Sarah Mayr im Interview

Wie bist Du auf die Idee gekommen, „Sandbostel“ zu fotografieren. Hast Du einen persönlichen Bezug zu diesem Ort?

Meine Mutter war in die Nähe gezogen. Als ich sie besuchte, zeigte sie mir die verfallenen Barracken, und ich begann, sie zu fotografieren. Damals gab es noch keine Gedenkstätte. Es gab einen ehrenamtlichen Verein, der sich um den Ort kümmerte, aber das kleine Haus war geschlossen.

Ich war im ersten Jahr meiner Ausbildung zur Fotografin, und es entstanden die ersten Schwarz-Weiß-Fotos. Mit diesen Bildern begann das Projekt. Dieser Ort ließ mich nicht mehr los.

 

Warum hast Du deine Abschlussarbeit zum Thema „Kriegsgefangenenlager Sandbostel“ gemacht? Keine der Abschlussarbeiten, die ich auf der Abschlussausstellung gesehen habe, hat ein derart „historisches“ Thema. Die meisten der Studierenden beschäftigen sich mit sich selbst. Wenige mit politisch und sozial relevanten Themen. Nur diese eine Arbeit hatte ein historisches Thema.

Ich wollte Öffentlichkeit für diesen Ort herstellen. Schon seit Langem interessiere ich mich für Geschichte, besonders für die Zeit des Nationalsozialismus und den Umgang damit.

 

Wie hast Du diese Arbeit am Beginn konzipiert, und wie gestaltete sich der Verlauf der Arbeit?

Die Arbeit begann mit den Schwarz-Weiß-Fotos des Lagers und ich suchte nach Überlebenden. Ich fragte die Mitarbeiter der Gedenkstätte, die gerade erst eröffnet worden war, und schrieb Briefe in allen europäischen Sprachen, in denen ich mein Projekt vorstellte und in denen ich Überlebende fragte, ob sie sich von mir porträtieren lassen möchten. Am 29. April 2013 fuhr ich zur Gedenkfeier in Sandbostel und sprach die ehemaligen Gefangenen direkt an. Die Historikerinnen und Historiker der Überlebendenverbände und der Gedenkstätten Neuengamme, Bergen-Belsen und Sandbostel unterstützten mich bei der Recherche und leiteten meine Anfragen weiter. Da auf der Gedenkfeier zu viel Trubel war, um einen ruhigen Moment zu finden, entschloss ich mich, die Zeitzeugen zu besuchen.

Mein Dozent Ludwig Rauch hatte großen Einfluss auf die Gestaltung der Porträts, er unterstützte mich weit über sein Pensum als Dozent hinaus.
Ich dachte, wenn ich schon die Möglichkeit habe, die Zeitzeugen zu treffen, kann ich nicht einfach nur ein Porträt machen und wieder fahren, ich musste sie auch zu ihren Erinnerungen befragen. Diese Interviews nahm ich auf Tonband auf, Ausschnitte daraus sind in der Ausstellung zu den Porträts zu hören. Ich wollte die Überlebenden in ihrer Gesamtheit zeigen und mich nicht nur auf ihre Haft beschränken. Die Interviews habe ich gekürzt und zu Texten zusammengefasst, die mit den Fotos in einem selbstverlegten Buch „Sandbostel“ veröffentlicht werden. Das Wissen und die Erinnerungen der Zeitzeugen sind wertvoll, sie bezeugen was, geschehen ist. Ihre Worte stehen gegen die Lüge, die sich in großen Teilen der Gesellschaft wieder breit macht, die alles verharmlost und die die Deutschen als Opfer verklärt.

 

Wie sind die Interviews der Zeitzeugen entstanden? Wie haben die ehemaligen Gefangenen auf Dich und Deine Anfrage reagiert?

Die Interviews sind biographisch, ich fragte nach dem Leben vor dem Krieg, nach der Zeit als Soldat oder als Widerstandskämpfer, nach der Verhaftung, der Zeit in Haft, der Befreiung und der Haltung der Überlebenden heute. Die Interviews wurden von mir selbst, zum Teil mit Hilfe der Dolmetscherinnen geführt, aufgenommen, transkribiert und übersetzt.

Die ehemaligen Gefangenen empfingen mich herzlich, sie waren in den Interviews sehr direkt. Ich fand die Tatsache, dass sie mit mir zurück in diese schrecklichen Erinnerungen gegangen sind, sehr tapfer und stark.

 

Bilder prägen in ihrer ganz eigenen Weise unser Geschichtsbewusstsein, indem wir uns über sie oft erst ein Bild von Geschichte machen. Eine Erinnerung ohne Bilder ist kaum vorstellbar. Welche Rolle spielen Bilder deiner Meinung nach beim Erinnern und Gedenken an Vergangenes beziehungsweise was kann durch Bilder vermittelt werden, was ein Text vielleicht nicht leisten kann?

Bilder transportieren Emotionen direkter als Texte. Ich glaube, Menschen können sich schneller damit identifizieren, die gezeigten Ereignisse besser nachempfinden und sich so auch besser daran erinnern als zum Beispiel an Zahlen oder Texte. Sie sind eine Momentaufnahme des Geschehenen, damit besteht auch die Gefahr der Pauschalisierung, Fehlinterpretation oder Manipulation durch Weglassen oder Verändern des Kontextes. 
Es gibt Bilder, die sich in unsere Erinnerung eingebrannt haben und Symbol geworden sind für sehr viel komplexere Ereignisse. Für das Geschichtswissen sind Bilder auch Beweise für Gewesenes, solange der Kontext bekannt und belegt ist, und sie bewahren Erinnerungen.

 

Die Geschichte des Lagers Sandbostel wurde nach 1945 in der Region lange verdrängt. Der unbequeme Teil der Geschichte sollte zu den Akten gelegt werden. Erst Anfang der neunziger Jahre änderte sich dies. Welches Konzept verfolgt die erst 2013 eröffnete Gedenkstätte Lager Sandbostel heute? Wie fügt sich Dein Projekt darin ein?

Es gibt seit 1992 einen Gedenkstättenverein, der in einer provisorischen Gedenkstätte mit Ausstellungen, Führungen, Veranstaltungen und Publikationen wichtige Gedenkarbeit geleistet und eine Auseinandersetzung mit „Stalag X B“ forciert hat.

2013 wurde die neugestaltete Gedenkstätte eröffnet, die Ergebnisse der Forschung zu „Stalag X B“ werden heute in Ausstellungen zu der Geschichte des Lagers und der Nachnutzung gezeigt. Die Gedenkstätte macht pädagogische Arbeit an Schulen im Landkreis, es entstehen Dokumentationen und Schülerprojekte, sie forscht an der Geschichte des Lagers, richtet die Gedenkfeier zum Tag der Befreiung aus, stellt einen Austausch mit den Überlebenden her und bewahrt ihre Erinnerungen.

Die Originalaufnahmen und Transkripte der Interviews aus meiner Arbeit werden in das Archiv der Gedenkstätte übernommen. Ich freue mich sehr, dass meine Fotos im April 2015 dort ausgestellt werden.

MITTWOCH 1. APRIL – DONNERSTAG 30. APRIL 2015 

Foyer im Ausstellungsgebäude 
Fotoausstellung »Sandbostel« von Sarah Mayr (Berlin) 

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