Nach kurzer Recherche wird deutlich, dass die Konflikte zwischen Aserbaidschan und Armenien bereits nach der Oktoberrevolution im Jahr 1917 ausbrachen. Kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion indes eskalierte der Konflikt (1988), als beide Länder noch Teilrepubliken der SU waren. Damals forderte die mehrheitlich armenische Bevölkerung Karabachs den Anschluss des völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörenden Gebietes. Darauf reagierte Aserbaidschan mit Pogromen in Sumgait und Baku, gefolgt von der Vertreibung der Armenier*innen aus Aserbaidschan. Karabach-Armenien gewann diesen Krieg. Die in Bergkarabach lebenden Aserbaidschaner*innen flohen oder wurden vertrieben. Im Jahr 2020 eroberte Aserbaidschan die Gebiete zurück und besetzte Teile Bergkarabachs. Der Krieg sollte 44 Tage andauern und wurde am 9. November 2020 durch einen gemeinsamen Vertrag beider Länder beendet. Die Waffenruhe wird durch Russland überwacht. Der im September 2022 wieder aufgeflammte Krieg/Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien taucht in den Institutionen, die sich mit der jährlichen Registrierung der Konflikte und Kriege beschäftigen (AKUF, BpB), derzeit nicht auf. Überhaupt sind die Kenntnisse über die Geschichte und Gegenwart dieser Region selbst unter Historiker*innen sehr gering.
Die Ursprünge des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan
z|o: Sie haben gemeinsam mit über 50 Wissenschaftler*innen im Oktober einen Aufruf gestartet. Darin verurteilen Sie die Aggression Aserbaidschans gegenüber Armenien. Darüber hinaus fordern Sie die historische Forschung und Darstellung der Situation auf der Grundlage empirischer Fakten, die für die Beurteilung der Geschichte des Konflikts von großer Bedeutung wären.
Wir sollten damit beginnen. Wie entstand der Konflikt? Und inwiefern hat die Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion zu dessen Entstehung beigetragen?
AM: Der Konflikt entstand, anders als in den Medien oft dargestellt, nicht erst in den späten 1980er Jahren im Prozess des Zerfalls der Sowjetunion, sondern reicht weit in die Geschichte zurück. Berg-Karabach, oder Arzach auf Armenisch, war aus geografischer, demografischer und kultureller Hinsicht seit der frühen Neuzeit ein umkämpftes Gebiet zwischen seinen christlichen und muslimischen Bewohner*innen. Demografisch gesehen war es eine gemischte Region, in der die Armenier*innen im bergigen Teil die absolute Mehrheit bildeten, während die kaukasischen Muslim*innen das Flachland bevölkerten. Für die Armenier*innen hatte neben ihren vielen frühchristlichen Kirchen und anderen Kulturdenkmälern die Existenz der fünf lokalen, quasi unabhängigen Fürstentümer eine wichtige identitätsstiftende Bedeutung.
Die so genannten Meliken konnten bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein eine gewisse Eigenständigkeit bewahren, mit der ein relativ beständiger Wohlstand der Armenier*innen in dieser Region einherging. Während einer frühen Phase der armenischen Nationalbewegung zu Beginn des 18. Jahrhunderts versuchten die Meliken, die Herrschaft Persiens (Irans) abzuschütteln und das armenische Königreich mit Hilfe Europas, später des Russländischen Imperiums, wiederherzustellen. Mit der Entstehung des Karabach Khanats etwa in der Mitte des 18. Jahrhunderts begann der politische Einfluss der Meliken zu schwinden, doch die Region büßte ihre Bedeutung für die Herausbildung der armenischen nationalen Identität während der Nationsbildungsprozesse im späten 19. Jahrhundert nicht ein. Das Khanat Karabach wiederum war der Ort, mit dem die heutigen Aserbaidschaner*innen das Entstehen ihres nationalen Selbstbewusstseins unter der Herrschaft der muslimischen Khane verbinden. Die Region wird als Teil des kaukasischen Albaniens gesehen, dessen Territorium sich im Wesentlichen mit dem des heutigen Aserbaidschan deckt. Insbesondere die Stadt Schuschi (armenisch)/Schuscha (aserbaidschanisch) betrachten beide Seiten als die Wiege ihrer jeweiligen kulturellen Blüte im späten 19. Jahrhundert, so dass jede Anspruchserklärung der Gegenseite als Angriff auf das eigene kulturelle Erbe und die nationale Identität angesehen wird. Insofern sind die Gründe des Konflikts oder zumindest dessen Ursprung nicht in der Nationalitätenpolitik der Sowjetunion zu suchen, gleichwohl war es ebendiese Politik, die den Konflikt in seiner heutigen Form geschaffen hat. In dieser Frage gehen die Meinungen der Expert*innen ziemlich auseinander: Manche sehen Lenins Einsatz für die Schaffung der föderalen Struktur mit einer Vielzahl von nationalen Territorien und autonomen Einheiten als die Ursache für das komplexe Problem der nationalen Minderheiten in der Sowjetunion. Die enorme ethnolinguistische Vielfalt der kaukasischen Region habe es unmöglich gemacht, politisch lebensfähige Einheiten mit übereinstimmenden territorialen und nationalen Grenzen für alle ethnischen Minderheiten zu schaffen. Folglich hätten die sowjetischen Führer die Grenzen auf eine Weise gezogen, die die Machtposition des Zentrums gesichert hätte. Andere Autor*innen wiederum lehnen die Idee der vermeintlich willkürlichen Grenzziehung ab und sehen in der Nationalitätenpolitik der sowjetischen Führung den Versuch, die ethnischen Konflikte ein für alle Mal beizulegen. Das wirkliche Dilemma besteht derweil in dem eigentlichen Konzept der Autonomie, die einerseits als „Allheilmittel“ für die Lösung territorialer Konflikte, andererseits aber umgekehrt als deren Ursprung angesehen wird.
