20. Jahrhundert übergreifend

Globalisierung am Wohnzimmertisch

Unbürokratisches Engagement für Flüchtlinge: Zum Tod von Rupert Neudeck * Von Frank Bösch * Juni 2016 m März 2016 besuchte ich Rupert Neudeck in seinem Troisdorfer Reihenhaus nahe Köln. Der Grund für diesen Besuch war ein Zeitzeugengespräch, das ich im Rahmen meiner aktuellen Forschungen führen wollte. Nach der Lektüre seiner Korrespondenz mit Spitzenpolitikern, Intellektuellen und Journalisten hätte man vermuten können, er habe in einer gut ausgestatteten NGO-Zentrale gearbeitet, etwa wie bei Greenpeace. Seine Briefe trugen jedoch allesamt die Anschrift dieser bescheidenen Privatadresse. Neudeck hatte hier nach Feierabend von seinem Wohnzimmertisch aus internationale Hilfseinsätze organisiert und dies in einem Ausmaß, wie man es in der Bundesrepublik bisher nicht kannte.

US-Außenminister John Kerry und der Krieg. Essay über biographische Kontinuität und amerikanische Politik

Essay über biographische Kontinuität und amerikanische Politik * Von Ariane Leendertz * Mai 2016 Der Vietnamkrieg, prophezeite das Magazin Der Spiegel im Sommer 1971, ist für die USA auch dann noch nicht zu Ende, wenn der letzte G.I. Indochina verlassen hat. In der Tat wurde der Vietnamkrieg Amerikas Vergangenheit, die nicht vergehen wollte. Die gesellschaftlichen und politischen Nachwirkungen des Krieges spürte das Land bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Konkurrierende Deutungen der Ereignisse prägten politische Kultur und öffentliche Debatten, gegensätzliche Positionen blieben auf Jahrzehnte latent, emotionale und ideologische Blockaden erschwerten einen vergangenheitspolitischen Konsens. Die politische Biographie des amerikanischen Außenministers John Kerry ist untrennbar mit dieser Geschichte verflochten.

Ambivalenzen der Wirklichkeit

„Lee Miller – Fotografien“ im Berliner Gropius-Bau * Von Michael Wildt * Mai 2016 „I was living in Hitler’s private apartment in Munich, when his death was announced“, begann Lee Miller ihre Reportage, die in der “Vogue” Juli/August 1945 erschien. Das dort veröffentlichte Foto David E. Schermans von Miller in Hitlers Badewanne, ironisch arrangiert mit Führerbild, Telefonanschluss und kitschiger Frauenskulptur sowie den eigenen Uniformstücken und Stiefeln vor der Wanne, gehört neben ihren Aufnahmen von den befreiten Konzentrationslagern Buchenwald und Dachau sicher zu den bekanntesten Bildern, die man mit Lee Miller verbindet. Doch zeigt die Ausstellung von ihrem fotografischen Werk im Berliner Martin-Gropius-Bau mit knapp 100 Fotografien in fünf chronologisch wie thematisch angeordneten Kapiteln, dass sie nicht bloß Kriegsreporterin und Fotojournalistin war, sondern weit darüber hinaus eine künstlerische Fotografin mit einem genauen Blick für die Ambivalenzen der Wirklichkeit.

Patriotische Geschichtsschreibung im Staatsauftrag

Polens neue Rechtsregierung bricht mit der historischen Legitimation des Neuanfangs von 1989 * Von Florian Peters * Mai 2016 Nachdem die nationalkonservative polnische Regierung in den ersten Monaten ihrer Amtszeit bereits das Verfassungsgericht lahmgelegt und den öffentlichen Rundfunk nach parteipolitischen Kriterien gesäubert hat, nimmt sie nun die Geschichtspolitik ins Visier: Ende April verabschiedete der Sejm mit den Stimmen der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) und der rechtspopulistischen Kukiz-Bewegung eine Gesetzesnovelle zum „Institut des Nationalen Gedächtnisses“ (Instytut Pamięci Narodowej, IPN), mit der das polnische Äquivalent zur ostdeutschen Gauck-Behörde zum zentralen Instrument einer „patriotischen“ Geschichtspolitik umgebaut werden soll. Das kurz vor der Eröffnung stehende, multiperspektivisch angelegte Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig würde der Kulturminister hingegen am liebsten zu einem regionalgeschichtlichen Zentrum für Militaria-Enthusiasten degradieren. Während die regierungsnahen Medien neu aufgetauchte Stasi-Unterlagen zur öffentlichen Demontage des Solidarność-Führers und Freiheitssymbols Lech Wałęsa nutzen, fördert die PiS-Regierung den Kult der antikommunistischen Widerstandskämpfer der späten 1940er Jahre nach Kräften. Anstelle der kompromissbereiten Solidarität der friedlichen Revolutionäre von 1989 soll offenbar der rücksichtslose „Patriotismus“ dieser sogenannten „verfemten Soldaten“ (żołnierze wyklęci) zur neuen Leitlinie staatlicher Geschichtspolitik in Polen werden. Damit stellt die Partei Jarosław Kaczyńskis die historische Legitimation des demokratischen Neuanfangs seit 1989 grundsätzlich infrage.

