Nationalsozialismus

Ambivalenzen der Wirklichkeit

„Lee Miller – Fotografien“ im Berliner Gropius-Bau * Von Michael Wildt * Mai 2016 „I was living in Hitler’s private apartment in Munich, when his death was announced“, begann Lee Miller ihre Reportage, die in der “Vogue” Juli/August 1945 erschien. Das dort veröffentlichte Foto David E. Schermans von Miller in Hitlers Badewanne, ironisch arrangiert mit Führerbild, Telefonanschluss und kitschiger Frauenskulptur sowie den eigenen Uniformstücken und Stiefeln vor der Wanne, gehört neben ihren Aufnahmen von den befreiten Konzentrationslagern Buchenwald und Dachau sicher zu den bekanntesten Bildern, die man mit Lee Miller verbindet. Doch zeigt die Ausstellung von ihrem fotografischen Werk im Berliner Martin-Gropius-Bau mit knapp 100 Fotografien in fünf chronologisch wie thematisch angeordneten Kapiteln, dass sie nicht bloß Kriegsreporterin und Fotojournalistin war, sondern weit darüber hinaus eine künstlerische Fotografin mit einem genauen Blick für die Ambivalenzen der Wirklichkeit.

Patriotische Geschichtsschreibung im Staatsauftrag

Polens neue Rechtsregierung bricht mit der historischen Legitimation des Neuanfangs von 1989 * Von Florian Peters * Mai 2016 Nachdem die nationalkonservative polnische Regierung in den ersten Monaten ihrer Amtszeit bereits das Verfassungsgericht lahmgelegt und den öffentlichen Rundfunk nach parteipolitischen Kriterien gesäubert hat, nimmt sie nun die Geschichtspolitik ins Visier: Ende April verabschiedete der Sejm mit den Stimmen der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) und der rechtspopulistischen Kukiz-Bewegung eine Gesetzesnovelle zum „Institut des Nationalen Gedächtnisses“ (Instytut Pamięci Narodowej, IPN), mit der das polnische Äquivalent zur ostdeutschen Gauck-Behörde zum zentralen Instrument einer „patriotischen“ Geschichtspolitik umgebaut werden soll. Das kurz vor der Eröffnung stehende, multiperspektivisch angelegte Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig würde der Kulturminister hingegen am liebsten zu einem regionalgeschichtlichen Zentrum für Militaria-Enthusiasten degradieren. Während die regierungsnahen Medien neu aufgetauchte Stasi-Unterlagen zur öffentlichen Demontage des Solidarność-Führers und Freiheitssymbols Lech Wałęsa nutzen, fördert die PiS-Regierung den Kult der antikommunistischen Widerstandskämpfer der späten 1940er Jahre nach Kräften. Anstelle der kompromissbereiten Solidarität der friedlichen Revolutionäre von 1989 soll offenbar der rücksichtslose „Patriotismus“ dieser sogenannten „verfemten Soldaten“ (żołnierze wyklęci) zur neuen Leitlinie staatlicher Geschichtspolitik in Polen werden. Damit stellt die Partei Jarosław Kaczyńskis die historische Legitimation des demokratischen Neuanfangs seit 1989 grundsätzlich infrage.

Wie klingt Auschwitz?

Drei Perspektiven auf "Son of Saul" * Von Jakob Mühle, Maren Francke und René Schlott * März 2016 Das preisgekrönte Holocaustdrama „Son of Saul” des ungarischen Regisseurs László Nemes zeigt einen Tag im Oktober des Jahres 1944 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Im beklemmenden 4:3 Format heftet sich der Blick des Zuschauers an Saul Ausländer (eindrucksvoll gespielt von Géza Röhrig), einem Häftling des sogenannten jüdischen Sonderkommandos, das die Deutschen für den reibungslosen Ablauf der Massenvernichtung in den Gaskammern und Krematorien eingesetzt hatten. Der Protagonist Saul hetzt 107 Minuten lang durch das Lager. Er ist auf der Suche nach einem Rabbiner, um einen toten Jungen, den er für seinen Sohn hält, nach jüdischem Ritus zu begraben.