Konflikt oder Krieg?
z|o: In der deutschen Medienlandschaft wird die Situation um Bergkarabach als Konflikt bezeichnet. Ist das überhaupt der richtige Begriff dafür? Handelt es sich nicht vielmehr um einen Krieg?
AM: Man könnte den Konflikt um Berg-Karabach als einen langwierigen Krieg mit diversen „heißen“ und – teils längeren – „kalten“ Phasen bezeichnen. Ich versuche, diese kurz zu skizzieren: Nach dem Zerfall des Russländischen Imperiums wurden territoriale Ansprüche erstmals konkreter formuliert, was zu mehreren Kriegen quer durch Kaukasus führte. Als die drei südkaukasischen Republiken 1918 ihre Unabhängigkeit erklärten, konnte kaum auf konkrete zwischenstaatliche Grenzen verwiesen werden. Stattdessen wurden Ansprüche geltend gemacht, die sich im Wesentlichen auf die während der imperialen Zeit existierenden administrativen Einheiten bezogen. Neben vielen anderen Gebietsansprüchen waren vor allem Berg-Karabach, Sangesur und Nachitschewan zwischen Armenien und Aserbaidschan umkämpft. Beide Seiten beriefen sich dabei auf historische Narrative, um territoriale Forderungen zu begründen und zu legitimieren. Zentral waren vor allem Vorstellungen darüber, welche Bevölkerungsgruppe als autochthon und welche als eingewandert angesehen werden kann – ein Narrativ, das heute noch die Diskussion auf beiden Seiten dominiert. Nach der Sowjetisierung Armeniens im Dezember 1920 erklärte der Rat der Volkskommissare der Aserbaidschanischen SSR die Grenzprobleme zwischen den beiden Staaten für gelöst, indem alle drei Gebiete als Bestandteile Sowjetarmeniens anerkannt wurden. Diese historische Episode und darin insbesondere die Frage, warum Armenien aus dieser Situation nicht profitieren konnte, gehören nach wie vor zu den umstrittensten Fragen des Konflikts. Die endgültige Lösung des Territorialstreits brachte der russisch-türkische Friedensvertrag vom 16. März 1921: Nachitschewan wurde als autonome Republik Aserbaidschan zugeschlagen, während das Schicksal Berg-Karabachs – aus armenischer Sicht unrechtmäßig – am 5. Juli 1921 auf der Sitzung des Kaukasischen Büros der Kommunistischen Partei besiegelt wurde. Am 7. Juli 1923 wurde Berg-Karabach als autonome Region in die Aserbaidschanische SSR eingegliedert. Die darauffolgende latente Sowjetphase bedeutete allerdings nicht, dass der Konflikt beigelegt war, oder dass sich die Armenier*innen mit ihrem autonomen Status zufriedengaben. Dies beweisen mehrere Anträge auf die Vereinigung Berg-Karabachs mit der Armenischen SSR, die während der Sowjetzeit immer wieder an die Obersten Parteiorgane gerichtet wurden. Die von Michail Gorbatschow eingeführte Politik der Glasnost und Perestroika verlieh der sogenannten Karabach-Bewegung eine neue Dynamik und konnte innerhalb kürzester Zeit die Menschen sowohl in Berg-Karabach als auch in Armenien mobilisieren.
Inmitten der zu diesem Zeitpunkt friedlich verlaufenden Massendemonstrationen in Armenien löste die Nachricht über die Pogrome gegen Armenier*innen in der aserbaidschanischen Stadt Sumgait eine Schockwelle aus, die sogleich die Erinnerung an den im Schatten des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich verübten Genozid weckte.
