Im August 2021 reisten die Interviewerinnen und Studentinnen der Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, Pia Dressler und Alina Müller, im Rahmen der Exkursion „Holocaust in Polen – Erinnerungsorte der ‚Aktion Reinhardt’“ nach Lublin, um von dort aus Orte des Verbrechens der „Aktion Reinhardt“ zu besuchen: die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und die Transitghettos Piaski oder Izbica, das Konzentrationslager Majdanek. Michael Wildt leitete die Exkursion zusammen mit Andreas Kahrs vom Bildungswerk Stanisław Hantz, das solche Bildungsreisen regelmäßig durchführt.
Pia Dressler arbeitete im Verlauf der Exkursion an einem Fotoprojekt, das den Versuch unternahm, die Geschichte der Orte zu kontextualisieren und Momente des Alltags neben den Orten der Erinnerung zu zeigen. Eine Auswahl der Fotos ist im folgenden Interview zu sehen, in dem wir mit Michael Wildt über die „Aktion Reinhardt“ in der gegenwärtigen deutschen Erinnerungskultur sprachen sowie darüber, was es heißt, die Orte der Verbrechen aufzusuchen, zu erleben und zu „Erinnern“.
Warum haben Sie eine Exkursion an die Orte der „Aktion Reinhardt“ angeboten?
Michael Wildt: Ich wollte die Exkursion vor allem deshalb anbieten, weil die Vernichtungsstätten der „Aktion Reinhardt“ schon lange Zeit nur wenig Aufmerksamkeit bekommen. Das wurde mir durch meine eigene Reise 2018 an Orte wie Sobibor deutlich. Mitten im Wald gelegen, war das ehemalige Vernichtungslager Sobibor nur spärlich markiert, was sehr eindrücklich gewesen ist. Ich finde, dass die „Aktion Reinhardt“ größere Beachtung finden sollte. Daher war die Idee naheliegend, ein Seminar in Verbindung mit einer Exkursion anzubieten und somit auch im Lehrangebot auf die „Aktion Reinhardt“ hinzuweisen.
Wie haben Sie die Exkursion erlebt?
Für mich war es eine eindrucksvolle Exkursion, weil sie sehr gut von dem Historiker Andreas Kahrs und dem Bildungswerk Stanisław Hantz vorbereitet war. Mit den Informationen, die wir von Andreas Kahrs bekommen haben, konnten wir uns die Orte erschließen. Dazu kam die gemeinsame Erfahrung der Ortsbesuche, über die man sich austauschen konnte. Es wurden unterschiedliche Fragen gestellt und Exkursionsteilnehmer*innen lenkten ihre Aufmerksamkeit jeweils auf andere Dinge, das ist schon eine sehr viel intensivere Form des Erlebens.
Zum diesjährigen 80. Jahrestag des Beginns der „Aktion Reinhardt“, im März 2022, gab es kaum Gedenkveranstaltungen. Warum ist die „Aktion Reinhardt“ so wenig in der Öffentlichkeit und insbesondere in der deutschen Erinnerungskultur präsent?
Das hängt mit der Fokussierung auf den Ort Auschwitz und der Chiffre, die Auschwitz darstellt, zusammen. Wenn es um den Holocaust geht, steht Auschwitz für den Massenmord an den europäischen Jüd*innen. Damit Auschwitz aber nicht eine solch lose Chiffre bleibt, hinter der man nichts anderes mehr sehen kann, ist es so wichtig an all die anderen Orte zu erinnern. Dann erkennt man: Auschwitz war nur ein Ort von vielen. Das, was wir Holocaust nennen, hat an vielen Orten stattgefunden.
Viele stellen sich Auschwitz als eigenen abgeschirmten Kosmos vor. Bei den Orten der „Aktion Reinhardt“ sieht man jedoch, wie nah die jeweiligen Orte der Vernichtung an Dörfern liegen. Selbst ein Ort wie Sobibor war nicht versteckt: Entlang der ehemaligen Vernichtungsstätte verläuft eine Eisenbahnstrecke. Die Tötungs-, jetzt Gedenkstätte Belzec, ist in den Ort Belzec integriert. Wie eng die Vernichtungsstätten in die alltägliche Struktur dieser Region eingebettet waren, ist vielen Menschen nicht klar, dass wird erst durch den Besuch anderer Orte deutlich.
Dass die Orte der „Aktion Reinhardt“ nicht besonders bekannt sind, liegt sicherlich auch daran, dass sie sich Besucher*innen nicht einfach erschließen. In Belzec gibt es eine große Gedenkstätte und in Sobibor entsteht gerade eine. Aber die ehemaligen Durchgangsghettos Piaski oder Izbica erschließen sich kaum bei einem privaten Besuch, ich habe das selbst in Izbica erlebt. Dort habe ich bei meinem ersten Besuch nur einen kleinen Teil von dem erfahren, was später Andreas Kahrs auf der Exkursion über die Transitghettos erzählt hat.
Was heißt es für Sie, an die Orte zu fahren, über die Sie sonst im Seminar sprechen?
Man kann über den Holocaust viel lesen. Auch die Zeugnisse der Überlebenden berühren einen sehr. Dennoch ist es ein anderes Gefühl, wenn man am Ort selbst ist und weiß: Hier hat das Morden stattgefunden. In Sobibor steht man auf einem Boden, in dem die Asche von Tausenden von Menschen liegt. Das ist eine Erfahrung, die einen überwältigen und hilflos machen kann. Man fängt an sich zu fragen: Wie soll ich mich an einem solchen Ort verhalten und was kann ich überhaupt tun? Der Besuch kann aber auch bestärkend sein. Als ich zum Beispiel in Belzec den Rundgang über das Gelände gemacht habe, war das Gefühl sehr präsent, dass das was wir tun wichtig ist. Wir halten die Erinnerung fest und verhindern das Vergessen.
Wahrscheinlich geht es Ihnen wie mir; bestimmte Bilder verlassen einen nicht mehr. Dieses Bild von der Gedenkstätte Belzec, die ringsum vermerkten europäischen Orte der Deportationen, das Bild der kleinen Gedenksteine in Sobibor, vom nicht markierten Friedhof in Piaski oder dem Weg zum Friedhof in Izbica, das sind Bilder die bleiben. Man vergisst diese Bilder nicht und ich glaube, es zeigt, wie intensiv dieses Erleben vor Ort ist. So viele Bilder vergessen wir im Laufe der Zeit, aber diese Bilder begleiten mich. Dadurch sind sie immer auch eine Aufforderung, an den Holocaust zu erinnern, damit er keine vergessene Geschichte wird.
Die Tötungsstätten waren nicht abgelegen, sondern lagen oft sehr nah an Ortschaften oder Verkehrswegen. Auch die mitgebrachten Fotos zeigen, dass diese Orte heute in den Alltag eines Dorfes eingebunden sind, was irritierend ist…
Ja, die Bilder von Pia Dressler zeigen ganz eindeutig, dass diese Gedenkorte auch in einen alltäglichen Kontext eingebunden sind. Es leben Menschen in Belzec, man sieht Fahrradgruppen, deren Strecken an der Gedenkstätte vorbeiführen und die eventuell anhalten.
Ähnliches kann man jedoch auch beim Haus der Wannseekonferenz beobachten: Menschen, die vorher die Liebermann-Villa besucht haben, überlegen, noch einen Blick in das Haus zu werfen oder gleich an den Wannsee zu gehen und bei den Segelyachten Kaffee zu trinken.
Wenn wir an Piaski und die Fotos denken, die Pia Dressler aufgenommen hat, auf denen man Grillplatzüberrreste auf einem jüdischen Friedhof sieht, auf dem auch Massenerschießungen stattfanden, vermittelt das den Eindruck, dass die Menschen gar kein Gespür dafür haben, was an diesem Ort geschehen ist. Und auch, dass es angemessen wäre, den Friedhof entsprechend zu würdigen und abzugrenzen. Da merkt man eine Diskrepanz, die es auch hierzulande gibt. Die Erinnerung an die Morde ist nicht einfach gegeben, sondern es bedarf mitunter starken Markierungen, damit Friedhöfe nicht einfach so betreten werden. Es sollte klar werden: hier wurden Menschen getötet und wir können versuchen, ihnen ein würdiges Angedenken zu schaffen.
Glauben Sie, dass Markierungen allein dabei helfen, dass die Menschen in Piaski auf eine andere Weise mit dem jüdischen Friedhof umgehen?
Zumindest können sie ein Innehalten bewirken, eine Intervention im Alltag, dass sich hier ein Ort befindet, der eine eigene Geschichte hat, dass hier die Überreste von ermordeten Menschen liegen, eben ein Ort des Gedenkens.
Warum irritiert uns die Alltäglichkeit der Umgebung der Gedenkstätten im heutigen Polen mehr als sie es vor unserer eignen Haustür tut?
Das ist vielleicht der Kontrast zu unseren Städten, in denen zum Beispiel Stolpersteine mittlerweile zum Stadtbild gehören. Aber wir sollten nicht vergessen, dass es in Deutschland lange Zeit nicht anders aussah wie jetzt noch mancherorts in Polen. Es waren in erster Linie zivilgesellschaftliche Initiativen und drängende Nachfragen der Überlebenden-Verbände, die dazu führten, dass Orte der NS-Massenverbrechen markiert und in Gedenkorte umgewandelt wurden.
Hat die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, trotz der Diskurse über den alltäglichen Antisemitismus, in Deutschland an Relevanz verloren?
Das ist eine schwierige Frage. Wir haben in Deutschland in den letzten Jahrzehnten den Holocaust schon sehr stark thematisiert. Es gibt das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, das viele Tourist*innen besuchen und die Topographie des Terrors mit über einer Million Besucher*innen jährlich. Trotzdem laufen wir manchmal Gefahr, etwas zu ritualisieren. Die Reden zu Tagen wie dem 27. Januar ähneln sich beispielsweise jedes Jahr.
Welche Veränderungen in Bezug auf Holocaustgedenken haben Sie in den letzten Jahren wahrgenommen? Und wie sollte sich das Gedenken in Zukunft verändern, damit es nicht bei leeren Ritualen bleibt?
Ich glaube, der wichtigste Unterschied ist, dass wir als Gesellschaft viel diverser und migrantischer sind als noch vor vierzig Jahren. Und auch vor vierzig Jahren gab es schon sehr viele Menschen, deren Familien nicht aus Deutschland kamen; nur sind diese anders wahrgenommen worden. Wenn man sich die frühe Holocaust-Auseinandersetzung wie etwa den Historikerstreit anschaut, war diese noch sehr deutsch. Die Diversität heute ist eine große Herausforderung für das Holocaustgedenken, weil auch andere Anknüpfungspunkte hergestellt werden können. Damit meine ich nicht, den Holocaust auf Tiktok zu thematisieren, sondern Bezüge zu anderen Gewaltgeschichten. Dabei geht es nicht um eine Wertigkeit, sondern um Anknüpfungsmöglichkeiten. Wir müssen anerkennen, dass die Missachtung von Menschenrechten und rassistische Diskriminierungen, die zu nationalsozialistischen Massenverbrechen geführt haben, nicht aus der Welt sind. Menschen erleiden Diskriminierung und rassistische Verfolgung auch heute noch. Die in der Gegenwart erlebten Gewalt- und Diskriminierungsgeschichten in die Erinnerung an den Holocaust mitaufzunehmen ist sehr wichtig. Debatten darüber ‚was schlimmer war’ finde ich falsch. Es geht nicht darum was schlimmer ist, sondern darum, diese Geschichten ernst zu nehmen und die Erinnerung an den Holocaust als Aufgabe zu sehen, um auch anderen Gewaltgeschichten eine Repräsentation und Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum zu geben, die sie zu Recht beanspruchen.
Wenn wir die Reden, die zu den Jahrestagen des Holocaust gehalten werden, ernst nehmen, dann heißt es doch, gegen Rassismus und Antisemitismus und für Menschenrechte für alle Menschen einzutreten. Ein hohles Erinnern, was nur der eigenen Entlastung dient, weil wir uns dann wieder erinnert haben, das bewirkt nichts. Viele Überlebende haben genau das immer gesagt: es geht nicht um des Gedenkens Willen, sondern darum, die Welt freier, gleicher und humaner zu machen.
Welche Rolle spielt bei dieser Aufgabe die Holocaustforschung?