Berliner Welträume im 20. Jahrhundert

Ein Interview mit Jana Bruggmann und Tilmann Siebeneichner * März 2016 Constanze Seifert interviewte Jana Bruggmann und Tilmann Siebeneichner von der Emmy Noether-Forschergruppe „Die Zukunft in den Sternen: Europäischer Astrofuturismus und außerirdisches Leben im 20. Jahrhundert“ zur Weltraumbegeisterung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Berlin. Ihr Workshop „Berliner Welträume im 20. Jahrhundert“ [1], der am 30. März 2015 stattfand, untersuchte die verschiedenen Formen und Funktionen der imaginativen wie praktischen Erschließung des Weltraums von der Gründung der Berliner Urania 1888 bis zu den Astronautenparaden in den 1970er Jahren. Am Beispiel der Urania und des Raketenflugplatzes in Berlin-Tegel erklären Jana Bruggmann und Tilmann Siebeneichner unterschiedliche Weltraumkonzepte sowie ihre Vermittlungsformen, deren Einflüsse bis in die Gegenwart hineinreichen.

Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus

Auszug aus der Studie * Von Christian Mentel und Niels Weise * Februar 2016 Mit der im Februar 2016 veröffentlichten, von Frank Bösch, Martin Sabrow und Andreas Wirsching herausgegebenen Studie „Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus - Stand und Perspektiven der Forschung“ entsprechen das Institut für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ) und das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) der Bitte der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), in einer Bestandsaufnahme den aktuellen Forschungsstand und den bestehenden Forschungsbedarf zur Aufarbeitung der frühen Nachkriegsgeschichte von Bundesministerien und Behörden in der Bundesrepublik Deutschland und der Ministerien und Behörden der DDR in Bezug auf die NS-Vergangenheit zu ermitteln. Im Folgenden wird die um umfangreiche Nachweise gekürzte Schlussbetrachtung der hier in vollständiger Fassung abrufbaren Studie, die von Mai bis Oktober 2015 erarbeitet wurde, bereitgestellt.

„Die Möglichkeit der sofortigen Abschiebung ausnutzen“

Das Bundesinnenministerium und die jüdischen DPs im Lager Föhrenwald * Von Frieder Günther * Februar 2016 Die westdeutsche Gesellschaft wurde seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Beginn der 1960er Jahre maßgeblich von Millionen von Flüchtlingen geprägt. Freigelassene Kriegsgefangene, Vertriebene aus den Ostgebieten sowie Flüchtlinge aus der SBZ und der DDR drückten für viele Jahre dem Alltag in den Großstädten und auf dem Lande ihren Stempel auf. Von den Einheimischen wurde erwartet, sich für die Fremden ein Stück weit einzuschränken, obwohl sie selbst zunächst in einer Mangelgesellschaft lebten; zugleich wurden sie mit ganz neuen Einflüssen konfrontiert, mit anderen Lebensgewohnheiten, Umgangsformen und fremden Dialekten, die man oft nur schwer verstand. Auch wurde das bis dahin bestehende, relativ homogene konfessionelle Gefüge des Landes innerhalb kurzer Zeit von Grund auf durchmischt. Insofern trafen die Flüchtlinge nicht nur auf Hilfsbereitschaft und Zustimmung, sondern an vielen Orten überwogen Ressentiments und Ablehnung. Fühlten die Einheimischen doch das seit langem Vertraute, das ihnen in dieser „Zeit der Außer-Ordentlichkeit“ (Martin Broszat) besonderen Halt und Schutz bieten sollte, in Frage gestellt...

Für die mutigsten Feiglinge der deutschen Geschichte...

Der Hamburger Gedenkort für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz * Von Claudia Bade * Januar 2016 „Ein Denkmal für die mutigsten Feiglinge der deutschen Geschichte – die Deserteure aus dem Zweiten Weltkrieg“ – mit diesen scheinbar widersprüchlichen Worten umschreibt ein Bericht des „Hamburg-Journals“ im NDR-Fernsehen die Personengruppe, der in Hamburg ein neues Denkmal gewidmet ist. Widersprüchlich deshalb, weil die Deserteure der Wehrmacht tatsächlich jahrzehntelang von der deutschen Gesellschaft als „Feiglinge“ und „Verräter“ wahrgenommen und häufig ganz konkret beschimpft wurden. Im gleichen Atemzug werden diese Deserteure nunmehr als „mutig“ bezeichnet. Die Widersprüchlichkeit der Begriffswahl verdeutlicht also auch den Wandel in der Wahrnehmung der Wehrmachtsdeserteure.