Raster oder Mode?

Die Sonderausstellung "Masse und Klasse. Gebrauchsgrafik in der DDR" im Berliner Werkbundarchiv/Museum der Dinge * Von Andreas Ludwig * Mai 2016 Wer die Sonderausstellung des Berliner Werkbundarchiv/Museum der Dinge zur Gebrauchsgrafik in der DDR besucht, wandert zunächst durch die Präsentation der Geschichte des Industriedesigns in Deutschland seit der Wende zum 20. Jahrhundert. Derart historisch situiert, wird in "Masse und Klasse" die DDR-spezifische Form des Nützlichen und des Schönen exemplarisch herausgearbeitet und zugleich eine Revision der Sammlungsbestände des Museums vorgenommen. Für die Besucher/innen ist "Masse und Klasse" die Aufforderung, sich mit der Gestaltung der Alltagsästhetik als eher beiläufige Begleitung von Lebensverhältnissen auseinanderzusetzen, und das ist anregend.

„Bin ich Deutsch genug?“

https://www.hdg.de/stiftung/Die Ausstellung „Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland“ im Haus der Geschichte * Von Sandra Vacca und David Christopher Stoop * April 2016 In den letzten Jahren hat eine steigende Zahl von Museen damit begonnen, sich mit der Geschichte der Migration auseinanderzusetzen. Obwohl der Arbeitskreis Migration des Deutschen Museumsbundes seit 2010 Handlungsempfehlungen für Museen diskutiert und 2015 einen entsprechenden Leitfaden veröffentlichte, haben viele Museen weiterhin Schwierigkeiten, die Normalität von Migration anzuerkennen und sie angemessen in ihre Dauerausstellungen zu integrieren. So ist etwa das Thema Einwanderung in der ständigen Ausstellung des Hauses der Geschichte nur als „Inselthema“ präsent, das lediglich als punktueller Zusatz zum nationalen Geschichtsnarrativ der Bundesrepublik erscheint. Zumindest in Wechselausstellungen (z.B. „Das neue Deutschland – von Migration und Vielfalt“ im Deutschen Hygiene-Museum Dresden) und in Neu-Lesungen bestehender Sammlungen (wie dem Projekt “NeuZugänge“ im Friedrichshain-Kreuzberg Museum oder dem Projekt „Blickwinkel“ im Kölnischen Stadtmuseum) wird das Thema Migration in den letzten Jahren vermehrt aufgegriffen. Sechzig Jahre nach dem ersten Anwerbeabkommen und siebzehn Jahre nach der ersten, vom Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD e. V.) organisierten Ausstellung zum Thema Migration mit dem Titel „Fremde Heimat“, setzt sich das Haus der Geschichte in Bonn in einer aktuellen Ausstellung mit der Geschichte der Einwanderung auseinander. Von Dezember 2014 bis August 2015 war die Wechselausstellung „Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland“ in Bonn zu sehen. Sie wurde anschließend von Oktober 2015 bis April 2016 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig gezeigt.

Identität im Digitalen Zeitalter

Ausstellungsbesprechung „Nervöse Systeme – Quantifiziertes Leben und die soziale Frage“ * Von Martin Schmitt * April 2016 In ihrer perspektivischen Vielfalt überzeugt die Ausstellung. Der Besucher verlässt sie mit einem anderen Blick auf die Praktiken der Datennutzung im Digitalen Zeitalter und ihrer Genese im Laufe des 20. Jahrhunderts. Neben den zahlreichen Videoinstallationen, für die er/sie ausreichend Zeit mitbringen sollte, vermitteln vor allem die Triangulationen einen schnellen Überblick über die einzelnen Aspekte heutiger Kommunikationssysteme. Nicht immer greift die Metapher der Nervosität, lassen sich viele der Prozesse doch besser mit anderen Konzepten wie dem der Optimierung erfassen. Unerklärt bleibt auch die Frage, warum bei manchen Menschen die Nervosität selbst nach den tiefgreifenden Erkenntnissen ausbleibt, die Edward Snowden an die Öffentlichkeit brachte. Vielmehr stand wohl die schöne Doppeldeutigkeit dem Titel Pate, das die englische Übersetzung der nervous system bot.