Vor dem Ausbruch des Krieges Anfang der 1990er Jahre herrschte auf beiden Seiten die Überzeugung, eine friedliche Koexistenz sei nicht mehr möglich. Der sogenannte erste Berg-Karabach Krieg endete mit einem militärischen Erfolg der Armenier*innen, im Mai 1994 trat ein Waffenstillstand in Kraft. Seither – und bis zum Ausbruch der jüngsten Eskalation – bemühte sich die sogenannte Minsk-Gruppe der OSZE unter dem Vorsitz Russlands, der Vereinigten Staaten und Frankreichs um eine für beide Seiten akzeptable und mit dem Völkerrecht konforme Lösung. Rückblickend bleibt allerdings festzuhalten, dass in beiden Ländern – in Aserbaidschan mehr als in Armenien – eher Feindbilder kultiviert und beworben wurden, anstatt die Gesellschaft auf notwendige Zugeständnisse vorzubereiten. Die Verhandlungsphase der letzten 30 Jahre war daher von zahlreichen Eskalationen mit zum Teil schweren Kämpfen geprägt. So kam es im April 2016 zu einem massiven Angriff Aserbaidschans, der zwar „nur“ vier Tage dauerte, jedoch gravierende Folgen für beide Seiten hatte und hunderte Todesopfer forderte. Im August 2020 folgte der nächste Angriff, diesmal jedoch außerhalb von Berg-Karabach in der armenischen Provinz Tavush. Dies war einerseits der Vorbote des Krieges, der einen Monat später ausbrechen sollte, andererseits ein Lackmustest für die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), in der Armenien Mitglied ist. Obwohl das Ziel der OVKS unter anderem darin besteht, die Sicherheit, Souveränität und territoriale Integrität ihrer Mitgliedsstaaten zu gewährleisten, erfolgte auf diesen Angriff Aserbaidschans keine Reaktion. Im September 2020 brach schließlich der Krieg aus, der die geopolitische Lage im Südkaukasus und das Leben der Armenier*innen in Berg-Karabach gravierend und nachhaltig verändern sollte. Das Abkommen, das nach 44 Tagen äußerst blutiger Kriegshandlungen am 10. November unter russischer Vermittlung unterzeichnet wurde, brachte allerdings nicht die für spätere Friedensverhandlungen erforderliche Stabilität. Die Region wird auch nach mehr als zwei Jahren immer noch durch teils schwere Gefechte erschüttert. So kam es im September 2022 zu einem Angriff auf das Territorium Armeniens entlang der Grenze zu Aserbaidschan. Die Menschen in den Grenzregionen mussten fliehen und können bis heute nicht in ihre Häuser zurückkehren. Aserbaidschanische Truppen übernahmen die Kontrolle über wichtige Höhen innerhalb der armenischen Staatsgrenzen, es kam zu schweren Kriegsverbrechen, wie der Erschießung gefangener armenischer Soldaten. Mehrere weitere sind trotz entsprechender Vereinbarungen über die bedingungslose Freilassung von Kriegsgefangenen immer noch in aserbaidschanischer Gefangenschaft. Letztlich ist dieser Krieg so lange nicht beendet, solange kein Friedensvertrag zwischen den beiden Staaten unterzeichnet worden ist. Doch das scheint – zumindest zu jetzigem Zeitpunkt – nicht realisierbar zu sein.
Armenien, Berg-Karabach, Aserbaidschan: Eine vergessene Region?
z|o: Warum ist das Wissen um diese Region in Deutschland kaum verbreitet?
AM: Dies liegt zum einen an der geographischen Entfernung der Region und der Tatsache, dass Deutschland dort kaum politische und wirtschaftliche Interessen vertritt. Zum anderen ist es sicher auch dem Umstand geschuldet, dass die Forschung über den kaukasischen Raum in Deutschland schwach vertreten ist. Es gibt eine Handvoll Lehrstühle, die sprachwissenschaftliche, theologische oder anthropologische Forschung im Fokus haben, wie etwa das Institut für Slawistik und Kaukasusstudien an der Universität Jena. Alles, was darüber hinausgeht – von Kenntnis der lokalen Sprachen ganz zu schweigen –, sieht eher dürftig aus. Dass es seit 2010 an der Humboldt-Universität in Berlin eine Stiftungsprofessur für die Geschichte Aserbaidschans gegeben hat, ist eher als Skandal denn als Exempel für die Kaukasusforschung in Deutschland zu werten. Finanziert wurde dieser Lehrstuhl zu einem großen Teil von der aserbaidschanischen Botschaft in Berlin, wobei nach den bereits veröffentlichten Zahlen von 2010 bis 2015 jährlich 100.000 und bis 2020 sogar 150.000 Euro an die Drittmittelverwaltung der HU geflossen sind. Kritik darüber gab es in den Medien immer wieder, doch zu einem wirklichen Eklat wurde die Existenz dieser Gastprofessur erst nach dem Krieg in Berg-Karabach in 2020, als die Lehrstuhlinhaberin Eva-Maria Auch nach Baku reiste, um dem aserbaidschanischen Machthaber Ilham Aliyev persönlich zum Sieg zu gratulieren.
Danach gab es auch seitens deutscher Professor*innen und des RefRats der HU Proteste und die Forderung, der „Einflussnahme des aserbaidschanischen Regimes auf die freie Lehre“ ein Ende zu setzen.
Die Gastprofessur wurde inzwischen aufgelöst, eine kritische Aufarbeitung dieses Kapitels ihrer Geschichte steht an der HU jedoch noch aus. In weitaus größerem Ausmaß sind politische Akteure von Korruptionsskandalen betroffen. Im September 2017 deckte das Organized Crime and Corruption Reporting Project ein komplexes, von Aserbaidschan organisiertes Geldwäschesystem auf, das unter dem Namen „aserbaidschanischer Waschsalon“ bekannt geworden ist. Unter anderem wurde Geld an EU-Politiker*innen wie etwa Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ausgezahlt, um Lobbyarbeit für Aserbaidschan zu betreiben. Diese Politiker*innen haben einerseits versucht, die für Aserbaidschan kritischen Resolutionen etwa zu den politischen Gefangenen in diesem Land zu beeinflussen, zum anderen gaben sie als Wahlbeobachter*innen positive Bewertungen zu den Wahlen in Aserbaidschan ab. Nach dem Krieg im Jahr 2020 gab es plötzlich zahlreiche Berichte darüber, in welchem Umfang auch deutsche Politiker*innen und Abgeordnete in Korruptionsskandale verwickelt waren; selbst bei Markus Lanz stand das Thema einmal im Mittelpunkt. In einem anderen Kontext würden diese Skandale zumindest eine öffentliche Empörung auslösen. Doch selbst nach der Veröffentlichung von Namen konkreter CDU und CSU Politiker*innen wie Axel Fischer, Thomas Bareiß, Nikolas Löbel, Joachim Pfeiffer, Karin Strenz u.a. blieben eine angemessene Reaktion darauf, ebenso wie ernste Konsequenzen aus. Auch dies ist eine Folge einerseits des mangelnden Wissens über die kaukasische Region, andererseits aber auch des Fehlens an genuinem Interesse.