„Das, was wir machen, ist alles andere als eine Texthuldigung“

Oder: Wann über „Mein Kampf“ gelacht werden darf * Interview mit Sebastian Brünger * Von René Schlott und Mirko Winkelmann * Januar 2016 Sebastian Brünger, Zeithistoriker am Zentrum für Zeithistorische Forschung und Doktorand an der Humboldt-Universität Berlin, ist seit 2007 Mitglied der Theatergruppe Rimini Protokoll. Anlässlich der Berliner Erstaufführung gibt er Auskunft über ihr Projekt „Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 &2", an dem er als Dramaturg und Rechercheur mitgewirkt hat. Die Fragen stellten die Historiker René Schlott und Mirko Winkelmann: Wie kam es dazu, dass „Mein Kampf“ von Rimini Protokoll inszeniert wurde? • Welche persönliche Beziehung hast Du zum Gegenstand? • Du bist selbst Historiker. Wie hat das den Rechercheprozess für das Stück beeinflusst? • Welche Rolle spielt historisches Faktenwissen für das bzw. im Stück? • Seht Ihr Euer Stück in einer bestimmten Dokumentartheater-Tradition? • Darf man über „Mein Kampf“ lachen? Muss man es fürchten? • Trägt ein solches Stück nicht weiter zur Mythenbildung um Hitler und „Mein Kampf“ bei? ...

„Halbheiten“

Auf der Hitlerwelle von Marx zu ISIS * Von René Schlott und Mirko Winkelmann * Januar 2016 Auf dem Kamm der neuen Hitler-Welle, die derzeit durch das Land und die Medien rollt, am selben Tag, an dem das Institut für Zeitgeschichte die kommentierte Ausgabe von „Mein Kampf“ vorstellt, gastiert die Theatergruppe Rimini-Protokoll mit ihrer neuen Produktion am HAU HAU Hebbel am Ufer Berlin. Ein Fernseher mit Bildern des Eichmann-Prozesses, ein künstliches Weihnachtsbäumchen, unter dem noch verpackte Geschenke liegen, ein Mülleimer, meterhohe Regalwände und ein Brief, der bei der deutschen Forschungsstation in der Antarktis nachfragt, ob „Mein Kampf“ in deren Bibliothek vorhanden sei. So beginnt die Inszenierung mit dem Titel „Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2“, die die Regie- und Theatergruppe Rimini Protokoll zuerst im September 2015 in Weimar auf die Bühne brachte und die just am Tag der vielbeachteten Veröffentlichung der kommentierten Edition des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) am ausverkauften Berliner HAU zu sehen war. Die Idee, das 800-Seiten Werk als Theaterstück aufzuführen, entstand vor drei Jahren. Anlass war das absehbare Ende der urheberrechtlichen Schutzfrist von Hitlers „Mein Kampf“ zum 1. Januar 2016. Bis dato unterband die bayerische Landesregierung eine Publikation dieses Werkes in Deutschland, das bis 1945 knapp 12,5 Millionen Mal gedruckt worden war. Die Frage nach dem richtigen Umgang mit dieser wichtigen programmatischen Schrift des Nationalsozialismus und mit ihrem Verfasser wurde hierdurch freilich nicht geklärt. Sie bot seither regelmäßig Anlass zu heftigen Debatten, in denen nicht zuletzt auch die Haltung der deutschen Gesellschaft zur nationalsozialistischen Vergangenheit verhandelt wurde.

„Das Buch der Deutschen“

Thomas Vordermayer über die Arbeit an der Edition von Hitlers „Mein Kampf“ * Von Annette Schuhmann * Januar 2016 Am 8. Januar 2016 stellt das Institut für Zeitgeschichte in München die kommentierte Gesamtausgabe: „Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition" vor. 
Gut drei Jahre haben Historiker/innen des Instituts unter Leitung von Christian Hartmann an einer, im wörtlichen Sinne zu verstehenden, vollständigen Kommentierung dieser Kampfschrift gearbeitet. Der Zeitdruck, unter dem sie dabei standen, war enorm, schließlich erlosch das Urheberrecht im Besitz des Freistaates Bayern am 1. Januar 2016. 
Die Arbeiten an der Kommentierung wurden von großem öffentlichen Interesse und nicht selten kontrovers begleitet. Dies ist ein durchaus seltener Glücksfall für unsere Profession, der aber ebenfalls für Anspannung sorgte und die Mitarbeiter des IfZ wiederholt mit Forderungen nach der Legitimation des Projektes konfrontierte.
In unserem Interview sollte es jedoch nicht um den Sinn der Edition gehen, den wir ohnehin nicht bezweifeln. Wichtiger waren für uns Fragen nach der Organisation des Forschungsprozesses, nach den persönlichen Eindrücken und dem „Leseerlebnis“, nach einer möglichen ironischen Distanz, die eine solche Arbeit begleiten kann, und danach, wie man als Wissenschaftler damit umgeht, auf ewig mit dem Titel „Mein Kampf“ in Verbindung gebracht zu werden.
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