Ich denke, dass Holocaustforschung nicht nur wichtig und nötig ist, sondern auch noch vieles getan werden muss. Wir haben in den letzten Jahren mehr und mehr gesehen, dass der Holocaust kein deutsches, sondern ein europäisches Geschehen war. Das heißt, dass auch die Gesellschaften, die von Deutschland besetzt wurden, Teil der Verfolgungsgeschichte sind. Gewisse Formen von Kooperation und Kollaboration sind immer noch ein sehr heikles und nicht einfach zu behandelndes Thema. An den Diskussionen in Polen oder Ungarn merkt man, wie schwierig das Thematisieren der Kollaboration ist. Trotzdem werden wir diese Geschichte weiter erforschen müssen. Sie ist so wichtig, weil sie u.a. zeigt, wie Gewalt ermöglicht wurde. Denken wir an die vielen Orte in der Ukraine und in Belarus, an denen Menschen getötet wurden, die aber noch immer nicht alle bekannt sind. Die Organisation Yahad-In Unum hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Erschießungsorte kenntlich zu machen und zumindest die Massengräber wiederzuentdecken. Es gibt also noch eine ganze Menge zu erforschen. Dafür ist dieses Gewaltgeschehen zu ungeheuer und monströs gewesen, als dass es schon als erforscht gelten kann.
Sie haben seit 2006 erst am Historischen Seminar der Universität Hamburg und dann ab 2009 an der Humboldt-Universität in Berlin gelehrt. Haben sich die Diskussionen in Ihren Seminaren im Verlauf der letzten Jahre verändert?
Ich glaube, der Kontext und die Dringlichkeit vieler Probleme haben sich noch einmal intensiviert. Sie sind heute mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert, die viel Engagement brauchen. Damit meine ich den Klimawandel, rassistische Diskriminierung, Migration aber auch Digitalität. Die Problematik von Antisemitismus, Rassismus und Menschenrechtsverletzungen war früher schon aktuell. Vor zwanzig Jahren war die Thematik jedoch vielmehr von einem Aufklärungsimpuls getragen, der mit der Beschäftigung des Holocaust und dem Gedenken an die Menschen beispielsweise in Form von Stolpersteinen einherging.
In den Seminaren gibt es nach wie vor das gleiche Interesse am Nationalsozialismus aber eine stärkere Bezogenheit auf das eigene Leben und die eigene Familie. Das war vor 20 Jahren eventuell abstrakter oder mehr auf die allgemeine Geschichte fokussiert. Ihre Generation ist heute stärker an der eigenen Familiengeschichte interessiert und an der Frage, wie die eigene Familie involviert gewesen ist.
Die Thematik ist auch in dem Sinne personenbezogener, als dass sich stärker gefragt wird, was das Wissen um den Nationalsozialismus für das eigene Leben bedeutet. Die Frage „Wie gehe ich mit diesem Wissen um?“, haben Sie ja auch auf der Exkursion thematisiert.
Was wünschen Sie zukünftigen Studierenden, wenn diese sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandersetzen?
Ich wünsche mir, dass es Angebote für offene Seminare an den Universitäten gibt, sodass Studierende mit ihren eigenen Vorstellungen Seminare und Exkursionen gestalten können. Sie sind diejenigen die in den nächsten Jahrzehnten diese Gesellschaft gestalten werden. An welchen Stellen auch immer Sie tätig sind, Sie bestimmen mit, wie das Bild der Bundesrepublik und diese Gesellschaft aussieht.
Die Universität sollte ein Raum sein, um darüber nachzudenken, was Sie verändern wollen. Sich darüber auszutauschen, was in dieser Gesellschaft ihrer Meinung nach verändert werden sollte, was dafür nötig ist und welche Ressourcen sie brauchen.
Das Gespräch mit Michael Wildt wurde am 04. Februar 2022 digital geführt.
Wer nun mehr über die „Aktion Reinhardt“ erfahren möchte, dem empfehlen wir den Podcast "Holocaust in Polen. Die 'Aktion Reinhardt'. Täter, (Über)leben, Erinnerung", der von Masterstudierenden der Humboldt-Universität zu Berlin im Nachgang der Exkursion produziert wurde.
Über die (Gedenk-)Orte der Aktion Reinhardt
Ein Interview mit dem Historiker Michael Wildt