„Auf Augenhöhe“ – Putin, Stalin und die russische Außenpolitik

In der Geschichtsschreibung zur europäischen Zwischenkriegszeit gilt das Abkommen von München im September 1938 als eine der entscheidenden Zäsuren. München war der Höhepunkt der britischen Appeasementpolitik Neville Chamberlains, bedeutete das Ende der Bemühungen um ein System kollektiver Sicherheit in Europa und gab den Auftakt für jene verhängnisvolle deutsch-sowjetische Annäherung, die in den Zweiten Weltkrieg führte. „Es ist leider so“, konstatierte der sowjetische Außenkommissar Maxim Litwinow Ende der dreißiger Jahre, „dass die Kräfte, die für den Frieden stehen, weniger resolut, weniger energisch und weniger vereint sind, als die Kräfte, die ihnen gegenüberstehen“[1].

Für Litwinow hatte das Abkommen von München persönliche Konsequenzen. Seine Tage als Außenkommissar waren gezählt, ebenso wie die der Politik einer Annäherung an den Westen, die er überzeugend vertreten hatte, ohne sich jemals der uneingeschränkten Unterstützung Stalins sicher zu sein. Stalin verhandelte mit dem Westen, gleichzeitig verhandelte er, selbst nach dem Machtantritt Hitlers, weiter mit Deutschland; über Sonderemissäre wie Dawid Kandelaki und auf der Wirtschaftsebene. Nach München entschied sich Stalin für den Weg zum Hitler-Stalin-Pakt, auch weil ihm der Westen, insbesondere Großbritannien, zu verstehen gegeben hatte, dass der Führer der bolschewistischen Sowjetunion nicht uneingeschränkt zum Kreis der europäischen Mächte gehörte.

Dass neben der Sowjetunion auch die Tschechoslowakei, der vom Abkommen wirklich betroffene Staat, nicht nach München eingeladen worden war – Hitler und Mussolini saßen am Verhandlungstisch – hätte Stalin nicht gestört, sein „leerer Stuhl“ aber war die öffentliche Demontage des beanspruchten Großmachtstatus, die, darüber hinaus, Moskau an der Zukunft eines tatkräftigen Bündnisses gegen Hitler zweifeln ließ. Stalin war bloßgestellt, und nichts brachte die tiefe politische Kränkung besser zum Ausdruck als die berühmte Karikatur des Briten David Low, auf der Chamberlain und Daladier schwach und beschämt dem Blick des übergroß gezeichneten Stalin auszuweichen versuchen, während sie mit den kraftstrotzenden Diktatoren Hitler und Mussolini um den Globus versammelt sind. „Was, kein Stuhl für mich?“ war die Frage, die Stalin an die Versammelten richtete.

Historische Analogieschlüsse sind trickreich und HistorikerInnen sind zu Recht davor gewarnt, sie als rhetorischen Kniff, vor allem aber als Analyseinstrument zu strapazieren. Stalin wandte sich nach München Hitler zu – eine denkbar schlechte Option, die derzeit für Putin nicht „zur Wahl“ steht und somit einen wesentlichen Unterschied markiert. Dennoch lohnt ein Blick in die „München-Phase“ der europäischen Politik für das Gegenwartsverständnis der europäischen, der russischen und der persönlichen Politik Wladimir Putins, dem gern eine gewisse Nähe zu stalinistischen Methoden und Kräftespielen nachgesagt wird. Innenpolitisch liegt Putin nichts ferner als sich am historischen Modell des Massenterrors zu orientieren. Dass politische Gegner, Bewegungen, unliebsame Konkurrenten und Oppositionelle verfolgt, inhaftiert und „gesäubert“ werden, ist kein Spezifikum der Herrschaft Stalins, sondern war auch unter dessen Nachfolgern gängige Praxis im Kalten Krieg. Man denke nur an das tödliche Attentat auf den bulgarischen Dissidenten Georgi Markow in dessen Londoner Exil durch eine mit Rizin vergiftete Regenschirmspitze des KGB (1978). Im Hinblick auf die Geschichte des Stalinschen Massenterror hat Putin eine hoch problematische, für seinen Machterhalt offenbar aber funktionierende Balance gefunden. Der Terror wird nicht geleugnet, Putin hat sich öffentlich mehrmals distanziert. Gleichzeitig werden NGOs und zivilgesellschaftliche Vereine wie die hoch verdienstvolle Organisation „Memorial“ diffamiert und in ihrer Arbeit systematisch behindert.

Im Hinblick auf die Außen- und die europäische Politik Putins ist der Bezug zu den dreißiger Jahren lohnender. Die gegenwärtige russische Geschichtspolitik inszeniert Stalin als siegreichen außenpolitischen Führer in Zeiten europäischer Krisen, Kriege und des Niedergangs der westlichen Demokratien. Putin empfiehlt sich gern in dieser Traditionslinie. Der Westen, d. h. die Europäische Union und die NATO seit 1990, haben es ihm dabei erstaunlich leicht gemacht. Kulturelle Stereotype, tief verwurzelte Vorurteile, Misstrauen und ein grundstürzendes Überlegenheitsverhalten, von dem der sowjetische Botschafter in London, Iwan Maiski, schon in den 1930er Jahren in seinem Tagebuch seitenlang zu berichten wusste, haben den Umgang mit Russland auch nach dem Kalten Krieg tatsächlich geprägt.[2] Für die Beziehungen nach Osteuropa und nach Moskau waren sie verheerend. Putin ist es gelungen, die weit verbreiteten kollektiven Demütigungs- und Kränkungserfahrungen geschickt in die eigene außenpolitische Stärke und Überlegenheitsdiskurse zu verwandeln. Dafür wird er mittlerweile sogar in jenen Ländern Osteuropas verehrt, die jahrzehntelang unter der sowjetischen Besatzung gelitten haben, nun aber ihre Kolonialisierung durch die EU beklagen. Dieser nicht völlig unberechtigten Lesart zufolge hat der Westen den Osten, aller öffentlichen Beteuerungen zum Trotz, niemals als gleichberechtigten Partner akzeptiert. Nach der Wahl am 18. März wird Putin die Kränkungsgeschichte Russlands und Osteuropas weiterhin bedienen und in seinem Sinne zu nutzen wissen. Strategisch an China und der Türkei ausgerichtet, werden die globalen Verteilungskämpfe der Gegenwart auch gegen die Europäische Union, wie derzeit auf dem Balkan beobachtet werden kann, geführt werden. Die Wahrung und – in Putins Augen – „Rückgewinnung“ territorialer Sicherheitszonen in Ost- und Südosteuropa steht dabei im Vordergrund. In diesem Sinne ist er ein gelehriger Schüler Stalins. Jede außenpolitische Kooperation, jedes Bündnis und jede Zusammenarbeit dienen diesem Ziel. Zur Münchner Konferenz im September 1938 war Stalin nicht eingeladen. Gut sechs Jahre später, im Februar 1945, saß er in Jalta am Verhandlungstisch, nachdem er sich mit Winston Churchill im berüchtigten Percentages agreement über die Aufteilung Ost- und Südosteuropas einig geworden war.


[1] So zitiert bei: Arthur Upham Pope, Maxim Litvinoff, New York: Fischer Publishing 1943, S. 424. [eigene Übersetzung]. 
[2] Die Maiski-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932-1943, hrsg. von Gabriel Gorodetsky, München: C. H. Beck, 2016, S. 143, 201, passim.

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