Worum geht es in diesem Konflikt?
z|o: Bergkarabach ist ein relativ unwegsames Gebiet, bestehend aus Steppenlandschaft Flusstälern und Wäldern. Worum geht es noch, außer um Gebietsansprüche? Sind die armenischen Goldvorkommen in diesem Konflikt relevant?
AM: In seinem politischen Kern ist der Konflikt um Berg-Karabach ein Streit um das Selbstbestimmungsrecht der dortigen armenischen Bevölkerung. Das bedeutet, dass die natürlichen Ressourcen, im Übrigen nicht nur Edelmetallvorkommen, sondern auch Wasserreserven, zwar nicht im Vordergrund stehen, aber dennoch ein wichtiger Faktor sind. Berg-Karabach und die umliegenden Gebiete sind in der Tat reich an Goldvorkommen, aber auch Kupfer und andere Edelmetalle kommen vor. In den vergangenen Jahrzehnten haben Einnahmen aus dem Bergbau rund 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der quasi-unabhängigen Republik Arzach ausgemacht und waren damit die wichtigste Steuereinnahmequelle. Nach dem Krieg 2020 verlor Berg-Karabach die Kontrolle über mehrere Minen, deren weitere Förderung in Aserbaidschan sogleich aufgenommen wurde. Die internationalen Verträge etwa mit dem US-Unternehmen RV Investment oder der Anglo Asian Mining Plc, die zum Teil bereits in den 1990er Jahren abgeschlossen worden waren, wurden erneuert. Noch während des Krieges im Oktober 2020 verkündete die Anglo Asian Mining Plc in einer Pressemitteilung, dass die gerade von aserbaidschanischen Truppen zurückeroberten Gebiete bald erschlossen werden könnten. Das bedeutet, dass internationale Wirtschaftsinteressen in diesem Konflikt durchaus eine Rolle spielen, auch wenn sie im Kampf um Berg-Karabach nie im Vordergrund standen. Umso bemerkenswerter ist es, dass Probleme der Umwelt und der natürlichen Ressourcen heute eine nie dagewesene politische Brisanz aufweisen, zum Beispiel mit Blick auf den sogenannten Sangesur-Korridor. Dieser soll Aserbaidschan über den Süden Armeniens mit dem Enklaven Nachitschewan verbinden, wobei Baku damit droht, dessen Bau notfalls mit Gewalt durchzusetzen. In einer Erklärung äußerte die erwähnte Anglo Asian Mining Plc die Hoffnung, dass dank dieses Korridors die Erschließung der Goldmine Ordubad in der Autonomen Republik Nachitschewan erheblich erleichtert würde. Armenien lehnt die Idee eines Korridors durch das eigene Territorium strikt ab, was wiederum einer der Gründe dafür sein dürfte, dass Aserbaidschan den Lachin-Korridor, die einzige Verbindung Berg-Karabachs mit Armenien und der Außenwelt, seit dem 22. Dezember 2022 vollständig versperrt.
Inzwischen droht die Region deswegen in eine humanitäre Krise abzugleiten: Strom- und Gaslieferungen werden von aserbaidschanischer Seite regelmäßig unterbrochen, Lebensmittel, Haushaltswaren und Medikamente kommen nicht mehr an, Schwerkranke müssen in Begleitung des Roten Kreuzes zur Behandlung nach Armenien gebracht werden. Dass auch diese Blockade ausgerechnet mit Umweltfragen, genauer gesagt als Protest gegen die „illegale Ausbeutung von Bodenschätzen“ begründet wird, kommt wenig überraschend.
Welche Rolle spielt Russland in diesem Konflikt?
z|o: Im Konflikt, oder besser im Krieg, zwischen beiden Ländern, steht Russland auf der Seite Armeniens. Russlands wirtschaftliche und militärische Kräfte sind seit Februar durch den Angriffskrieg auf die Ukraine gebunden. Aber bereits vorher beklagte der armenische Premier Paschinian die Untätigkeit der im Land stationierten russischen Truppen angesichts der Aggressionen Aserbaidschans. Lässt Russland damit einen Verbündeten im Stich?
