In diesen Tagen jährt sich der Beginn der nationalsozialistischen Machtübernahme zum 90. Mal. Eigentlich wissen wir schon eine Menge darüber. Wir wissen, dass es keine „Machtergreifung“ war, sondern Hitler die Macht auf legalem Wege errang. Wir wissen, wie sich das Regime immer weiter radikalisierte und die Verfassung von Weimar aus dem Weg räumte. Und wir wissen, wie viele Deutsche den neuen NS-Staat begrüßten und dem „Führer“ entgegenarbeiteten, obwohl das Regime von Beginn an sein brutales Antlitz zeigte. Und dennoch lohnt sich Volker Heises neuer Dokumentarfilm „Berlin 1933 – Tagebuch einer Großstadt“. Er erzählt keine gänzlich neue Geschichte, aber er erzählt sie auf bemerkenswerte Weise.
Der 180-minütige, zweiteilige Film ist wie ein Tagebuch aufgebaut. Tag für Tag nimmt er uns mit durch das Jahr 1933. Bedrohlich schreitet er den berühmten-berüchtigten Daten dieses Jahres entgegen: der Machtübertragung am 30. Januar, dem Reichstagsbrand am 27. Februar, dem Ermächtigungsgesetz am 24. März. Auf diese Weise wird noch einmal deutlich, wie rasend schnell sich die Diktatur etablierte. Dass die Demokratie schon vor 1933 sehr bedroht und durch die Notverordnungen teilweise schon außer Kraft gesetzt worden war, kommt durch den alleinigen Fokus auf das Jahr 1933 etwas kurz. Das Tagebuch wird erst am 1. Januar 1933 aufgeschlagen.
Der Tagebuchcharakter des Films zeigt sich auch im verwendeten Material. So treten keinerlei Zeitzeug:innen und Expert:innen auf, die aus heutiger Perspektive erzählen. Es gibt auch keinen allwissenden Kommentar aus dem Off, der die historischen Entwicklungen analytisch einordnet. Volker Heise verlässt sich vielmehr komplett auf die zeitgenössische Perspektive und überlässt den Menschen von 1933 die Erzählung. Hierfür hat er Tagebücher ausgewählt, die damals geschrieben wurden und nun für den Film eingesprochen worden sind. Zitiert wird aus etwa einem Dutzend Tagebüchern, die die Bandbreite der deutschen Gesellschaft von 1933 repräsentieren sollen. Wir hören einen Karrieristen, der sich dem neuen Regime immer weiter andient, eine ganz normale Hausfrau, die vor allem Banalitäten aus ihrem Alltag notiert, aber auch eine jüdische Ärztin, die alsbald aus ihrer Klinik entlassen wird. Zugleich zitiert Volker Heise auch aus den Tagebüchern prominenterer Zeitgenossen wie Joseph Goebbels, der sich an seiner neuen Macht berauscht, oder Harry Graf Kessler, der vor den Nazis ins Exil nach Paris flieht.
Die Kompilation von Tagebucheinträgen zum Filmnarrativ ist nicht neu. Vor drei Jahren hat Volker Heise mit „Berlin 1945“ bereits einen ganz ähnlichen Film gemacht, der das Ende der NS-Diktatur beschreibt. Jetzt wollte er „an den Anfang dieser Zurichtung gehen“, wie er bei der Premiere seines neuen Films erläuterte. Das Verfahren hat seine Vorteile: Da immer wieder aus denselben Tagebüchern zitiert wird, lernen wir ihre Verfasser:innen im Laufe des Films zunehmend kennen und erleben mit ihnen die Geschichte des Jahres 1933. Zugleich erfahren wir die Begrenztheit ihrer Perspektive, denn im Gegensatz zu uns wussten die Menschen damals ja nicht, was noch alles passieren wird. Auf diese Weise bekommt man einen Sinn für die Offenheit der Geschichte.
Das Tagebuchnarrativ hat aber auch seine Tücken. Zu vielen Protagonist:innen gibt es bis auf ein paar Portraitfotografien und Fotos aus Familienalben kaum historisches Bildmaterial. Deshalb unterlegt Volker Heise die eingesprochenen Tagebucheinträge vielfach mit gänzlich fremdem Filmmaterial aus den 1930er Jahren. Bild und Ton gehören oft gar nicht zusammen. So entsteht eine Collage, die durchaus kraftvoll ist, aber den wissenschaftlichen Ansprüchen an eine Visual History nicht gerecht wird. Doch Volker Heise möchte auch kein Historiker sein, wie er ganz offen zugibt. Sein Dokumentarfilm ist eher eine künstlerische Montage. Dazu passen auch die dräuenden Klavieranschläge, die an den Soundtrack von „Babylon Berlin“ erinnern.
Apropos Berlin: Die Stadt bildet den räumlichen Rahmen für den Film. Es geht dabei nicht nur um die große Politik in der Reichshauptstadt, sondern auch um die Frage, was 1933 mit der Stadtgesellschaft geschah. Immer wieder zeigt Heise ganz alltägliche Aufnahmen aus der Großstadt. Doch im Laufe des Jahres 1933 gab es kaum mehr „unschuldige“ Filmaufnahmen. Im Zuge der Gleichschaltung der Medien entstand seit dem Frühjahr 1933 fast nur noch Propagandamaterial im Dienst des Regimes. Volker Heise ist sich dieses Problems wohl bewusst. Seine Montage dient auch dazu, das Propagandamaterial „wie mit dem Hammer“ zu zertrümmern und neu anzuordnen. Nur manchmal lässt er die Propagandabilder bewusst lange laufen, damit sie sich selbst entlarven. So sehen wir, wie unsicher Hitler unmittelbar vor seiner Rede im Berliner Sportpalast mit dem Manuskript hantiert, bevor er die Macht im Saal übernimmt, der ihm frenetisch zujubelt. Allein diese Szene verrät viel von dem, was 1933 in Berlin geschah.
Sendetermine:
Di., 24.1., 20.15 Uhr auf arte (Teil 1/2)
Sa., 28.1., 20.15 Uhr im rbb (Teil 1/2)
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Berlin 1933 – Tagebuch einer Großstadt
Der neue Film von Volker Heise