jahren im Samizdat erschienenen – Fassung „Pán prstenů“, übersetzt von Stanislava Pošustová, eine der meist verbreiterten Schriften und verhalf  der Popularität des Buches im ganzen Land.[1] Hunderte mit der Schreibmaschine abgetippten Kopien der Übersetzung wurden in den 1980er Jahren verbreitet.[2]  Diese Kopien waren – wie üblich im Samizdat – sehr provisorisch: So wurde beispielsweise eine der Prager Libri Prohibiti vorliegende Fassung in einfachem Packpapier gebunden und mit der Kopie einer Tolkien-Postkarte illustriert.[3]

Eine Postkarte wird zum provisorischen Buchcover. Foto mit freundlicher Genehmigung der Libri Prohibiti.

Der Hobbit im Sozialismus

Während Tolkiens „Der kleine Hobbit“ in der Tschechoslowakei und in der Sowjetunion offiziell verlegt und in der UdSSR sogar verfilmt wurde, schaffte es „Der Herr der Ringe“ nicht durch die Zensur. Dafür lassen sich verschiedene Gründe finden: Zum einen ist die Erzählung der „kleinen Leute“, die sich gegen ein korruptes System erheben, durchaus anwendbar auf das sozialistische System. So kehren am Ende des letzten Buches „Die Wiederkehr des Königs“ die vier Hobbit-Protagonisten in ihre Heimat zurück und finden diese verändert vor. Der korrumpierte Zauberer Saruman hat das idyllische, ländliche Auenland in einen industrialisierten, zentral gesteuerten Staat verwandelt. Die vier Hobbit erkennen ihr Land nicht wieder. Auf die Frage der Heimkehrenden, warum es so wenig zu essen gebe, erklärt ihnen ein Einwohner:

„Geerntet haben wir eine Menge, aber wir wissen nicht so recht, was draus wird. Aber wir haben jetzt so ein Ernteerfassungs- und Verteilungsamt, so heißt das, und das schickt Leute rum, die wiegen und zählen alles ab und schaffen es weg in ihre Lager. Erfassen tun sie viel mehr als verteilen, und die meisten Sachen sehen wir nie wieder.“[4]

Die Erzählung lässt sich also durchaus als Allegorie auf die Kollektivierung in den sozialistischen Staaten verstehen. Dazu stieß die in der Buchreihe angelegte Erzählung des „guten Königs“ aus dem Westen auf erheblichen, politischen Widerstand, da diese positive Darstellung der Monarchie und die Dämonisierung des „Ostens“ nicht dem staatssozialistischen Narrativ entsprach.[5] Die politische Aufladung wird schließlich in den sowjetischen Samizdat-Übersetzungen deutlich: Aus dem „Boss“, der das Auenland besetzt hält, wurde der „Generalissimo“ (генералиссимус), ein Begriff der stark auf Stalin anspielt.[6]

Vermeintlich aus diesen Gründen fand „Der Herr der Ringe“ erst in den 1990er Jahren seinen Weg in den Buchhandel der staatssozialistischen Länder. Es gab kein offizielles Verbot, eher ein distributionelles „Totschweigen“. So erinnert sich die tschechische Übersetzerin Pošustová, sie habe ihre Übersetzung bereits 1980 dem Verlag der „Mladá fronta“ zur Verfügung gestellt. Die Publikation sei aber immer wieder verschoben wurden, offiziell aus „Mangel an Papier“. Pošustová ergänzt in einem Interview mit dem tschechischen Magazin Aktuálně.cz, es seien ihrem Empfinden nach tatsächlich ideologische Gründe gewesen, die eine Veröffentlichung verhindert hatten.[7] Ihr Originalmanuskript verschwand in der Redaktion der „Mladá fronta“, eine Kopie stellte Pošustová einem Bekannten aus dem Umfeld der Charta 77 zur Verfügung. Diese sorgten für eine Distribution über den Samizdat.

Libri Prohibiti am 23. Februar 2012. Foto: Michal Louč. Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Wie Pošustová selbst beschreibt, war diese Samizdatübersetzung des Buches sehr erfolgreich. Auch Jiří Gruntorád, der Gründer der Samizdat-Bibliothek „Libri Prohibiti“, führt die Übersetzung der Fantasy-Buchreihe gerne als ein zentrales Werk für den tschechoslowakischen Samizdat auf.[8]

 

Die Bewegung der „Толкинисты“ (Tolkienisten)

In der Sowjetunion ging die Faszination mit den Werken Tolkiens noch deutlich weiter. Hier zirkulierten neun verschiedene „Der Herr der Ringe“-Übersetzungen im Samizdat. Der Erste Band  wurde in der Sowjetunion 1982 im Kinderbuchverlag (Детская литерарура/Kinderliteratur) offiziell, wenn auch in einer stark gekürzten Fassung, verlegt. Dieser Teil war am wenigsten kritisch im Hinblick auf ideologische Konflikte.[10] Das Buch war überraschend erfolgreich und wurde über 300.000 Mal verkauft.[11]

 

Eine Doppelseite aus der 1980 im tschechoslowakischen Samizdat erschienen Ausgabe des „Pán prstenů“ (Der Herr der Ringe), bearbeitet und illustriert von Vladimír Řepík. Erste Seite des ersten Kapitels „Dlouho očekávaná oslava“ (Eine langerwartete Feier), mit einer Zeichnung des Hauptcharakters Frodo. Foto mit freundlicher Genehmigung der Libri Prohibiti  in Prag.

Die ungekürzte Fassung erschien allerdings erst 1988, der zweite und dritte Band der Reihe erst Anfang der 1990er Jahre. Die neun sehr unterschiedlichen Fassungen im Samizdat zirkulierten jedoch mit einer enormen Resonanz. Überall in der ehemaligen Sowjetunion entstanden daraufhin Gruppen sogenannter „Tolkienisten“ (Толкинисты), die versuchten, so viel über Tolkien und seine Welt herauszufinden wie möglich und sich zu komplexen Rollenspielen, sogenannten „Hobbit-Spielen“ (хоббитские игрища) trafen.[12] Bereits 1989 kamen hunderte von „Tolkienisten“ in Sibirien zusammen, spielten die Schlachten aus dem „Herrn der Ringe“ nach und diskutierten über Tolkien. Der „Tolkienismus“ entwickelte sich zu einer populären Subkultur im zusammenbrechenden Sozialismus.[13] In den 1990ern breitete sich diese Kultur weiter in der ehemaligen UdSSR aus. Besonders in Kasachstan fand sie viele Anhänger*innen. Hier stieß die Bewegung allerdings auf weitreichendes, gesellschaftliches Unverständnis und Repressionen. Oftmals wurden Treffen der „Tolkienisten“ durch Polizeikräfte in den 1990er und frühen 2000er Jahren brutal aufgelöst, da man ihnen „Satanismus“ und „Dunkle Rituale“ nachsagte.[14]

 

Nationalromantische Sagen als Gegenentwurf zum sowjetischen Realismus

Warum der tolkienische Literaturkorpus trotz (oder gerade wegen) der Zensur so erfolgreich war, lässt sich nicht abschließend feststellen. Es ist anzunehmen, dass die starken christlichen Symboliken in Tolkiens Werk an bestehende, christliche Narrative, insbesondere in der russischen Bevölkerung, anklangen und daher diese enorme Wirkung hatten. Die politische Aufladung der Geschichte und ihre anti-totalitäre Lesart spielten ebenfalls eine entscheidende Rolle, wie auch der Eskapismus in die fantastische Welt des Epos.[15] Der ideologische Gegensatz zur sowjetischen Hegemonie ist mutmaßlich ein weiterer Aspekt für die enorme Resonanz in den Nachfolgestaaten der UdSSR: Tolkiens Abneigung gegen technischen Fortschritt und Industrialisierung spiegeln sich in seinen Werken wider, daher stellen seine neo-romantischen Sagenwelten mit Hang zum nationalromantischen Pathos einen Gegensatz zur realsozialistischen Moderne der Sowjetunion dar.

 


[1] Glanc, Tomás: Autoren im Ausnahmezustand: Die tschechische und russische Parallelkultur (Das andere Osteuropa, Band. 3). Berlin 2017, S. 323.

[2] Machovec, Martin: The Types and Functions of Samizdat Publications in Czechoslovakia, 1948–1989, in: Poetics Today 30, 1 (2009), S. 1-26, hier S. 10.

[3] Ich danke Jiří Něnička und der Libri Prohibiti für wichtige Hinweise zur Recherche und der Bereitstellung des Bildmaterials.

[4] Tolkien, John R.R.: Der Herr der Ringe, Band 3: Die Wiederkehr des Königs, Stuttgart 1972, S. 337.

[5] Birzer, Bradley: J. R. R. Tolkien's Sanctifying Myth: Understanding Middle-earth, Wilmington 2003, S. 3.

[6] Hooker, Mark T.: Nine Russian Translations of The Lord of the Rings, in: Honegger, Thomas (Hg.): Tolkien in Translation (Cormarë Series 4). Zürich und Bern 2003, S. 119-150, hier S. 134.

[7] Mocková, Zuzana: Pána prstenů šířila Charta 77, Východ byl totiž sídlem zla, in: Aktuálně.cz, 10. 9. 2014. [zuletzt abgerufen am 22.09.2020].

[8] Krobot, Vít: Interviews mit Jiří Gruntorád: Pořád bojujeme o přežití, [zuletzt abgerufen am 22.09.2020].

[9] Hooker, Mark T.: Nine Russian Translations of The Lord of the Rings, S. 126.

[10] Ebd. 119.

[11] Ebd. S. 122.

[12] Grushnetskiy, Vladimir: How Russians See Tolkien, in: Mythlore. A Journal of J.R.R. Tolkien, C.S. Lewis, Charles Williams, and Mythopoeic Literature 21, 2 (1996), S.222, [zuletzt abgerufen am 22.09.2020].

[13] Forman, Gayle: You Can't Get There from Here. A Year on the Fringes of a Shrinking World, Emmaus 2006, S. 187.

[14] Cockburn, Patrick: Police get tough with the hobbit-lovers of Kazakhstan, in The Independent, 29.07.2001, [zuletzt abgerufen am 22.09.2020].

[15] Grushnetskiy, Vladimir: How Russians See Tolkien, S. 222.

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Mittelerde in Ost(mittel)europa

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Tolkiens Werke im sowjetischen und tschechoslowakischen Samizdat

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