AM: Die These, dass Russland in dem Konflikt auf Seiten Armeniens steht, während die Türkei Aserbaidschan unterstützt, ist, wenn nicht falsch, so doch zumindest unvollständig. Russland versteht sich als Vermittler zwischen den beiden Staaten und bleibt als solcher in Wort und Tat neutral. Das kann man von der Türkei, die sich bisher bedingungslos hinter Aserbaidschan gestellt hat, nicht behaupten. Dennoch kommt in den westlichen Medien kaum ein Beitrag zum Konflikt um Berg-Karabach ohne die Formulierung aus, Russland sei Armeniens „Schutzmacht“. Natürlich entstand dieses Narrativ nicht aus dem Nichts: Zwischen Armenien und Russland existieren diverse bilaterale Verträge, die die strategische Partnerschaft beider Länder regeln. Von besonderer Bedeutung ist das im September 1992 geschlossene Abkommen, mit dem die Grenzkontrolle zur Türkei und zum Iran sowie am internationalen Flughafen Zvartnots in Eriwan den russischen Grenzschutztruppen überlassen wird. Verstärkt wird die militärische Präsenz Russlands in Armenien durch den einzigen im Südkaukasus verbliebenen Militärstützpunkt (102 Militärbasis) in der armenischen Stadt Gyumri. Zusammen mit der Mitgliedschaft Armeniens in der OVKS sind dies Faktoren, die eigentlich die Sicherheit der Republik Armenien und ihrer Grenzen garantieren sollten. Während der verschiedenen heißen Phasen des Konflikts haben wir allerdings gesehen, dass weder Russland noch die OVKS bereit sind, über die Rolle eines Vermittlers hinauszugehen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache, dass Russland zum wichtigsten Waffenlieferanten nicht nur Armeniens, sondern auch Aserbaidschans geworden ist. Laut Angaben des Stockholmer internationalen Friedensforschungsinstituts (SIPRI) stellt das Land bis zu 94 Prozent der Waffenimporte in Armenien und rund 60 Prozent in Aserbaidschan. Im Jahr 2018 erklärte Ilham Alijew in einem Interview, sein Land habe Waffen für bis zu 5 Milliarden Dollar in Russland eingekauft. Dies sorgt natürlich für große Unsicherheit in Armenien und Zweifel an Russlands Zuverlässigkeit als strategischer Partner. In armenischen pro-westlichen Kreisen herrscht gar die Meinung vor, die Fortsetzung des Konflikts um Berg-Karabach sei aus russischer Sicht vorteilhafter als dessen endgültige Lösung. Denn der Verkauf von Waffen an Aserbaidschan bei gleichzeitiger Gewährung von Verteidigungsgarantien an Armenien würde dem Kreml die Möglichkeit geben, den Konflikt zu beeinflussen bzw. die Spannungen zwischen Jerewan und Baku gezielt zu steuern. Der jetzige Premierminister Pashinyan gehörte als Oppositionsabgeordneter zu den Politikern, die immer wieder den Austritt Armeniens aus der Eurasischen Wirtschaftsunion gefordert haben. Nun muss auch seine Regierung eingestehen, dass kein anderer Staat vergleichbare politische, strategische und wirtschaftliche Interessen in Armenien verfolgt wie Russland. Doch die Tatsache, dass dieses Land derzeit einen Angriffskrieg in der Ukraine führt und sowohl beim Angriff Aserbaidschans auf Armenien als auch bei der andauernden Blockade Berg-Karabachs untätig geblieben ist, gab Armenien die Gelegenheit, die EU um die Entsendung einer Beobachtermission in die Region zu bitten. Die Mission mit der Bezeichnung EUMA (European Union Mission in Armenia), die Ende Februar 2023 angelaufen ist, soll die Situation beobachten bzw. zu deren Entspannung beitragen, sorgt aber jetzt schon für Unmut in Russland wie in Aserbaidschan.
Die Menschenrechtslage in der Region und die Stimmung in den Bevölkerungen beider Länder
z|o: Die armenische Gesellschaft scheint gespalten: Während der Premier Paschinian Kompromisse gegenüber Aserbaidschan eingeht, um eine kriegerische Auseinandersetzung zu verhindern, wird er von der Opposition und großen Teilen der Bevölkerung als Verräter angesehen. Was wissen wir über die Stimmung innerhalb der Bevölkerungen beider Länder und über die Menschenrechtslage in beiden Ländern?
AM: Die armenische Gesellschaft ist in der Tat gespalten – und das besonders dramatisch seit der sogenannten samtenen Revolution im Jahr 2018. Dass die Menschen in Armenien damals auf die Straße gingen, um den amtierenden Präsidenten Sersch Sargsjan zum Rücktritt zu zwingen, war ein Beleg dafür, dass sich in Armenien in den letzten Jahrzehnten eine starke Zivilgesellschaft herausgebildet hatte, die die langsame Umwandlung Armeniens in eine semi-Diktatur nicht länger hinnehmen wollte. Mit dem Rollentausch zwischen der Opposition und der bis dahin regierenden Republikanischen Partei hat sich die Kluft in der Gesellschaft jedoch vertieft. Genoss die neue Regierung anfangs noch großes Vertrauen, schwand dieses nach dem Krieg zusehends. Dieser Krieg brachte den desolaten Zustand der armenischen Armee, die schlechte Qualität der Waffen, Fahnenflucht, Inkompetenz der Generäle und vieles mehr ans Licht. Dafür geben sich Regierung und Opposition nun gegenseitig die Schuld. Dass die regierende Partei trotz der Niederlage im Krieg dennoch die vorgezogenen Wahlen 2021 gewinnen konnte, lag insbesondere daran, dass die Menschen in Armenien dadurch die Rückkehr der alten politischen Eliten verhindern wollten. Was die Menschenrechtslage betrifft, so hat sich die Situation in Armenien nach 2018 zumindest in dieser Hinsicht dramatisch verbessert. Zwar gibt es immer noch Probleme mit Blick auf Korruption, Unabhängigkeit der Justiz usw., allerdings ist dies nicht mit der Situation in Aserbaidschan zu vergleichen, das diktatorisch regiert wird, wo Journalisten und Oppositionelle verfolgt werden und die Presse unterdrückt wird. Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, Transparency International und Amnesty International berichten seit Jahren über die kontinuierliche Verschlechterung der Menschenrechtslage in Aserbaidschan, über die Verfolgung und Verhaftung von Oppositionellen und kritischen Journalist*innen, denen z. B. Drogenhandel vorgeworfen wird. In den letzten Jahren hat Aserbaidschan in allen Ranglisten von Organisationen wie Freedom House, Transparency International oder Reporter ohne Grenzen zur Korruption, zur Lage der Menschenrechte und zur Pressefreiheit stets einen der hinteren Plätze belegt. Dieser Umstand ist natürlich einer der Gründe, warum sich die Armenier*innen in Berg-Karabach gegen die politische Kontrolle dieses Landes wehren.
z|o: Russland, Iran und die Türkei sind unmittelbar in den Konflikt involviert und stehen sich auf der jeweils anderen Seite gegenüber. Alle drei Länder haben zurzeit enorme innen- und außenpolitische Probleme. Ist das der Grund, warum es auf der Verhandlungsebene stagniert? Wessen Interessen werden in diesem Konflikt abgebildet?