Kommentar zum Artikel „Flucht und Asyl“ von Ulrich Herbert

Von Phillip Ther * März 2016 Der Artikel bietet einen erhellenden Überblick über die Geschichte der Immigration in die Bundesrepublik Deutschland und die damit zusammenhängenden politischen Konflikte. Ulrich Herbert befasst sich zunächst mit den Gastarbeitern und den Aussiedlern. Letztere wurden seit 1957 als Nachfolger der Flüchtlinge und Vertriebenen angesehen, und besaßen deshalb einen ähnlich vorteilhaften Rechtsstatus, wanderten aber zumindest gegen Ende des Kalten Krieges vor allem aus wirtschaftlichen Motiven zu. Die dritte Gruppe, die der Autor am ausführlichsten behandelt, sind die Asylbewerber. Dagegen werden die Kriegsflüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien zwar kurz erwähnt, finden aber weniger Beachtung. Die Bundesrepublik nahm 1992-95 immerhin 350.000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien auf, insgesamt mussten dort im gleichen Zeitraum mindestens 2,5 Millionen Menschen fliehen. Wenn man die 1,5 Millionen Asylbewerber dazu zählt, die Ulrich Herbert für den Zeitraum von 1990-94 aufführt, sowie die 2,1 Millionen Spätaussiedler aus Osteuropa, relativiert sich auch die gegenwärtige Flüchtlingskrise ein wenig.

„Das, was wir machen, ist alles andere als eine Texthuldigung“

Oder: Wann über „Mein Kampf“ gelacht werden darf * Interview mit Sebastian Brünger * Von René Schlott und Mirko Winkelmann * Januar 2016 Sebastian Brünger, Zeithistoriker am Zentrum für Zeithistorische Forschung und Doktorand an der Humboldt-Universität Berlin, ist seit 2007 Mitglied der Theatergruppe Rimini Protokoll. Anlässlich der Berliner Erstaufführung gibt er Auskunft über ihr Projekt „Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 &2", an dem er als Dramaturg und Rechercheur mitgewirkt hat. Die Fragen stellten die Historiker René Schlott und Mirko Winkelmann: Wie kam es dazu, dass „Mein Kampf“ von Rimini Protokoll inszeniert wurde? • Welche persönliche Beziehung hast Du zum Gegenstand? • Du bist selbst Historiker. Wie hat das den Rechercheprozess für das Stück beeinflusst? • Welche Rolle spielt historisches Faktenwissen für das bzw. im Stück? • Seht Ihr Euer Stück in einer bestimmten Dokumentartheater-Tradition? • Darf man über „Mein Kampf“ lachen? Muss man es fürchten? • Trägt ein solches Stück nicht weiter zur Mythenbildung um Hitler und „Mein Kampf“ bei? ...

„Das Buch der Deutschen“

Thomas Vordermayer über die Arbeit an der Edition von Hitlers „Mein Kampf“ * Von Annette Schuhmann * Januar 2016 Am 8. Januar 2016 stellt das Institut für Zeitgeschichte in München die kommentierte Gesamtausgabe: „Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition" vor. 
Gut drei Jahre haben Historiker/innen des Instituts unter Leitung von Christian Hartmann an einer, im wörtlichen Sinne zu verstehenden, vollständigen Kommentierung dieser Kampfschrift gearbeitet. Der Zeitdruck, unter dem sie dabei standen, war enorm, schließlich erlosch das Urheberrecht im Besitz des Freistaates Bayern am 1. Januar 2016. 
Die Arbeiten an der Kommentierung wurden von großem öffentlichen Interesse und nicht selten kontrovers begleitet. Dies ist ein durchaus seltener Glücksfall für unsere Profession, der aber ebenfalls für Anspannung sorgte und die Mitarbeiter des IfZ wiederholt mit Forderungen nach der Legitimation des Projektes konfrontierte.
In unserem Interview sollte es jedoch nicht um den Sinn der Edition gehen, den wir ohnehin nicht bezweifeln. Wichtiger waren für uns Fragen nach der Organisation des Forschungsprozesses, nach den persönlichen Eindrücken und dem „Leseerlebnis“, nach einer möglichen ironischen Distanz, die eine solche Arbeit begleiten kann, und danach, wie man als Wissenschaftler damit umgeht, auf ewig mit dem Titel „Mein Kampf“ in Verbindung gebracht zu werden.
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