AM: Alle drei Staaten betrachten historisch die südkaukasische Region als Einflusssphäre, in der sich politische und wirtschaftliche Interessen kreuzen. Daraus ergeben sich zum Teil große Abhängigkeiten, die allerdings nicht unbedingt zu einer friedlichen Lösung des Berg-Karabach-Konflikts beigetragen haben. Die Tatsache, dass der Konflikt oft eben dazu benutzt wurde, um diverse innen- und außenpolitische Probleme in den Griff zu bekommen, macht die Sache nicht gerade einfacher. Die Beziehungen zwischen Russland, Iran und der Türkei sind sowohl untereinander als auch mit den drei südkaukasischen Staaten äußerst komplex: Die Grenzen Armeniens zur Türkei und zu Aserbaidschan sind geschlossen, es gibt große Spannungen zwischen Aserbaidschan und dem Iran, die Beziehungen Georgiens zu Russland sind, gelinde gesagt, belastet. Für den Berg-Karabach-Konflikt bedeutet dies, dass zumindest die beiden Hauptakteure, Russland in Aserbaidschan und die Türkei in Armenien, als befangen gelten und dementsprechend nicht das notwendige Vertrauen genießen, um den Verhandlungsprozess voranzubringen. Zwar steht die Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei parallel zu den Friedensverhandlungen mit Aserbaidschan nach wie vor auf der Tagesordnung, doch die Fortschritte sind eher gering. Die Situation schien sich nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien vor einigen Wochen zunächst zu ändern. Armenien reagierte prompt und schickte sowohl Rettungskräfte als auch Hilfsgüter in die Türkei, selbst der armenische Außenminister besuchte die Katastrophenregion. Die Brücke in Maragha über den Fluss Arax, über die Hilfsgüter in die Türkei gelangten, wurde schnell zu einem Symbol einer möglichen „Erdbeben-Diplomatie“. Ob dies im Gegensatz zur „Fußball-Diplomatie“, die zwischen den beiden Ländern zwischen 2008 und 2011 im Gange war, zu besseren Ergebnissen führen würde, bleibt abzuwarten. Was Iran betrifft, so ist dieses Land zwar nicht direkt in den Konflikt oder den Verhandlungsprozess involviert, hat aber durchaus eigene Vorstellungen über die geopolitische Lage im Kaukasus. Das Land sieht sich von dem machtpolitischen Wettkampf zwischen Russland und der Türkei betroffen, so dass Irans politische Führung nach dem Krieg in 2020 unmissverständlich klargestellt hat, was sie als rote Linien betrachtet, die nicht überschritten werden dürfen. Dies betrifft insbesondere mögliche Grenzverschiebungen sowie den so genannten „Sangesur-Korridor“, der als Bedrohung für Irans Sicherheit wahrgenommen wird. Armenien stellt für Iran das Tor zum Norden dar, insofern bedeutet die Gefährdung der sicherheitspolitischen Lage in Armenien auch eine direkte Bedrohung für Iran. Im Grunde genommen sind alle Parteien an einer endgültigen Beilegung des Konflikts interessiert, doch die Verhandlungen sind zum Teil an Vorstellungen und Forderungen gebunden, die als nicht akzeptabel gelten.
Die Dokumentation der Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen
z|o: Die Kriege zwischen beiden Ländern haben inzwischen tausende Menschen das Leben gekostet, ein Großteil der Zivilbevölkerung der Region ist auf der Flucht. Es gibt Berichte über unvorstellbare Grausamkeiten aserbaidschanischer Soldaten gegen Gefangene. Werden die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und für eventuelle internationale Strafgerichte gesammelt?
AM: In der Tat wurden und werden Beweise für zahlreiche Kriegsverbrechen, die nicht nur während des Krieges im Jahr 2020, sondern auch schon davor, während der immer wieder aufflammenden heißen Phasen des Konflikts, begangen wurden, gesammelt und ausführlich dokumentiert. Auf der offiziellen Website der armenischen Ombudsperson sind diese Dokumentationen, aber auch Berichte an internationale Menschenrechtsorganisationen, zugänglich. Wichtig in diesem Zusammenhang ist das relativ neue, das heißt erst Ende Dezember 2022 angekündigte Vorhaben der armenischen Regierung, den Prozess der Ratifizierung des Römischen Statuts (das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs) einzuleiten. Dies wird hoffentlich einige wichtige Implikationen mit sich bringen, denn das Risiko einer erneuten militärischen Aggression Aserbaidschans gegen Armenien bleibt nach wie vor hoch. Unter diesen Umständen ist eine möglichst baldige Ratifizierung des Statuts äußerst wichtig, denn dann würden Verbrechen, die von aserbaidschanischen Streitkräften auf dem armenischen Hoheitsgebiet begangen werden, wie z.B. die Erschießung gefangener Soldaten, der Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs unterliegen. Dies würde zweifellos eine präventive und restriktive Maßnahme für Aserbaidschan darstellen.
z|o: Wir wissen relativ viel über die Situation der ukrainischen Bevölkerung im Krieg, über Menschenrechtsverletzungen durch die russischen Besatzer, die permanenten Angriffe auf zivile Ziele durch die russische Armee. Vermittelt werden diese Nachrichten/Bilder via social media-Kanäle. Für den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan gilt das nicht. Warum?
AM: Bis zu einem gewissen Grad gab es diese Übermittlung schon, insbesondere während des Krieges im Jahr 2020. Die andere Frage ist, dass dies längst nicht jene Aufmerksamkeit und Resonanz in der Welt gefunden hat, wie es mit dem Krieg in der Ukraine der Fall ist. Gerade in Deutschland war es eine Herausforderung, das notwendige mediale Interesse für den im Kaukasus tobenden Krieg zu wecken, auch wenn es um Menschenrechtsverletzungen oder haarsträubende Kriegsverbrechen wie die Erschießung von Kriegsgefangenen oder die Enthauptung von Zivilist*innen ging. Dies führte zum Beispiel dazu, dass mitten im Krieg, am 16. Oktober 2020, fast 200 Menschen die Autobahn A1 Richtung Hamburg blockierten, um Medien und Politiker*innen auf das dramatische Ausmaß des Krieges aufmerksam zu machen bzw. die internationale Staatengemeinschaft dazu zu bewegen, Druck auf Aserbaidschan auszuüben. Die unangemeldete Demonstration führte zu einer rund dreieinhalbstündigen Vollsperrung des betreffenden Autobahnabschnitts und löste in der deutschen Öffentlichkeit eine Welle der Empörung und des Unverständnisses aus. Den meisten vom Stau betroffenen Menschen war nicht einmal bekannt, dass im Kaukasus gerade ein Krieg tobte.
Gibt es gezielte Zerstörungen von Kulturgütern, Denkmäler, Kirchen etc.
z|o: Wie sieht es mit der Zerstörung von materiellen Gütern aus? Werden, ähnlich wie in der Ukraine, gezielt Kulturgüter, Grabstätten, Archive u.a. zerstört?
AM: Das ist in der Tat der Fall. Bereits während des Krieges wurden armenische Kirchen und andere Kulturdenkmäler, vor allem aber Friedhöfe, in den Gebieten, die unter aserbaidschanische Kontrolle gekommen waren, mutwillig zerstört. Damals nutzte die Forschungsinitiative Caucasus Heritage Watch (CHW) unter Federführung von Archäologen der Universitäten Cornell und Purdue beispielsweise Satellitenbilder, um gefährdete und beschädigte Kulturgüter zu überwachen bzw. deren Zerstörung zu dokumentieren. Nach dem Krieg in 2020 wurden drei Überwachungsberichte veröffentlicht, in denen unter anderem festgehalten wird, dass Aserbaidschan armenisches Kulturgut entweder als nicht existent oder als Erbe des kaukasischen Albaniens darstellt. Auch das Europäische Parlament hat am 10. März 2022 in bemerkenswert deutlichen Worten die Zerstörung des armenischen Kulturerbes bzw. die Verfälschung der Geschichte und die Versuche, das armenische Kulturerbe als kaukasisch-albanisch darzustellen, verurteilt. Bemerkenswert an dieser Erklärung ist nicht nur die Feststellung, dass armenische Kirchen, wie die berühmte Ghasantschezoz-Kathedrale (Kathedrale Christi des Heiligen Erlösers) in Schuschi, und andere Kulturdenkmäler während des Krieges vorsätzlich beschossen und beschädigt wurden. Hervorgehoben wird auch die gezielte Politik Aserbaidschans, jegliche armenischen Spuren in Berg-Karabach auszulöschen. So ordnete Präsident Alijew bei einem Besuch der armenischen Kirche in Zakuri aus dem 12. Jahrhundert an, die armenischen Inschriften dort zu beseitigen. Gleichzeitig kündigte der aserbaidschanische Kultusminister Anar Karimow die Errichtung einer Arbeitsgruppe an, um die „fiktiven“ armenischen Inschriften von „albanischen religiösen Tempeln“ zu entfernen. Angesichts dieser Geschehnisse hat das Europäische Parlament Aserbaidschans Politik der Vernichtung des armenischen Kulturerbes bzw. der Leugnung seiner Existenz als „staatlich geförderte Politik der Armenierfeindlichkeit, des Geschichtsrevisionismus und des Hasses gegenüber Armeniern“ sowie als eine Verletzung des Völkerrechts eingestuft und scharf verurteilt. Diese Politik Aserbaidschans ist allerdings nicht präzedenzlos: Armenische Kulturdenkmäler in Nachitschewan waren bereits von einer ähnlichen Zerstörungspolitik betroffen. In einer einjährigen Studie hat CHW mehr als 108 mittelalterliche und frühneuzeitliche armenische Klöster, Kirchen und Friedhöfe identifiziert, die zwischen 1997 und 2011 vollständig – laut dem Bericht bis zu 98 Prozent – zerstört wurden. Ein anderes Projekt, das Julfa Cemetery Digital Repatriation Project der Katholischen Universität in Australien, hat die Zerstörung des armenischen Friedhofs in der Stadt Julfa in Nachitschewan dokumentiert. Es handelt sich um einen der ältesten christlichen Friedhöfe der Welt, der aufgrund seiner mehr als 10.000 kunstvoll geschnitzten und für die armenische christliche Kultur charakteristischen Chatschkars (Kreuzsteine) aus dem 15. Jahrhundert historisch und kulturell einzigartig ist. Zum Zeitpunkt ihrer vollständigen Zerstörung gehörten diese Chatschkars bereits zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Wie ist die Haltung Deutschlands in diesem Konflikt?
z|o: Wie verhielt und wie verhält sich die deutsche Außenpolitik in diesem Konflikt und warum wissen wir so wenig darüber, dass dieser Krieg bereits jetzt als der „vergessene Krieg“ bezeichnet wird?
AM: Ich würde die Haltung der deutschen Politik insgesamt und der Außenpolitik im Besonderen als äußerst ambivalent bezeichnen. Was derzeit an Angela Merkels Russland-Politik so sehr in Kritik steht, gilt gleichsam auch für ihre Haltung zur Türkei. Gleich zu Beginn des Krieges in Berg-Karabach berichtete BBC über die türkische Unterstützung für Aserbaidschan, insbesondere über die Rekrutierung pakistanischer Söldner, aber auch von Folter und Ermordung von Kriegsgefangenen und Zivilisten war die Rede. Selbst angesichts dieser Berichte sprach die Bundeskanzlerin jedoch weiterhin von der Notwendigkeit, ein „konstruktives Verhältnis“ zur Türkei zu pflegen. Dies hat beispielsweise dazu geführt, dass Deutschland und Europa vor vielen Kriegsverbrechen und offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen die Augen verschlossen haben. Gerade die deutsche mediale Berichterstattung, aber auch die politischen Stellungnahmen, trieben das Prinzip der Neutralität auf die Spitze. Wurde über die oben erwähnten militärischen Eskalationen der vergangenen Jahre berichtet, so begann und endete fast jeder Beitrag mit dem Satz, beide Parteien würden sich gegenseitig darin beschuldigen, die Eskalation provoziert zu haben. Niemand kann eine sinnvolle Antwort auf die Frage geben, warum die Armenier*innen, die ihre ersehnte Unabhängigkeit – wenn auch international nicht anerkannt – bereits hatten, einen militärisch und wirtschaftlich mehrfach überlegenen Gegner provozieren sollten. Die Annahme, Armenien würde sich eben auf die OVKS verlassen, entbehrt jeder Grundlage, denn diese Organisation hat selbst bei direkten Angriffen auf das armenische Staatsgebiet niemals eine nennenswerte Reaktion gezeigt. Dennoch hielt die Bundesregierung auch nach dem jüngsten Angriff Aserbaidschans auf Armenien, nachdem sogar Nancy Pelosi nach Armenien reiste und die Aggression Aserbaidschans klar verurteilt hat, bis zuletzt an der These fest, es könne mangels „unabhängiger Beobachter“ vor Ort nicht festgestellt werden, von welcher Seite die Aggression ausgegangen sei. Mehr noch, als die Parlamentarische Versammlung des Europarates die Aggression Aserbaidschans gegen das souveräne Territorium Armeniens mit einer Resolution verurteilte, hat keiner der deutschen Abgeordneten diese Erklärung mitgetragen. Dies hat fatale Folgen: Indem man den Krieg anstelle von diplomatischen Bemühungen als Konfliktlösung „akzeptierte“, wurde Aserbaidschan indirekt dazu ermutigt, seine militärischen Erfolge „auszubauen“. So kündigte Machthaber Alijew kürzlich die „Rückkehr“ der Aserbaidschaner in ihre „historische Heimat“ an. Gemeint ist damit Armenien, das in den aserbaidschanischen Medien immer wieder als „West-Aserbaidschan“ bezeichnet wird. Es wird sogar mit möglichen Szenarien spekuliert, was die Folgen einer militärischen Intervention Aserbaidschans in Armenien sein könnten. Einig scheint man sich jedenfalls darin zu sein, dass es zu keiner so massiven Reaktion des Westens kommen würde wie dies in der Ukraine der Fall ist.
Reaktionen aus der Wissenschaft
z|o: Wie können, wie sollten Wissenschaftler*innen auf diesen Krieg reagieren? Gibt es ähnlich, wie seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine, Hilfe für geflüchtete Wissenschaftler*innen etwa aus Armenien oder Mitgliedern der Opposition in Aserbaidschan?
AM: Anders als beim russischen Angriffskrieg in der Ukraine, bei dem der Aggressor unmissverständlich benannt wird, wird im Falle des aserbaidschanischen Angriffs auf Berg-Karabach und Armenien auf solch klare Deutungen verzichtet. Ein Umdenken auf politischer Ebene ist daher nur schwer zu erzielen, zumal sich die EU derzeit auf abenteuerliche Weise von aserbaidschanischem Gas abhängig macht. Im wissenschaftlichen Bereich kann und muss jedoch manches anders laufen – darum ging es letztlich in der oben erwähnten Petition. Selbst wenn eine vergleichbare Unterstützung für armenische oder aserbaidschanische Wissenschaftler*innen in Deutschland nicht gegeben ist, sollte dennoch der Aufbau einer fundierten Kaukasusforschung in Kooperation mit den betroffenen Ländern auf Augenhöhe das Ziel sein. In der aktuellen Situation ist es jedoch zunächst wichtig, sich klar gegen die Aggression Aserbaidschans, gegen die Zerstörung des armenischen Kulturerbes und in diesem Zusammenhang auch gegen den Geschichtsrevisionismus zu positionieren. Angesichts der in Aserbaidschan derzeit zu beobachtenden Tendenz, die Geschichte zur Rechtfertigung der Aggression gegen Armenien bzw. zur Formulierung territorialer Ansprüche heranzuziehen, liegt es in der Verantwortung der Expertinnen und Experten für die Region zu verhindern, dass falsche Narrative Eingang in die Forschung finden. Auch hierfür bedarf es einer stärkeren Zusammenarbeit und des Austauschs.
Der vergessene Krieg
Der Konflikt um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan