Queere Zeitgeschichte

Einleitung

Das Dossier zur Queeren Zeitgeschichte entstand auf Initiative und unter redaktioneller Leitung von Alina Müller.

 

Bald 20 Jahre ist dieser [siehe Artikelbild] Straßenprotest einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Inter*, Trans*, Schwulen, Lesben und anderen queeren Menschen in Berlin her. Die Aktion fand 2005 anlässlich eines Symposiums für Kinder- und Jugendgynäkologie statt, auf dem Ärzt*innen kosmetische Genitaloperationen an intergeschlechtlichen Kindern erneut als medizinisch geboten darstellten. Obwohl intergeschlechtliche Menschen in der Bundesrepublik schon seit Mitte der 1990er Jahre die Eingriffe eindringlich als traumatisierend und als Menschenrechtsverletzung kritisiert hatten.[1]

Die Norm der Zweigeschlechtlichkeit ist bis in die Gegenwart wirkmächtig und gewaltvoll. Das zeigt sich auch an den aktuellen Zahlen zu homo- und transfeindlichen Gewalttaten. Wie sich diese Norm in der Zeit seit 1945 ausprägte und wandelte, das ist eine zentrale Frage der queeren Zeitgeschichte. Queere Zeitgeschichte macht Geschlecht, Sexualität, Familie und Privatheit als nur scheinbar stabile Sedimente einer heteronormativen Ordnung einsichtig. Sie dekonstruiert und denaturalisiert diese Kategorien, das scheinbar Selbstverständliche wird zweifelhaft. Zu diesem Projekt gehört auch die historische Aufmerksamkeit für „intersektionale“ Konstellationen, in denen sich verschiedene Ungleichheitserfahrungen, sexistische, rassistische, klassistische etc. Diskriminierungen überlagern.[2]

Grundsätzlich sollte sich Queere Zeitgeschichte unserer Meinung nach am „thinking from the margins“ orientieren und vielfältigen sozialen Ausschlussmechanismen in ihrer Verwobenheit nachgehen, wie sie nicht nur in der „Mehrheitsgesellschaft“, sondern auch in und durch queere Communities reproduziert werden. Dass sie diesem Anspruch nicht immer gerecht wird, zeigt sich etwa daran, dass in der queeren zeithistorischen Forschung Inter*, also Menschen, die mit Variationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale geboren sind, nicht systematisch mitgedacht werden. Dabei offenbart sich gerade am gesellschaftlichen Umgang mit Inter*, wie wirkmächtig soziale Ängste vor Homosexualität und vor „Abweichungen“ vom männlich/weiblich-Raster sind.

Was für Inter* gilt, gilt auch für eine Reihe anderer Themen wie Asexualität, BPOC-Queers (also Black und People of Colour) und Queers mit Migrationsgeschichte, Trans* etc. Queere Zeitgeschichte beginnt erst nach und nach, sich für diese vermeintlich randständigen Themen innerhalb eines ohnehin randständigen Forschungsgebiets zu interessieren. Auf einige dieser noch kaum erforschten Aspekte gehen die Beiträge in diesem Dossier mit Fokus auf die west- und ostdeutsche Zeitgeschichte ein [Beitrag Asefi].

Queere Zeitgeschichte umfasst historische Forschung, die sich auseinandersetzt mit den Erfahrungen, Alltagspraktiken, Selbstverhältnissen, Begehrensformen, sexuellen Praktiken, Subkulturen und politischen Aktivitäten, auch Erinnerungspolitiken [Beitrag Tremblay], von Menschen, die sich mit den Buchstaben LSBTIQ* identifizieren können.[3] Sie interessiert sich darüber hinaus für all jene, die aus dem engen Rahmen heteronormativer Lebensentwürfe herausfallen [Beiträge Rottmann und Kunz/Nolte]. Repression, Verfolgung, Diskriminierung aufgrund der Assoziation mit der sogenannten „Lustseuche Aids“ erfuhren beispielsweise auch Junkies in den 1980er Jahren [Beitrag Januschke/Klöppel]. Und Menschen, die sich als heterosexuell begreifen, stellen unter Schlagwörtern wie „Gruppensex“ oder „Mehrfachbeziehungen“ seit den 1970er Jahren die monogame Ordnung in Frage.

Dieser weit gefasste Begriff von queer geht auch mit einem erweiterten Politik-Verständnis einher [Beitrag Wittrock]. In diesem Sinne bezieht die Analyse queerer politischer und aktivistischer Strategien auch Mikropolitiken, „eigensinnige“ und „messy“ Praktiken ein. Diese waren/sind zwar nicht unbedingt als politischer Protest intendiert, aber dennoch konnten/können sie die Kultur der Heteronormativität herausfordern und unterwandern.[4]

Da die historische Überlieferung gerade zu den Praktiken und Lebenswelten von gesellschaftlich marginalisierten Menschen, teils wegen ihrer versteckten Lebensführung, teils wegen des Desinteresses der großen Archive, bestenfalls lückenhaft ist, gehört zur Queeren Zeitgeschichte die Sensibilität für das Ungesagte oder das Angedeutete sowie das Hinterfragen von Leerstellen [Beitrag Klugbauer].[5] Ein selbstreflexiver Umgang mit den materiellen Bedingungen des eigenen Forschens und den oft eingeschränkten Möglichkeiten, dem Vergangenen gerecht zu werden, gehört (auch) für die Queere Zeitgeschichte zu den basics. Methoden kollaborativen Forschens etwa in der Oral History bieten sich daher, soweit möglich, auch für die Queere Zeitgeschichte an [Beitrag Binder/Gammerl].

Queere Perspektiven verändern die west- und ostdeutsche Zeitgeschichte allgemein. Sie sorgen für ein vielfältigeres Gesellschaftsbild und analysieren die Herausbildung und Funktion von Normen sowie von Machtbeziehungen zwischen der vermeintlichen gesellschaftlichen Mitte und ihren Rändern. Queere Zeitgeschichte beschreibt also in kritischer Absicht Praktiken der Homogenisierung, des Ausschlusses etc., die gesellschaftliche Normalität herstellen und stabilisieren. Das historiographische Verstehen dieser Mechanismen ermöglicht ein Hinterfragen des scheinbar Selbstverständlichen.

Indem Queere Zeitgeschichte Wechselwirkungen zwischen queeren Praktiken, Existenzen und Lebensweisen auf der einen und Demokratisierung, Diversifizierung sowie anderen gesellschaftlichen Transformationsprozessen auf der anderen Seite auslotet, trägt sie bei zu einer kritischen Reflexion gängiger historischer Narrative wie Liberalisierung, Individualisierung, Flexibilisierung von Lebensverhältnissen, Pluralisierung oder Normalisierung. Queere Perspektiven helfen der deutschen Zeitgeschichte, der Komplexität ihres Gegenstands gerecht zu werden.

 


[1] AG 1-0-1 intersex: 1-0-1 [One 'O One] Intersex. Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung. Dokumentation, Berlin: NGBK 2006.
[2] Begriff und Konzept der Intersektionalität gehen zurück auf die afroamerikanische Juristin Kimberlé Williams Crenshaw. Siehe z.B. Sumi Cho, Kimberlé Williams Crenshaw, and Leslie McCall: Toward a Field of Intersectionality Studies. Theory, Applications, and Praxis, in: Signs, 38 (2013), 4, 785–810.
[3] Vgl. zu dieser Debatte insbesondere Elisa Heinrich und Johann Karl Kirchknopf: Editorial. Homosexualitäten revisited, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 29 (2019), 2, 5-18; sowie Jennifer Evans: Introduction. Why Queer German History?, in: German History, 34 (2016), 3, 371-384.
[4] Vgl. Sara Ahmed: Willful Subjects, Durham: Duke University Press 2014; Martin F. Manalansan IV: The ‘Stuff’ of Archives. Mess, Migration, and Queer Lives, in: Radical History Review, 120 (2014), 94-107.
[5] Vgl. José Esteban Muñoz: Ephemera as Evidence. Introductory Notes to Queer Acts, in: Women & Performance, 8 (1996), 2, 5-16.

 

 

Methoden queeren Forschens

von
Beate Binder

von
Benno Gammerl

Queere Methoden – der Begriff ist ebenso unklar wie widersprüchlich. Wie kann so etwas wie Methoden, die für Ordnung und Übersichtlichkeit stehen, mit queer in Verbindung gebracht werden, also mit den damit verbundenen flüchtigen, widerspenstigen Praktiken und Subjektpositionen oder gar mit einem Theoriekorpus, der alle normativen Setzungen zu unterlaufen verspricht? Zunächst ließe sich vermuten, dass queeres Forschen sich mit queeren Themen, Lebensweisen und Selbstverständnissen beschäftigt – so wie sich die historische Forschung mit der Vergangenheit auseinandersetzt. Warum sollten dazu andere als die etablierten Methoden des archivalischen, historischen oder ethnographischen Forschens notwendig sein? So einfach liegen die Dinge jedoch nicht. Genauso wenig wie die Geschichtswissenschaft schlicht Vergangenes erzählt, beschreibt queere Forschung lediglich queere Lebensweisen. Schon lange ist queer nicht mehr nur ein Adjektiv, das im Sinne von LSBTIA* ein Feld von Subjektpositionen bezeichnet. Häufig wird queeren auch als Verb gebraucht, das ein aktives Tun meint – zum Beispiel im Umgang mit Methoden und dem Forschen selbst. Es geht also darum, die Art und Weise zu queeren, wie sich Forscher*innen den Feldern ihres Interesses nähern und ihre Themen erkunden.

Wie so oft fällt es viel leichter zu sagen, was queere Methoden nicht sind: Es wird damit weder ein klar begrenzter Werkzeugkasten anzuwendender Verfahren bezeichnet, noch sind queere Methoden positivistisch, heißt, sie sind nicht darauf ausgerichtet, Wirklichkeit einfach abzubilden. Genauso wenig wollen queere Methoden Forschende dabei unterstützen, einen Sachverhalt festzuhalten. Vielmehr bringen sie Unordnung in das Verhältnis von Forschungsgegenstand und Forscher*in, befragen Vermutungen und als selbstverständlich geltenden Ausgangspunkte, interessieren sich für die Unwägbarkeiten und Leerstellen des Forschungsprozesses. Sie legen auch die Möglichkeit ‚anderer‘ Deutungen nahe, indem sie etwa zum Spekulieren anregen. Damit durchkreuzt queeres Forschen mit großer Vehemenz die Vorstellung, dass empirische Erhebungen und historische bzw. gegenwartsorientierte Analysen vollständig kontrollierbar seien. Vor allem aber verabschiedet es sich von der Annahme, dass Forschende von außen, von einer unabhängigen Beobachtungsposition auf ihren Gegenstand schauen könnten.

In all dem ähneln queere Methoden anderen kritischen Herangehensweisen, wie sie in der Geschichtswissenschaft und den Ethnologien genutzt und diskutiert werden. Auch hier gehen avancierte Forschungen davon aus, dass die temporalen und lokalisierten Kontexte, in denen die Forschenden arbeiten, ihre Ergebnisse prägen. Es handelt sich also nicht um ein für alle Mal festgestelltes Wissen, sondern um situierte Deutungen. Insofern ist es nur logisch, dass sich eine Kulturanthropologin und ein Historiker zusammengetan haben, um diesen Text zu schreiben. Zusammen wollen wir einige Momente diskutieren, die sich hinter dem Schlagwort der Methoden queeren Forschens verbergen.

 

Das empirische Feld ist klüger als die Forscher*in

Queeres Forschen hat inzwischen eine – wenn auch unübersichtliche – Geschichte.[1] Es handelt sich nicht um ein geschlossenes Wissensfeld. Vielmehr versammeln sich hinter der Queer Theory eine Vielzahl an Interventionen in bestehende Denk- und Arbeitsweisen. Angesichts der unterschiedlichen politischen wie disziplinären Kontexte, aus denen sich der Corpus Queerer Theorien entwickelt hat, kann als queer zunächst jede Forschung bezeichnet werden, die sich im Rahmen queer-theoretischer Überlegungen und Konzeptionen bewegt. Das alles sagt jedoch noch nichts über forschungspraktische und empirische Strategien. Dieser Lücke sind in den letzten Jahren einige Sammelbände begegnet, die versuchen, queeres Forschen und die Erfahrungen mit queeren Methoden systematischer zu reflektieren.[2] Die Frage ist inzwischen nicht mehr (allein), was Queer Theory ist, sondern wie sie getan, wie mit ihr geforscht werden kann. Manche Forscher*innen befürchten, dass die Hinwendung zu Methoden eine Rückkehr zu disziplinären Zwängen impliziert, dass sie einer Einhegung der Queer Theory gleichkommt und damit der eigenen Phantasie widerspricht, antidisziplinär und wild zu sein.

Doch auch ein methodisch-reflektiertes queeres Forschen will die Phänomene nicht beherrschen, mit denen es sich auseinandersetzt. Vielmehr steht es für eine dynamische Interaktion zwischen Fragestellungen und empirischen Materialien oder Beobachtungen. Diese Interaktion wirbelt einige Dinge durcheinander und regt zum Zweifeln an, auch am Glauben der Forschenden, sich selbst zu kennen und zu verstehen. Es gibt viele gute Gründe, sich in diesem Sinn empirisch – historisch oder ethnographisch – der Vielfalt an Lebenswelten zu nähern, etwa um zu verstehen, wie Hetero- und Homonormativität im Alltag funktionieren, oder um der Komplexität und Vielfalt gelebter Leben, Vorstellungen und Subjektpositionen gerecht zu werden.[3] Ein gutes Beispiel dafür ist die Vervielfältigung der Perspektiven auf geschlechtliche Identitäten. Zunächst kritisierten queere Ansätze die Unterscheidung zwischen biologischem sex und sozialem gender, dann machten empirische Forschungen zu Drag und Performativität, zu Trans* und embodiment, zu Subjektformationen und intersektionalen Verflechtungen, zu biologischen Variationen sowie zu historischen Ambivalenzen nicht nur die Unterscheidung zwischen sex und gender, sondern auch die Differenz zwischen Femininität und Maskulinität immer fraglicher.[4]

Empirische Methoden sind im queeren Sinn also keine Mittel zur Verifizierung, sondern Modi der Annäherung, die Überraschungen ermöglichen, unerwartete Perspektiven eröffnen, festgefügte Kategorien durchkreuzen und Dinge in Bewegung bringen. Deswegen ist für queeres Forschen eine radikale Offenheit für das unerlässlich, was Archiv-Dokumente, Interviews und Notizen aus dem Feld usw. zu sagen haben. Grundsätzlich geht es darum, sich im forschenden Kontakt berühren zu lassen und sich die Hände schmutzig zu machen durch empirisches Suchen, auch an Orten jenseits der eigenen Wohlfühlzone.[5] Um eine solche Offenheit zu entwickeln, ist es nötig, eigene Vorannahmen zu reflektieren, theoretische Konzepte immer wieder auf ihre Implikationen zu befragen, vor allem aber kritisch mit etablierten Deutungsmustern und standardisierten Erzählungen umzugehen. Es gilt auch, der vielfältigen Machtstrukturen in ihrer interdependenten Verwobenheit gewahr zu sein, die sich in Forschungsfeldern kreuzen. Kurz: Gefragt ist eine erhöhte – radikale – Reflexivität. Ein Ansatz, der daher in queerer Forschung viel Anklang findet, ist die grounded theory. Mit ihrem induktiven – von den Beobachtungen und Aussagen ausgehenden – Vorgehen können Forschende in reflexiver Manier auf die Materialien ‚hören‘, mit denen sie arbeiten, ohne sie vorschnell durch eigene Vorannahmen zu strukturieren oder in theoretische Konzepte einzupassen.[6] Aus dem Material heraus, dessen Eigenlogiken folgend, sollen Begriffe und Lesarten entwickelt werden, die Ambivalenzen ernst nehmen und so nicht nur die Denkmuster der Forschenden, sondern auch deren Selbstverständnis in Frage stellen können.

Ein Beispiel aus Benno Gammerls Arbeit mit Oral-History Interviews: In meiner Studie zum Gefühlsleben gleichgeschlechtlich begehrender Menschen in der Bundesrepublik erschien mir eine Erzählperson, Frau Opitz, zunächst als ängstlich und unsicher, weil ihre Geschichte nicht in der Etablierung einer stabilen lesbischen Identität gipfelte. Nach Relektüren des Transkripts und meiner Notizen erwies sich jedoch, dass in der Interaktion zwischen uns beiden zwei einander widersprechende Lesarten der Unsicherheit aufeinanderprallten: Unsicherheit als Schwäche oder als Stärke. Frau Opitz legte sich nicht auf eine Identität fest, weil sie das nicht wollte und weil sie stark genug war, den Identifikationserwartungen ihrer Umgebung nicht zu entsprechen. Ich dagegen hatte mich so sehr an genau diese Erwartungen gewöhnt, dass ich ihr Lavieren als ängstliches Zögern auslegte. Nur abermaliges Nachdenken und Hinhören bewahrten mich davor, Frau Opitz Geschichte im Sinne meiner eigenen Beschränktheit misszuverstehen.[7]

Für die Offenheit gegenüber dem Forschungsmaterial ist es also unerlässlich, den eigenen Standpunkt immer wieder zu hinterfragen. Das ist gemeint, wenn in queer-feministischen oder queer-antirassistischen Debatten von der Positionalität der Forschenden die Rede ist. Das scheint uns auch deshalb so wichtig, weil queer-theoretisch angelegte Studien Deutungen bereitstellen, die etwas ‚tun‘, die Einfluss darauf nehmen, wie die Welt sich verändert, wie Menschen in ihren Umgebungen handeln, wie Dinge und der Lauf der Zeit wahrgenommen werden. Die Konzepte und Methoden, die wir nutzen, um über historische wie gegenwärtige Lebensweisen zu berichten sowie um die Praktiken von Akteur*innen zu interpretieren, strukturieren Wirklichkeiten.[8] Das bedeutet jedoch weder, dass wir uns jeder Deutung von Welt enthalten sollten, noch dass das bloße Offenlegen der eigenen Positionalität einen unvoreingenommen(er)en Blick auf die Welt möglich machen würde. Subjektivität ist bei der Produktion von Wissen kein Problem, das es möglichst geschickt zu umschiffen gilt. Positionierte Perspektiven ermöglichen vielmehr spezifische Einsichten, die zur Diskussion gestellt werden können und mit ihrer sorgfältigen Darlegung überhaupt eine Auseinandersetzung erst ermöglichen.[9]

Dieses Verständnis einer positionierten Objektivität, die subjektives Erleben (auch das eigene) ernst nimmt, trägt dazu bei, besser zu verstehen, wie Menschen die Welt gestalten, begreifen und mit ihr umgehen. Insofern wäre es auch irrig, die affektiven Bezüge, die sich zwischen Forschenden und den Materialien, mit denen sie arbeiten, oft ergeben, als Störquellen zu begreifen, die die Ergebnisse zu verzerren drohen. Selbstverständlich prägen sie unsere Wahrnehmung des ‚Gegenstands‘, aber das tun auch desinteressierte oder gelangweilte Perspektiven. Jede Betrachtung verändert das Betrachtete, und nur indem wir darüber gewissenhaft nachdenken – auch in unserem Schreiben – können wir aus diesen subjektiven Bezügen spannende Einsichten gewinnen.

 

Forschen als Zusammenarbeiten

Queeres Forschen meint jedoch mehr, als die Beziehung zwischen Forschenden und Forschungsgegenständen zu befragen. Es ist ein wichtiger Schritt, die Deutungsmacht von Forschenden zu destabilisieren und durch möglichst umfassende Transparenz und Reflexivität eigene Forschungen einer Kritik zugänglich zu machen. Davon bleibt der Abstand zwischen – im Akademischen lokalisiertem – Forschen und – politischer, aktivistischer, künstlerischer – Praxis zunächst unberührt. Dieser verhindert häufig ein mutiges und originelles Experimentieren mit unterschiedlichen Methoden, ermöglicht andererseits aber auch distanzierende Befremdung, in der sich Analyse entfalten kann. Damit diese nicht über Forschungskontexte und deren Akteur*innen hinweg geht, werden gegenwärtig unterschiedliche Formen des Austauschs und der Verständigung diskutiert und erprobt. Kollaboration – das Zusammenarbeiten mit den Beforschten, mit Künstler*innen, Aktivist*innen – ist ein zentrales Thema der gegenwärtigen Debatten um ein Queeren der Forschung. In den Ethnologien ist es eine der Grundvoraussetzungen, dass Forschende und Beforschte zusammenarbeiten. Diskutiert wird allerdings darüber, mit wem, in welchem Maß und wie dieses Zusammenarbeiten erfolgen soll. Im Kontext von queerer Forschung stellt sich diese Frage mit vielleicht noch größerer Vehemenz, denn zu lange wurden queere Subjekte zum – einflusslosen – Objekt von Forschung gemacht. Doch wie kann die aktivistische Forderung ‚Nicht ohne uns über uns‘ konkret umgesetzt und in empirisches Arbeiten übersetzt werden?

Es gibt vielfältige Antworten und praktische Beispiele, angefangen vom gemeinsamen Formulieren von Forschungsfragen und -interessen, bis hin zum Bereitstellen von Expertise und Wissen, um politische, zivilgesellschaftliche oder aktivistische Anliegen zu unterstützen. Die Diskussion von eigenen Beobachtungen und Befunden mit Beforschten ist eine weitere Möglichkeit, Wissensproduktion für vielfältige Perspektiven zu öffnen. In Gesprächen mit den (interessierten) Beforschten können sowohl Interpretationen validiert, als auch widersprechende Sichtweisen offengelegt werden, die dann – beispielsweise als Kommentare – in Publikationen einfließen. Teilweise wird dafür auch auf andere Formen der Darstellung zurückgegriffen, etwa auf Graphic Novels.[10] Der Austausch zwischen Forschenden und Beforschten über die Beobachtungen und Befunde kann aber auch die Form von Kritik annehmen. So eröffnet sich für die Beforschten ein Reflexionsraum, etwa wenn Forscher*innen in aktivistischen Kontexten beobachtete Engführungen oder problematische Routinen ansprechen.[11] Mit diesen verschiedenen Formen der Zusammenarbeit sollen einerseits Machthierarchien in der Wissensproduktion verringert und die Deutungsmacht von Forschenden aufgebrochen werden. Andererseits sollen Forschungen vielstimmiger werden. Wenn Beforschte nicht direkt in die Forschung einbezogen werden wollen oder können, ist Teamarbeit eine Möglichkeit, Vielstimmigkeit im Forschungsprozess herzustellen. Queere Forschende arbeiten daher oft nicht allein.

Auf dem historischen Feld ist das besonders augenfällig, wenn mit den Methoden der Oral History gearbeitet wird. Interviewte und Interviewende sind hier unweigerlich gemeinsam in die Ko-Produktion von Quellen und Narrativen involviert. Es wäre vollkommen sinnlos so zu tun, als hätten die Intentionen, die Tonlagen, die Blicke, die Körperhaltungen die non-verbalen Äußerungen, die Kleidung, das Auftreten usw. der Fragensteller*innen keinen Einfluss darauf, was und wie die Antwortenden erzählen. Missverständnisse und Spannungen können dabei ebenso produktiv sein wie eine familiäre Atmosphäre oder bestimmte Formen des Flirtens.[12] In jedem Fall lohnt es sich, die Effekte solcher Interaktionen analytisch ebenso ernst zu nehmen wie den Einfluss, den die Argumente und Geschichten der Interviewten auf ein Projekt haben können, indem sie die Aufmerksamkeit der Forschenden in neue Richtungen lenken. Im Fall der Oral History wird Wissen mithin unweigerlich auf verschiedenen Ebenen ko-produziert. Bei anderen Formen des historischen Forschens ist es nicht möglich, sich direkt mit Forschungssubjekten auszutauschen. Dann sind möglicherweise Diskussionen mit interessierten Gruppen über die eigene Forschung und darüber, welche Fragen in nicht-akademischen Kontexten von besonderer Relevanz sein könnten, ein guter Weg, das eigene Wissen-Wollen zu teilen und Anschlussstellen für andere zu finden.

Mit diesen Formen der Zusammenarbeit verwischen die Grenzen zwischen universitärer/akademischer und außer-universitärer, beispielsweise aktivistischer Wissensproduktion. Zugleich sollte dieses Ineinandergreifen nicht darüber hinwegtäuschen, dass akademisches Arbeiten, Forschen und Darstellen weiterhin eigenen Regeln gehorcht, etwa mit Blick auf disziplinäre Logiken, auf das Transparentmachen von methodischem Vorgehen und auf die Einbettung in bereits bestehende Forschung. Oft wird queerer – insbesondere engagierter – Forschung ein Mangel an Distanz, an Objektivität vorgeworfen. Wie bereits deutlich geworden sein sollte, sehen wir allerdings in der größeren Nähe und Offenheit zwischen akademischem Forschen und aktivistischen, künstlerischen und anderen Formen der Wissensproduktion ein spezifisches methodisches Potential, eine Möglichkeit, das Forschen als Zusammenarbeiten bewusst vielstimmiger zu gestalten.

 

Forschen, Schreiben, Spekulieren

Grundsätzlich geht es queerem Forschen nicht nur darum, neues Wissen zu produzieren, andere Lebensweisen und das „doing otherwise“ zu entdecken, etwa Formen widerständigen, gegen den allgemeinen Common Sense gerichteten Handelns oder Lebensentwürfe, die sich gesellschaftlichen Erwartungshaltungen nicht fügen wollen. Queere Forschung will auch etwas bewirken.[13] Sei es durch Texte, die in Arenen der Auseinandersetzung eintreten,[14] sei es durch das Anlegen neuer Archive, sei es durch das Bereitstellen von Wissen für politisches und aktivistisches Engagement. Den wirklichen Herausforderungen begegnet queeres Forschen jedoch dort, wo wir auf die Lücken stoßen, die der heteronormative Wille zur Ignoranz in den Archiven hinterlassen hat, oder auch die fehlende Sprache für das Darstellen nicht-normativer Lebensweisen. Es geht bei queeren Methoden daher immer auch darum, erfinderisch zu sein und bislang nicht anerkannte Quellen ernst zu nehmen. Wo die Spuren des ‚anderen Lebens‘ nicht erkannt, sondern allenfalls erahnt werden können, gilt es, zu spekulieren, zu fabulieren, mit den losen Fäden zu spielen, die in der Luft liegen.[15] Das scheinbar Undeutliche, Randständige aufgreifen und vom Rand ins Zentrum rücken, so kann es uns gelingen, Forschen zu queeren und queer zu forschen.

Denn die Leben, die uns interessieren, bewegen und bewegten sich in den Nischen heteronormativer Realität. Um zu überleben müssen und mussten sich queere Menschen oft in den Schatten und den Kellern der ‚normalen‘ Welt verbergen. Sie tarnten sich mit Szenenamen und erfanden nicht selten Ausreden oder phantasievolle Geschichten, um nächtliche Ausflüge in die Subkultur vor den Ehepartner*innen und Arbeitskolleg*innen geheim zu halten, denen sie tagsüber, sozusagen in ihrem ‚ehrbaren‘ Alltag begegneten. Das Fabulieren ist so gesehen eine wichtige Taktik queeren Lebens, die sich auch das queere Forschen zu eigen machen kann.

Das Gleiche gilt für das Genre des Gerüchts, der Andeutung. Innerhalb von queeren Subkulturen, die sich vor Verfolgung schützen mussten, wurden Informationen, die von entscheidender Bedeutung sein konnten, oft als scheinbar nebensächliches Geschwätz weitergegeben. Polizist*innen und andere Außenstehende, denen die entsprechenden Codes und Signale nicht geläufig waren, sollten ahnungslos bleiben. Deswegen stößt queeres Forschen oft auf ungefähre Formulierungen, deren tatsächliche Bedeutung sich allenfalls annähernd erschließen lässt. Auch deswegen ist es nicht nur zulässig, sondern auch geboten, auf kundige Vermutungen zurückzugreifen, um den eigenen Leser*innen oder Zuhörer*innen das verständlich zu machen, was notwendiger Weise bruchstückhaft und uneindeutig ist.[16] Das kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten sensibel, erfinderisch und gespannt aufmerksam sind. Doch selbst dann ist nicht immer alles für alle übersetzbar:

„Instead of being clearly available as visible evidence, queerness has existed as innuendo, gossip, fleeting moments, and performances that are meant to be interacted with by those within its epistemological sphere – while evaporating at the touch of those who would eliminate queer possibility.“[17]

 

 


[1] Mike Laufenberg: Queere Theorien zur Einführung, Hamburg: Junius 2022.
[2] D’Lane R. Compton et al. (Hg.): Other, please specify: queer methods in sociology, Oakland, CA: University of California Press 2018; Amin Ghaziani and Matt Brim (Hg.): Imagining queer methods, New York: New York UP 2019; Donna Haraway: Situated Knowledges: The Science Question in Feminism as a Site of Discourse on the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies, 14 (1988), 3, 575-599; Margot Weiss: Discipline and Desire: Feminist Politics, Queer Studies, and New Queer Anthropology, in: Ellen Lewin, Leni M. Silverstein (Hg.): Mapping Feminist Anthropology in the Twenty-First Century, New Brunswick, NJ: Rutgers University Press 2016, 168-187; Kath Browne and Catherine J. Nash (Hg.): Queer Methods and Methodologies. Intersecting Queer Theories and Social Science Research, Farnham, Burlington: Ashgate 2010; Carolyn Dinshaw: How Soon is Now? Medieval Texts, Amateur Readers, and the Queerness of Time, Durham: Duke University Press 2012.
[3] Vgl. Caroline  Osella: ‘Tell me, what made you think you were normal?’: How Practice will always outrun theory and why we all need to get out more, in: Sertac Sehlikoglu, Frank G. Karioris (Hg.): The Everyday Makings of Heteronormativity. Cross-Cultural Explorations of Sex, Gender, and Sexuality. Lanham u.a.: Lexington Books 2019, 13-26; Karma Lochrie: Heterosyncrasies. Female Sexuality When Normal Wasn’t. Minneapolis: University of Minnesota Press 2005.
[4] Vgl. u.a. Ulrike Klöppel: XX0XY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität, Bielefeld: transcript 2010; Anne Fausto-Sterling: Gender/Sex, Sexual Orientation, and Identity Are in the Body: How Did They Get There?, in: The Journal for Sex Research, 56 (2019), 4/5, 529-555; Jack Halberstam: Trans* - Gender Transitivity and New Configurations of Body, History, Memory and Kinship, in: Parallax, 22 (2016), 3, 366-375; Laufenberg: Queere Theorien.
[5] Vgl. Marika Cifor: Presence, Absence, and Victoria's Hair: Examining Affect and Embodiment in Trans Archives, in: Transgender Studies Quarterly, 2 (2015), 4, 645-649; Ruth Behar: The Vulnerable Observer. Anthropology that breaks your heart, Boston: Beacon Press 1996.
[6] Vgl. zu diesen und ähnlichen Verfahren z.B. Elisa Abes: Applying Queer Theory in Practice with College Students. Transformation of a Researcher's and Participant's Perspectives on Identity, A Case Study, in: Journal of LGBT Youth, 5 (2008), 1, 57-77; Heather Love: Close Reading and Thin Description, in: Public Culture, 25 (2013), 3, 401-434.
[7] Benno Gammerl: Can you feel your research results? How to deal with and gain insights from emotions generated during oral history interviews, in: Helena Flam und Jochen Kleres (Hg.): Methods of Exploring Emotions, London: Routledge 2019, 153-162.
[8] Vgl. María Puig de la Bellacasa: Matters of care: speculative ethics in more than human worlds. Minneapolis, London: University of Minnesota Press 2017.
[9] Vgl. Haraway: Situated Knowledges.
[10] Vgl. z.B. Sonya Atalay et al.: Ethno/Graphic Storytelling: Communicating Research and Exploring Pedagogical Approaches through Graphic Narratives, Drawings, and Zines, in: American Anthropologist, 121 (2019), 3, 769-772, DOI: https://doi.org/10.1111/aman.13293.
[11] Vgl. Friederike Faust: Fußball und Feminismus: eine Ethnografie geschlechterpolitischer Interventionen. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich UniPress Ltd. 2019; außerdem allgemeiner Janine Hauer, Friederike Faust und Beate Binder (Hg.): Kooperieren – Kollaborieren – Kuratieren. Zu Formen des Zusammenarbeitens in der ethnografischen Forschung, in: Berliner Blätter, 83 (2021).
[12] Amy Tooth Murphy: Listening in, listening out: intersubjectivity and the impact of insider and outsider status in oral history interviews, in: Oral History, 48 (2020), 1, 35-44; Sebastian Mohr und Andrea Vetter: Körpererfahrungen in der Feldforschung, in: Christine Bischoff u.a. (Hg.): Methoden der Kulturanthropologie. Stuttgart, Bern: UTB 2014, 101-116.
[13] Weiss: Discipline and Desire; Beate Binder: Kollaboration und Spekulation: Möglichkeitsräume solidarischen Forschens, in: Hannah Fitsch et al. (Hg.): Der Welt eine neue Wirklichkeit geben: Feministische und queertheoretische Interventionen, Bielefeld: transcript 2022, 35-43.
[14] Sabine Hark: Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, 35f.
[15] Vgl. Saidiya Hartman: Intimate History, Radical Narrative, in: Journal of African American History, 106 (2021), 1, 127-135.
[16] Vgl. Kwame Holmes: What's the Tea: Gossip and the Production of Black Gay Social History, in: Radical History Review, 122 (2015), 55-69; Pamela VanHaitsma: Gossip as Rhetorical Methodology for Queer and Feminist Historiography, in: Rhetoric Review, 35 (2016), 2, 135-147.
[17] José Muñoz: Ephemera as Evidence: Introductory Notes to Queer Acts, in: Women & Performance: A Journal of Feminist Theory, 8 (1996), 2, 5-16, 6.

Frauengefängnisse als Räume der queeren DDR-Geschichte

von
Andrea Rottmann

Im Kontext der deutschen Zeitgeschichte mag es überraschend erscheinen, Frauengefängnisse als bedeutsame Räume lesbischen und queeren Lebens zu untersuchen.[1] Schließlich fielen Beziehungen zwischen Frauen weder in der BRD noch in der DDR unter den §175 StGB, der männliche Homosexualität kriminalisierte und tausende Männer vor allem in der BRD aufgrund von einvernehmlichem Sex ins Gefängnis brachte.[2] Es war aber nicht nur das Strafrecht, auch nicht allein das Recht, das die heteronormative Ordnung dieser beiden durch Homophobie und die Angst vor Geschlechterunordnung geprägten Gesellschaften[3] stabilisierte. Zur Stigmatisierung von Queerness, worunter ich in diesem Beitrag gleichgeschlechtliches Begehren und nicht-normative Verkörperungen von Geschlecht verstehe, trug auch die Medizin und die Psychologie bei, wie der Dossier-Beitrag von Karen Nolte und Steff Kunz für West-Deutschland zeigt und wie es unter anderem Ulrike Klöppel auch für die DDR festgestellt hat.[4] Staatliche und wissenschaftliche Diskurse in der DDR legitimierten allein monogame, auf Fortpflanzung bedachte Hetero-Sexualität. Andere Praktiken wie Masturbation, Analsex oder S/M wurden in sexualwissenschaftlichen Ratgebern verurteilt.[5] In der frühen DDR verfolgte die SED auch das Projekt einer sozialistischen Moral, das zu einer neuen Generation „wohlanständiger Menschen“ führen sollte.[6] Da das Recht und damit auch der Strafvollzug dem Aufbau des Sozialismus dienten, ist anzunehmen, dass diese sozialistische Moral auch in den Gefängnissen vermittelt werden sollte. Wie wurde also in den DDR-Haftanstalten mit gleichgeschlechtlicher Sexualität und nicht-normativen Verkörperungen von Geschlecht umgegangen? Dieser Frage geht der Beitrag am Beispiel des Ost-Berliner Frauengefängnisses nach.

 

Sexualität und Geschlecht im Gefängnis

Über Sexualität und Geschlecht in deutschen Gefängnissen wissen wir bisher wenig, denn anders als in den USA, wo sich vor allem die Soziologie seit Anfang des 20. Jahrhunderts für Haftanstalten als soziale Räume interessierte, gab es in den deutschen Sozial- und Geisteswissenschaften lange kaum Forschung zum Gefängnis.[7] Anschließend an Michel Foucaults Thesen zur Disziplinierung hat die Historikerin Regina Kunzel US-amerikanische Haftanstalten als Orte der Disziplinierung von Sexualität und Geschlecht und der Produktion von Devianz untersucht.[8] In ihrem Buch Criminal Intimacy: Prison and the Uneven History of Modern American Sexuality argumentiert sie, dass Sexualität im Gefängnis die prekäre Konstruktion der heterosexuellen Ordnung bzw. der gesellschaftlichen „Norm“ oder „Normalität“ enthülle, gerade weil Wissenschaft und Staat dem Sex zwischen Gefangenen jegliche Bedeutung für die Gesellschaft außerhalb der Gefängnismauern abgesprochen hätten.[9] Kunzel beleuchtet in ihrem Buch auch die Praktiken, anhand derer Gefangene ihr geschlechtliches und sexuelles Selbst konstruierten, und verweist auf die Präsenz queerer Subjektivitäten aus der Arbeiterklasse und butch-fem-Dynamiken im Gefängnis, insbesondere während der Mitte des 20. Jahrhunderts.[10] Frauen aus der Arbeiterklasse entwickelten in den USA seit den 1940er Jahren männliche – „butch“ – und weibliche – „femme“ oder „fem“ – Subjektivitäten, die das äußere Auftreten sowie sexuelle Rollen umfassten. Die Historikerinnen Elisabeth Kennedy und Madeline Davis haben argumentiert, dass diese Subjektivitäten auch eine politische Bedeutung hatten:

Butches defied convention by usurping male privilege in appearance and sexuality, and with their fems, outraged society by creating a romantic and sexual unit within which women were not under male control. At a time when lesbian communities were developing solidarity and consciousness, but had not yet formed political groups, butch-fem roles were the key structure for organizing against heterosexual dominance. They were the central prepolitical form of resistance.[11]

Für Deutschland sind solche vergeschlechtlichten Subjektivitäten in der lesbischen Subkultur seit dem frühen 20. Jahrhundert bekannt und für die Weimarer Republik auch erforscht, allerdings kaum im Hinblick auf den Zusammenhang von Klasse und Subkultur.[12] Das hängt mit den Quellen zusammen: in den untersuchten lesbischen Zeitschriften „issues of class and race are either marginalized or exoticized as ‚other‘ to the unarticulated norm of white, middle-class Germanness“, wie Katie Sutton schreibt.[13] Das Gefängnis als Raum zu untersuchen, in dem sich queere Kulturen der Arbeiterklasse und spezifisch Butch-Fem-Dynamiken zeigten und in doppelter Hinsicht festgehalten wurden, ist somit ein Beitrag zu einer intersektionalen queeren Zeitgeschichte, die auch Alltagshandeln als politisch begreift.

 

Haft in Deutschland nach 1945

Nach 1945 entwickelten sich Theorie und Praxis der Haftstrafe in den beiden deutschen Staaten sehr unterschiedlich. In der BRD gab es zum einen eine größere Kontinuität zum Nationalsozialismus: das Gefängnispersonal wurde oft beibehalten, wie auch die Haftregeln des NS-Staates.[14] Unter dem Einfluss der westlichen Alliierten liberalisierten sich kriminologische Theorie und Praxis aber allmählich, und ab 1976 war die Resozialisierung der Gefangenen erklärtes Ziel der Haftstrafe, nicht mehr die Vergeltung für die begangenen Taten.[15] Die DDR entließ das Gefängnispersonal aus dem Nationalsozialismus.[16] Nach einem kurzen Versuch, an Reformversuche der Weimarer Republik anzuknüpfen, übernahmen Anfang der 1950er Jahre das Ministerium des Inneren und die Volkspolizei die Aufsicht über die Haftanstalten.[17] Das Recht und in der Folge die Haft dienten nun dem Aufbau des Sozialismus, und mit Haft bestraft wurden diejenigen, die sich diesem Ziel nicht angemessen fügten. Personalmangel, schlechte Bausubstanz und die massenhafte Inhaftierung politischer Gefangener führten bis zum Ende der DDR zu oft sehr schlechten Haftbedingungen.[18]

Die unterschiedlichen Entwicklungen in Ost und West sind auch im geteilten Berlin sichtbar. 1945 kamen die Gefängnisse inklusive des Frauengefängnisses in der Barnimstraße 10 nahe des Alexanderplatzes zunächst unter die Kontrolle der sowjetischen Besatzer. Im Zuge der Berlin-Krise 1948 wurde die Stadt politisch geteilt, ab jetzt entstanden zwei separate administrative, wirtschaftliche und kulturelle Hälften, wobei der Teilungsprozess erst mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 abgeschlossen war. Der Strafvollzug wurde 1949 geteilt: im West-Teil der Stadt wohnendes Gefängnispersonal konnte nun nicht mehr in den Ost-Teil einreisen und Häftlinge, die vor ihrer Haft im Westen gemeldet waren, wurden in Gefängnisse im Westen umgelegt. Die Westberliner Häftlinge aus der Barnimstraße saßen nun im ehemaligen Militärgefängnis Moabit ein, das bis 1985 das West-Berliner Frauengefängnis blieb.[19] In Ost-Berlin gab es eine kurze Liberalisierungsphase, die eine Verbesserung der Haftbedingungen und eine Demokratisierung der Haft vorsah. 1951 übernahm jedoch die Volkspolizei und führte ein autoritäres, militarisiertes Haftregime ein.[20]

Frauengefängnis in der Barnimstraße 10, 1968, Landesarchiv Berlin, F Rep. 290-02-23 Nr. 381 / Fotograf: Dieter und Vera Breitenborn.

 

Queere Subjektivitäten im Ost-Berliner Frauengefängnis in der Barnimstraße 10

Spuren queerer Subjektivitäten in der Barnimstraße 10 haben sich sowohl aus der kurzen Phase der Liberalisierung vor 1951 als auch aus den 1950er und 1960er Jahren erhalten. Die Ost-Berliner Hundefriseurin und Zeitzeugin Rita „Tommy“ Thomas berichtete in einem Oral History Interview für das Archiv der anderen Erinnerungen der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld von ihrer Inhaftierung 1949/1950, als sie wegen illegalen Waffenbesitzes zehn Monate in der Jugendabteilung der Barnimstraße einsaß. Sie erzählte den Interviewer*innen:

“Und denn bin ick überführt zur Barnimstraße, Barnimstraße 10. Da war ein Block oben, im zweiten oder im ersten Stock, da warn allet Jugendliche. … Und da kam ick runter und die hatten gerade Freistunden, und die ham mich da unten jesehn und da ham die von oben jerufen: Hey, schick den Bubi zu uns nach oben. Ja, weil früher ham se immer jesacht Bubi und Mäuschen, wa. Und naja, ick musste ja nun, ob ick wollte oder nich. Dit war aber eine lustige Zeit. Dit war wie ´n Kindergarten da (schüttelt den Kopf). Da waren och hübsche Frauen drin. Und denn hatten wa Freistunde gehabt, und mit de eene hab ick mich gut verstanden, die, ham wa jesagt, wir feiern jetzt Verlobung hier. Und da war´t unjefähr so zehn, mehr war et nich, zehn oder zwölf, wir sind denn einjehakt in ne Freistunde rund rum jelaufen auf ´n Hof, und die hinterher. Und da ham wa Verlobung jefeiert, aus Quatsch mehr, wa. Und die, naja die Wärter, die da warn, das war och komisch, da ham se immer Spitznamen jejeben. Die eene Wärterin hatte so ´nen silbernen Zahn hier so im Mund (zeigt auf ihren Mund), und da ham se jesacht zu der immer Blechzahnbubi, ja, und die andere hieß Fräulein Fuchs. Naja, und denn äh war dit so dass ich in ´ne Zelle, hm, naja, die wollte da immer Knutschen und so, und det fand ick nich so jut. Ja. Nee. Und da war ick zu dritt mit in ´ne Zelle, und da hab ick jesacht: Ick möchte ´ne Einzelzelle. Ja. Und denn ham se det jemacht, bin ick in ´ne Einzelzelle jekomm … . Und da hab ick dann jeschrieben. Ick hab nur jeschrieben. Da hat die jesacht, die Wärterin, ick bin wie Chopin, ja, sacht se, …, ick hab nur jeschrieben, und da hab ick dit Jedicht och jemacht, da jeschrieben, uf Originalpapier vom Knast noch. Und dann war ma ´ne ´ne hübsche Fürsorgerin, … die kamen dann alle 14 Tage mal und ham sich erkundigt. Na wat wolln se sich erkundigen? Knast is Knast. Und da konnte man mit der ´n bisschen reden. (zuckt mir den Schulter) Ja, wat´n reden? Wie it da war? Also it war ja nich schlecht. Also ick hab da ´ne jute Zeit verlebt. Kann nich klagen. Hm.”[21]

In diesem Interview-Ausschnitt erscheint das Gefängnis als Raum, in dem unterschiedliche queere Subjektivitäten sichtbar waren, in dem spielerische und grenzüberschreitende intime Beziehungen stattfanden und der durchaus auch Platz bot für Introspektion und Kreativität. Gleich nach ihrer Ankunft im Gefängnis wird Tommy als „Bubi“ angerufen – ein Begriff, der seit Anfang des 20. Jahrhunderts für sich männlich präsentierende, gleichgeschlechtlich begehrende Frauen genutzt wurde. Indem sie Tommy als Bubi titulierten, benannten die anderen Gefangenen also ihre Queerness. Damit einher ging eine Verortung im Gefängnis: sie wird „zu uns nach oben“ geschickt, zu der Gruppe, die sie als eine der ihren reklamiert. Im Interview spezifiziert Tommy nicht, wer diese Gruppe war, ob sie ganz aus Bubis bestand, was auf eine nach verkörpertem Geschlecht organisierte Aufteilung des Gefängnisraums hindeuten würde, oder aus Bubis und Mäuschen, was auf Sexualität als Ordnungsprinzip verweisen würde. Nicht nur unter den Inhaftierten gab es artikulierte queere Subjektivitäten, sondern auch zwei Wärterinnen sind durch die Spitznamen „Blechzahnbubi“ und „Fräulein Fuchs“ geschlechtlich markiert.

Tommys Erzählung sagt auch viel über unterschiedliche Beziehungen zwischen den Gefangenen aus. Die Performance einer Verlobung zwischen Tommy und einer Mitgefangenen, die im Beisein und mit der aktiven Mitwirkung anderer Gefangener gefeiert wurde und Elemente von Spiel und Formalität enthielt, deutet auf einigen Handlungsspielraum der Inhaftierten hin, die ihre Freizeit und den vergleichsweise offenen Raum des Gefängnishofes nutzten, um ihre eigene soziale Ordnung zu gestalten. Als sie in ihrer Zelle ungewollten sexuellen Avancen ausgesetzt ist – „die wollte da immer Knutschen und so, und det fand ick nich so jut“ – beantragt Tommy die Verlegung in eine Einzelzelle, die ihr auch gewährt wird. Dort findet sie Raum zur Reflektion und zum Gedichteschreiben. Dass die Wärterin ihre kreative Produktivität mit Chopin vergleicht, ist ein Kompliment, das Tommy nicht ohne Stolz wiedergibt. Ihr Schreiben im Gefängnis ist ein besonderer Moment in ihrer Biografie. Da sie aus einer Handwerkerfamilie kam, ihre Ausbildung auf die Volksschule beschränkt blieb und sie zeitlebens als Hundefriseurin arbeitete, hatte sie möglicherweise sonst wenig Zeit und Raum für Reflektion. Vielleicht beschreibt sie auch deswegen die Zeit im Gefängnis als „jute Zeit“. Ihre Haft fand jedoch auch in einer im Vergleich recht komfortablen Zwischen-Zeit statt: die schlimmste Not der Nachkriegsjahre war überwunden und das Gefängnis nicht mehr vollkommen überbelegt mit Frauen, die aufgrund von Kleinkriminalität oder Prostitution einsaßen, außerdem experimentierte die SED gerade mit einer liberaleren Strafpraxis.

Wenige Jahre später sah die Situation schon ganz anders aus. In offiziellen Berichten der Abteilung Strafvollzug der Volkspolizei tauchen lesbische Beziehungen und queere Subjektivitäten als Zeichen mangelnder sozialistischer Moral auf und als Abweichungen der „anständigen“, produktiven und heterosexuellen sozialistischen Bürgerin der frühen DDR. Ein Quartalsbericht aus dem Jahr 1954 erwähnt „eine größere Anzahl von Genossinnen mit lesbischer Veranlagung“ die aufgrund „akuten Personalmangels“ nicht entlassen werden konnten.[22] Ein Jahr später ist in einem weiteren Quartalsbericht die Entlassung von fünf Wärterinnen aufgrund „Beziehungen lesbischer Art zu Strafgefangenen“ vermerkt.[23] Laut des Berichtverfassers handelte es sich bei diesen Vorkommnissen um einen „Ausdruck der klassengegnerischen Aktivitäten in unseren SV-Dienststellen.“ Die Historikerin Claudia von Gélieu hat vermutet, dass die „Beziehungen lesbischer Art“ der tatsächliche Entlassungsgrund gewesen sein könnten, dass der Vorwurf der Homosexualität aber auch ein Vorwand gewesen sein könnte, um sich politisch unbequemer Beschäftigter zu entledigen.[24] Beziehungen zwischen Wärterinnen und Gefangenen konnten jedenfalls nicht toleriert werden, da sie die Grenze zwischen Kriminellen und Normalen überschritten und die Ordnung des Gefängnisses destabilisierten. Zudem hätte es sich dabei möglicherweise auch um eine sexuelle Ausbeutung Abhängiger gehandelt.

Ab Mitte der 1960er Jahre wurden zunehmend sogenannte „Arbeitserziehungspflichtige“, kurz „AEs“, in der Barnimstraße inhaftiert. Dabei handelte es sich um Personen, die das Regime als „asozial“ klassifizierte, weil sie „arbeitsscheu“ seien oder der Prostitution nachgingen. Seit 1961 konnte der Staat mithilfe der „Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung“ sogenannte „Arbeitsscheue“ zur Arbeit zwingen, ab 1968 war die Kriminalisierung von „Asozialen“ im §249 des neuen DDR-Strafgesetzbuchs formalisiert. [25] War die Einführung eines Gesetzes gegen „Asozialität“ eine echte Neuheit des sozialistischen Staats, so zirkulierte der Begriff seit dem späten 19. Jahrhundert für Menschen, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Normen widersprachen. Die Nazis verfolgten Menschen, die keiner geregelten Arbeit nachgingen oder wiederholt Gesetze brachen, darunter Prostituierte, als „Asoziale“, und verlegten sie ab 1942 von den Gefängnissen in die Konzentrationslager, um sie durch Arbeit zu vernichten.[26] Insa Eschebach hat gezeigt, dass Überlebende des Frauen-KZ Ravensbrück in ihren Memoiren lesbische Beziehungen ausschließlich „asozialen“ und „kriminellen“ Mithäftlingen zuschrieben.[27]

In Berichten der Volkspolizei über das Frauengefängnis Barnimstraße wird in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mehrmals „lesbische Liebe“ mit Störungen der „Erziehungsarbeit“ des Gefängnisses in Verbindung gebracht.[28] Die Autoren eines Berichts vermerkten: „Ein weiterer Schwerpunkt, der sich auf die Erziehungsarbeit besonders hemmend auswirkt, ist der Hang eines nicht kleinen Teils der AE zur lesbischen Liebe. Das äußert sich darin, daß ein Teil der AE ‘männlich’ in Erscheinung zu treten versucht und sich durch Rowdytum und Randalieren in den Mittelpunkt des Interesses der AE zu rücken versucht.“[29] Wie sich die Gefangenen als ‚männlich‘ präsentierten, wird nicht erläutert – ob sie durch Frisur oder Änderungen an der Häftlingskleidung eine weibliche Maskulinität verkörperten, ob sie Männernamen trugen oder Teil eines geschlechtlich differenzierten Butch-Fem-Frauenpaars waren. Der Bericht betonte aber den schädlichen Einfluss der „lesbischen Liebe“ auf die „Erziehungsarbeit“, der sich auf die Arbeitsmoral nicht nur der „AEs“ sondern auch der anderen Gefangenen erstrecke.[30] Im Jahresbericht für das Jahr 1966 wird festgehalten, dem Personal der Barnimstraße sei es weitgehend gelungen, die durch den Wechsel der Inhaftiertenstruktur von Gefangenen zu Arbeitspflichtigen entstandene Situation zu normalisieren, jedoch seien „Ordnung und Erziehungsarbeit immer noch von einer Reihe von Aspekten der lesbischen Liebe negativ beeinflusst“ und es müsse überlegt werden, „wie und durch welche Maßnahmen dieses Phänomen unterdrückt werden“ könne.[31] Im Februar 1967 hielt ein weiterer Bericht fest, „Den weitaus größten Anteil für die Motive und Gründe bei Verstößen gegen die Disziplin und Ordnung nehmen die verbreiteten lesbischen Beziehungen sowie der Klatsch und Zank unter den AE ein.“[32] Anstatt ihre Freizeit zur Lektüre der Zeitung oder anspruchsvoller Literatur zu nutzen, seien sie „nur daran interessiert, illegale Verbindungen zu knüpfen und niveaulose Gespräche, meistens über Liebesaffären in der schmutzigsten Weise, zu führen.“ Falls sie doch an den Freizeitangeboten des Gefängnisses teilnähmen, dann nur,

„um Freundschaften zu schließen bzw. ihre Verbindungen besser ausnutzen zu können. Diese sogenannten ‘reinen’ Freundschaften führen in starkem Maße sehr oft zu ausgedehnten Kassibereien mit Bekleidungsstücken und Briefen. Es tritt besonders verstärkt auf, daß die AE mit Einkaufsbeschränkung von anderen mit Rauchwaren und Lebensmitteln versorgt werden, obwohl sie wissen, daß es verboten ist und sie dann ebenfalls disziplinarisch zur Rechenschaft gezogen werden.“[33]

In diesem Zitat erscheinen lesbische Beziehungen unter den Gefangenen als subversive Handlungen, die die Funktion des Gefängnisses, die Inhaftierten durch „Arbeitserziehung“ zu disziplinieren, deutlich störten. Sexualität war eine alternative Form der Freizeitgestaltung und unterlief die institutionelle Mission der „Erziehungsarbeit“. Dass die Gespräche und Kassiber unter den „AEs“ sexuellen Inhalts waren, darauf geben die Adjektive „niveaulos“ und „schmutzigst“ recht eindeutige Hinweise. Das Zitat kann auch als Hinweis auf ökonomische Solidarität unter den Gefangenen verstanden werden: Diejenigen, die Lebensmittel und Tabak kaufen durften, teilten mit jenen, denen dies nicht erlaubt war. Vielleicht machten Gefangene Anderen aber auch Geschenke, um ihre Zuneigung und Anerkennung zu erlangen.[34] In den Unterlagen der Volkspolizei finden sich auch Spuren der Diffamierung unter Gefangenen. In der „Jahreseinschätzung der Eingaben inhaftierter Personen“ aus dem Jahr 1967 sind drei Beschwerden von AEs über andere AEs enthalten, „die durch die lesbischen Beziehungen den Arbeitsablauf und die Disziplin störten.“[35] Diese Frauen wurden in andere Arbeitskommandos verlegt oder temporär isoliert.

Die ehemalige Gefangene Beatrice Kühne, die Claudia von Gélieu für ihr Buch über die Barnimstraße interviewte, erinnerte sich an lesbische Beziehungen zwischen Inhaftierten. Ihre Erzählung verdeutlicht, wie Gefangene das Verbot solcher Beziehungen unterliefen, und verweist auch auf die politische Bedeutung eines offen lesbischen Lebens in der DDR. Kühne war 1970 und 1971 aufgrund ihrer Fluchtpläne in der Barnimstraße inhaftiert.

Gélieu: Nach anderen Angaben sollen sehr viele Prostituierte und „Asoziale“ in der Barnimstraße inhaftiert gewesen sein. Stimmt das?

Kühne: Das weiß ich nicht. Aber Sex spielte schon eine Rolle. Selbstbefriedigung wurde stillschweigend unter den Häftlingen toleriert. Und es gab lesbische Beziehungen. Ich war mit einer Kriminellen zusammen [in der Zelle], die hatte einen festen Freund, eine Frau. Das war bekannt. In einer gemeinsamen Zelle hatten sie sich verliebt, waren aber ganz schnell getrennt worden. Das war dann das Superdrama. Sie trafen sich heimlich, tauschten Geschenke aus. Unter den Gefangenen war das Konsens. Das gab’s häufig, glaube ich. Konkret weiß ich es nur von dieser Frau, einer sehr hübschen, rebellischen Frau. Sie hat das ganz offen gelebt. Zu DDR-Zeiten nicht ganz selbstverständlich. In gewisser Weise war sie auch eine Oppositionelle.[36]

Laut Kühne wurden also lesbische Beziehungen zwar nicht von der Gefängnisverwaltung, aber von den anderen Gefangenen toleriert. In dem von ihr erinnerten Fall wurden die beiden Frauen nicht in Einzelzellen isoliert – so war der Umgang damit während des Nationalsozialismus – aber sie wurden voneinander getrennt. Etwas früher im Interview hatte Kühne die Trennung von „zu engen Zellengemeinschaften“ als Teil der „Strategie der Gefängnisleitung“ beschrieben und das „willkürliche und unerwartete“ Verlegen als „wesentliches Element des psychischen Terrors.“[37] Indem sie ihre Zellengenossin als „auch eine Oppositionelle“ beschreibt, destabilisiert Kühne die Unterscheidung zwischen politischen und kriminellen Gefangenen und erkennt an, dass es ein politischer Akt war, in der homophoben DDR-Gesellschaft offen lesbisch zu leben.

 

Fazit

Die hier diskutierten Quellen beleuchten die Präsenz queerer Subjektivitäten und die Reaktionen der Strafvollzugsverwaltung in unterschiedlichen Phasen der frühen DDR. Nachdem die Volkspolizei die Verantwortung für die Gefängnisse übernommen hatte und die Strafpraxis von liberal zu repressiv umschwenkte, fanden bislang offen gezeigte queere Gefühlspraktiken wie Tommys Verlobungszeremonie auf dem Gefängnishof nun im Verborgenen statt. Ein Beispiel dafür sind die Treffen und der Geschenkaustausch der Liebenden Anfang der 1970er Jahre, an die Beatrice Kühne sich erinnert. Auch die Interpretation queerer Sexualität durch die Gefängnisverwaltung veränderte sich: Wurde Homosexualität Mitte der 1950er Jahre als Gefahr, die von außerhalb der sozialistischen Gesellschaft kam, wahrgenommen („ein Ausdruck klassengegnerischer Aktivitäten“), so kam die Bedrohung zehn Jahre später von innen, von Frauen, deren Verweigerung sozialistischer Arbeits- und Sexualitätsnormen sie als „asozial“ kennzeichnete.

Die Analyse von Gefängnissen, so hat dieser Beitrag gezeigt, ist eine vielversprechende Forschungsstrategie für eine queere Zeitgeschichte, die sich sowohl für queere Lebenswelten als auch für die Konstruktion sexueller und geschlechtlicher Normen durch staatliche Disziplinierung interessiert. Dabei gilt es, Fremd- und Selbstzeugnisse der Gefangenen zu berücksichtigen, sowohl die Dokumentation staatlicher Institutionen als auch Interviews, die im Kontext feministischer und queerer Geschichtsschreibung entstanden sind. Der Blick auf das Gefängnis bringt queere Subjektivitäten aus der Arbeiterklasse in den Fokus, die in bewegungs- oder kulturgeschichtlichen Studien selten vertreten sind, und deutet auf die Verschränkung heteronormativer und klassistischer Unterdrückungen hin – in der DDR wie in der BRD. Spezifisch für die DDR wäre es lohnend, die Verknüpfung von „Asozialität“ mit Queerness zu untersuchen und den Hinweisen nachzugehen, dass der „Asozialitäts-Paragraf“ §249, der zum Ende der DDR den Haftgrund fast eines Viertels der Gefangenen darstellte, auch gegen Homosexuelle angewandt wurde.[38] Im Ergebnis könnte zum einen ein erweitertes Verständnis von Opposition in der DDR stehen, zum anderen eine kritischere Sichtweise auf den bisher im Vergleich zur BRD weniger repressiv erscheinenden Umgang der DDR mit queeren Menschen.

 

 


[1] Dieser Beitrag greift einen Aspekt meiner Forschung heraus, den ich an anderer Stelle ausführlicher diskutiert habe: Andrea Rottmann, Bubis Behind Bars. Seeing Queer Histories in Postwar Germany Through the Prison, in: Journal of the History of Sexuality 30. 2021, S. 225–252.
[2] Zum §175 siehe z.B. Georg Härpfer, Der lange Weg zur Rehabilitierung. Zum Nachwirken des §175 bis in die Gegenwart, in: Janin Afken u.a. (Hg.), Jahrbuch Sexualitäten 2019, Göttingen 2019, S. 97–116. Die DDR schaffte zwar 1968 den §175 ab, schuf aber gleichzeitig den neuen §151, der für gleichgeschlechtlichen Sex – zwischen Männern oder Frauen – ein höheres Schutzalter als für Heterosex einführte. Zum §151 siehe z.B. Teresa Tammer, Grenzfall Strafrecht. Deutsch-deutsche Reaktionen auf die Abschaffung des §151 StGB-DDR, in: Ministerium der Justiz des Landes NRW (Hg.), Justiz und Homosexualität, Geldern 2020, S. 166–184.
[3] Ich danke meiner Mitherausgeberin Ulrike Klöppel für diese treffende Formulierung.
[4] Ulrike Klöppel, XX0XY ungelöst: Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität, Bielefeld 2010.
[5] Josie McLellan, Love in the Time of Communism. Intimacy and Sexuality in the GDR, Cambridge, UK 2011, S. 90. Zur Sexualerziehung in der frühen DDR siehe auch Maria Borowski, Parallelwelten: Lesbisch-schwules Leben in der frühen DDR, Berlin 2017.
[6] Greg Eghigian, Homo Munitus: The East German Observed, in: Katherine Pence u. Paul Betts (Hg.), Socialist Modern. East German Everyday Culture and Politics, Ann Arbor 2008, S. 37–70, hier S. 44–45.
[7] Zuletzt sind aber einige zeithistorische Studien erschienen: Kai Naumann, Gefängnis und Gesellschaft. Freiheitsentzug in Deutschland in Wissenschaft und Praxis 1920-1960, Berlin 2006; Greg Eghigian, The Corrigible and the Incorrigible: Science, Medicine, and the Convict in Twentieth-Century Germany, Ann Arbor 2015; Maria Bormuth, Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt […], wird mit Gefängnis bestraft: § 175 StGB - 20 Jahre legitimiertes Unrecht in der Bundesrepublik am Beispiel des Strafvollzugs in Wolfenbüttel, Celle 2019; Annelie Ramsbrock, Geschlossene Gesellschaft. Das Gefängnis als Sozialversuch – eine bundesdeutsche Geschichte, Frankfurt am Main 2020.
[8] Michel Foucault, Discipline and punish. The birth of the prison, New York 1979.
[9] Regina Kunzel, Criminal Intimacy. Prison and the Uneven History of Modern American Sexuality, Chicago and London 2008, S. 8.
[10] Ebd., S. 121.
[11] Elizabeth Lapovsky Kennedy u. Madeline D. Davis, Boots of Leather, Slippers of Gold, New York and London 1993, S. 6.
[12] Siehe beispielsweise Heike Schader, Virile, Vamps und wilde Veilchen. Sexualität, Begehren und Erotik in den Zeitschriften homosexueller Frauen im Berlin der 1920er Jahre, Königsstein/Taunus 2004.
[13] Katie Sutton, The masculine woman in Weimar Germany (= Monographs in German history, v. 32), New York 2011, S. 13.
[14] Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2006, S. 396.
[15] Ebd., S. 400; Naumann, S. 256–259.
[16] Wachsmann, S. 400.
[17] Eghigian, S. 59.
[18] Ebd., 16, 66, 81.
[19] Claudia von Gélieu, Barnimstraße 10. Das Berliner Frauengefängnis 1868-1974, Berlin 2014, S. 258.
[20] Ebd., S. 265–272.
[21] Rita "Tommy" Thomas. Interview von Karl-Heinz Steinle und Babette Reicherdt. 19. November 2016. Archiv der anderen Erinnerungen. Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Berlin; Transkription Janina Rieck.
[22] Abteilung Strafvollzug, Quartalsbericht für das II. Quartal 1954 (Kopie), Schwules Museum, Berlin, DDR-24.
[23] Abteilung Strafvollzug, Quartalsbericht für das III. Quartal 1955 (Kopie), Schwules Museum, Berlin, DDR-24.
[24] Gélieu, S. 278.
[25] Das neue Strafgesetzbuch wurde 1968 verabschiedet, trat aber bereits 1965 vorläufig in Kraft. Ebd., S. 290.
[26] Steffi Brüning, Prostitution in der DDR. Eine Untersuchung am Beispiel von Rostock, Berlin und Leipzig, 1968 bis 1989, Berlin 2020, S. 64–66.
[27] Insa Eschebach, Homophobie, Devianz und weibliche Homosexualität im Konzentrationslager Ravensbrück, in: dies. (Hg.), Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Berlin 2012, S. 65–77, hier S. 68.
[28] Strafvollzugsanstalt Berlin II, Vollzugsgeschäftsstelle, Analyse über die in der Anstalt einsitzenden Inhaftierten unter Berücksichtigung der einzelnen Haftarten, 01. August 1966, Schwules Museum, Berlin, DDR-24.
[29] Ebd.
[30] Ebd.
[31] Präsidium der Volkspolizei Berlin, Abteilung Strafvollzug, Bericht über die Erfüllung der Hauptaufgaben des Dienstzweiges Strafvollzug mm Jahre 1966.
[32] Strafvollzugsanstalt Berlin II. Bericht über die Durchsetzung einer straffen Disziplin und Ordnung.
[33] Ebd.
[34] Danke an Ulrike Klöppel für diese alternative Deutungsmöglichkeit.
[35] Präsidium der Volkspolizei Berlin, Abteilung Strafvollzug, der Leiter. Jahreseinschätzung der Eingaben inhaftierter Personen 1967. 9. Januar 1968. Schwules Museum, DDR 24.
[36] Gélieu, S. 302.
[37] Ebd., S. 301.
[38] Ein Hinweis darauf findet sich bei Sven Korzilius, "Asoziale" und "Parasiten" im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 415 Zum Anteil der aufgrund §249 Inhaftierten siehe Thomas Lindenberger, "Asoziale Lebensweise". Herrschaftslegitimation, Sozialdisziplinierung und die Konstruktion eines "negativen Milieus" in der SED-Diktatur, in: Geschichte und Gesellschaft 31. 2005, S. 227–254, hier S. 247.

Lesbische* Frauen* in einer westdeutschen Psychiatrie in den ersten Nachkriegsjahren

von
Steff Kunz

von
Karen Nolte

In einer explorativen Stichprobenuntersuchung der Krankenakten der Heidelberger Psychiatrischen Klinik haben wir in einem Kooperationsprojekt der Universitäten Heidelberg und Freiburg[1] rund 700 Patient*innenakten aus den Jahren 1946, 1948, 1951 und 1952 gründlich durchgelesen, denn nur so lassen sich Andeutungen, Umschreibungen und auch explizites Verhalten jenseits der Heteronormativität erfassen. In unserer Studie suchen wir nicht nur nach Patient*innenakten, in denen in eindeutiger Weise homoerotisches Begehren von Frauen*[2] zu finden ist. Vielmehr richten wir die Aufmerksamkeit auch auf Beschreibungen von Verhalten, das mit Vorstellungen (hetero)normativer Weiblichkeit brach. So gerät das breite Spektrum des als „deviant“ markierten weiblichen Verhaltens in den Blick.

Queere Geschichtsschreibung steckt auch 2022 im deutschsprachigen Raum immer noch in den Anfängen. Die Erforschung lesbischer* Geschichte wurde sehr lange hauptsächlich von Aktivist*innen geleistet, die in politischen Projekten oder finanziert durch kleinere Aufträge nach Spuren lesbischen* Lebens suchten und Stimmen von Zeitzeug*innen aufzeichneten. In der universitären Welt ist lesbische* Geschichtsschreibung bisher allenfalls punktuell zu finden.

Eine Forschungslücke stellt insbesondere die Auseinandersetzung mit der Nachkriegsgeschichte der psychiatrischen Praxis im Umgang mit queeren Menschen dar, während zum Umgang der Psychiatrie mit queeren Menschen im 19. Jahrhundert bis Ende der Weimarer Zeit die Forschungslage deutlich besser ist. Die Psychiatrie hat mit der Pathologisierung von Homosexualität im 19. und frühen 20. Jahrhundert wesentliche theoretische Grundlagen für Verfolgung und Diskriminierung von queeren Menschen gelegt. Weder in der Queeren Zeitgeschichte noch in der zeithistorischen Psychiatriegeschichtsforschung wurden die reichlich überlieferten Bestände psychiatrischer Patientenakten bislang systematisch untersucht. Lediglich mit den Patient*innenakten der Berliner Charité wurde zum Umgang mit Lesben*, Schwulen* und trans* sowie inter* Menschen in der DDR geforscht.[3] Die recht breite interdisziplinäre Psychiatriegeschichtsforschung hat neben der Geschichte der Institutionen auch die der wissenschaftlichen Disziplin sowie mit unterschiedlichen Fragestellungen die psychiatrische Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert und in der Zeit des Nationalsozialismus anhand von psychiatrischen Patientenakten untersucht. Für die Zeit nach 1945 liegen bislang deutlich weniger psychiatriehistorische Untersuchungen vor. Eine Zeitgeschichte der Psychiatrie „von unten“[4], d.h. mit dem Fokus auf die Patient*innen, wurde bisher nur in wenigen Fällen geschrieben und besonders die unmittelbare Nachkriegszeit in beiden deutschen Staaten dabei kaum berücksichtigt. Bisher gibt es keine dezidierte Studie zur Situation lesbischer* Frauen* in der Psychiatrie nach 1945. 2019 hat ein Forschungsprojekt zum Nationalsozialismus begonnen[5] und unser Kooperationsprojekt untersucht seit 2021 lesbische* Lebenswelten im Raum Baden-Württembergs. Folgende Ausführungen zur Situation frauenliebender Frauen* in psychiatrischen Kliniken nach 1945 werden mehr Fragen als Forschungsbefunde enthalten, da sich unsere Forschungen noch in den Anfängen befinden.

 

Kontinuitäten in der Umbruchsgesellschaft

Erst in den 1950er Jahren gab es in den meisten Psychiatrischen Kliniken nach Kriegsende wieder einen geregelten Anstaltsalltag. Zu dieser Zeit begannen auch Diskussionen um eine Neuausrichtung der Disziplin, welche durch ihre zentrale Rolle im Bereich der Rassenhygiene und völkischen Gesundheitspolitik sowie durch die Beteiligung der Psychiater*innen und des Pflegepersonals an den Krankenmorden der T-4 Aktionen erhebliche Altlasten zu bewältigen hatte.[6] Festzuhalten ist, dass bei allen Reformbestrebungen auch in der Psychiatrie das Gedankengut des Nationalsozialismus nicht durch Entnazifizierungsverfahren verschwand, da bis auf wenige Ausnahmen ein Großteil des Personals an den gleichen Kliniken weiter arbeitete. Das heißt, im Alltag der Psychiatrie kann für die ersten Nachkriegsjahre von einem hohen Maß an Kontinuität ausgegangen werden.[7]

Das Thema der weiblichen Homosexualität rückte in der medizinischen und psychiatrischen Fachpresse in dieser Zeit im Vergleich zum Nationalsozialismus in den Hintergrund. Bis in die 1970er Jahre wurden in der BRD keine größeren Studien mehr zu diesem Thema verfasst.[8] Während der NS-Zeit wurde weibliche Homosexualität vor allem im Kontext rassehygienischer Überlegungen zur Ehe pathologisiert.[9] In den 1950er Jahren treten jedoch zwei Veröffentlichungen als Ausdruck einer erneuten Stigmatisierung von frauenliebenden* Frauen* in Erscheinung: Die Abhandlung zur „Homosexualität der Frau“[10] des amerikanischen Psychoanalytikers Frank S. Caprio, die nicht nur ins Deutsche übersetzt worden war, vielmehr danach in vier Auflagen erschien sowie das Buch des deutschen Kriminologen Hans von Hentig „Die Kriminalität der lesbischen Frau“[11]. Letzterer bezieht sich in seinen Ausführungen auffällig oft auf Caprio, was wohl zum einen am Mangel anderer deutschsprachiger Literatur und zum anderen an dem Umstand liegen mag, dass beide Autoren Lesben* als neurotisch, männerhassend, gewalttätig, aber auch als Verführerinnen von Kindern und Jugendlichen sahen. Von Hentig sah sich berufen, in einer Zeit des Frauenüberschusses Licht in dieses den Männern unbekannte Feld zu bringen, welches eine kriminologische und soziologische Betrachtung verdiene. Caprio deutete lesbische* Liebe als Regression zum Narzissmus, als neurotische Ich-Liebe, welche keine Krankheit an sich darstelle, jedoch ein Symptom der genannten Diagnosen und demnach auch therapierbar sei. Beide Monographien können als Reaktivierung der Darstellung von Lesben* als „Hysterikerinnen“ einerseits und der misogynen Diffamierung als „Mannweiber“ andererseits verstanden werden, da lesbische* Frauen* offenbar als destabilisierend für die Geschlechterordnung der Nachkriegsgesellschaft wahrgenommen wurden.

Diese Schriften lenken den Blick auf gesellschaftliche Normen von Sexualität und Geschlecht zu Beginn der 1950er Jahre. Was als „normale Weiblichkeit“ in der psychiatrischen Praxis aufgefasst wurde, orientierte sich an der den Frauen* zugedachten Rolle als Ehefrau, Mutter und Hausfrau in einem strikt heteronormativen Setting. In der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die frühen 1950er Jahre konnten Frauen* aufgrund ihrer enormen Überzahl in der Gesellschaft diese normativen Erwartungen jedoch, selbst wenn sie wollten, nicht immer erfüllen. Nicht wenige ledige Frauen* lebten in gleichgeschlechtlichen Wohngemeinschaften, sogenannten „Frauenfamilien“. Allerdings wurde diese Lebensform in der Zusammenbruchsgesellschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit als defizitär und als Übergangslösung wahrgenommen, was ihre Bezeichnung durch den Soziologen Helmut Schelsky als „unvollständige Familien“[12] verdeutlicht. Sogenannte alleinstehende Frauen* – sei es als unverheiratete oder verwitwete Frau* – gehörten für kurze Zeit zum gewöhnlichen gesellschaftlichen Bild der BRD.[13]

In dieser Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs wurden ledige Frauen* auch bei angenommener Heterosexualität als Bedrohung für das eheliche Glück der etablierten Familien gesehen[14] und lesbische* Lebenswelten gerieten immer wieder ins Visier der Rechtsprechung. Zuweilen wurden Tatmotive und der Charakter von frauenliebenden Angeklagten in der Tagespresse verhandelt, wie der Fall der Kindsmörderin Lore Weiher im Jahr 1951 exemplarisch zeigt. In diesen Gerichtsprozessen arbeiteten Kriminologen und Psychiater als Gutachtende Hand in Hand. Aus einem Kommentar des Oberlandesgerichts Braunschweig zu einem Urteil des Bundesgerichtshofes von 1953 zu einer Klage gegen den §175 lässt sich der rechtliche Doublebind [Doppelbotschaft] erkennen, der für Lesben* schon seit Einführung der Strafbarkeit sexueller Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts im Jahr 1872 galt. Denn auch, wenn sie von der strafrechtlichen Verfolgung ausgenommen waren, bedeute dies nicht „daß im Hinblick auf §175 StGB [...] hergeleitet werden [kann], daß die Rechtsordnung, weil sie von einer Bestrafung der lesbischen Liebe absieht, der Frau ein Recht auf gleichgeschlechtliche Betätigung verliehen hat.“[15]

 

Psychiatrieakten als Quelle für die Lesben*geschichtsforschung

Im Vergleich zu den Untersuchungen der Patient*innenakten der Weimarer Zeit und des Nationalsozialismus fällt in unserem Sample auf, dass sich die Themen und Anlässe, deretwegen eine Frau* in die Psychiatrie gelangte, von denen in der Zeit nach 1945 sehr unterscheiden. In den Nachkriegsjahren notierten Psychiater*innen in den Patient*innenakten, dass Frauen* über Flucht, Kriegsgefangenschaft, den Verlust des Zuhauses, den Tod von Ehemännern und Kindern und darüber, dass sie den Haushalt nicht mehr versorgen oder nicht mehr richtig kochen konnten, klagten. Sexualität hingegen, sowohl Homo- als auch Heterosexualität, wurde in den Akten so gut wie nicht thematisiert. Dies steht in einem starken Kontrast zu den Akten aus den 1920er bis 1940er Jahren: Psychiater*innen fragten insistierend nach der Häufigkeit der Periode, nach dem Gelingen des Geschlechtsverkehrs, nach Affären und bei unverheirateten Frauen* nach Heiratswünschen. Wenn kein Heiratswunsch vorhanden war, wurde versucht, auf diesen Einfluss zu nehmen. All diese Themen finden sich in den Akten der 1950er Jahre nicht mehr. Lesbische* Frauen* sind daher in dieser Zeit noch weniger sichtbar in den psychiatrischen Akten, als sie es in den Jahren zuvor ohnehin schon waren. Die Historikerin Kirsten Plötz stellt dazu die These auf, dass das geringe öffentliche aber auch psychiatrische Interesse vielleicht einige lesbische* Frauen* vor „Heilungsversuchen“ verschont habe.[16] Diese Ignoranz, so sehr sie vielleicht frauenliebenden Frauen* ermöglichte, unter dem Radar zu laufen, was hieß heimlich im Raum des Privaten lesbisch* zu leben, konnte aber auch krank machen und versprach keine Sicherheit.

Im Folgenden geben wir exemplarisch Einblick in die Möglichkeiten, die Psychiatrieakten für die Lesben*geschichtsforschung bieten, indem wir eine Fallgeschichte aus dem Bestand der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg vorstellen und weitere Akten hinzuziehen.

In einem Karton mit Patient*innenakten aus dem Jahr 1951 stießen wir auf eine Akte, in welcher die Patientin offenbart hatte, dass sie sich in ihre Nachbarin verliebt habe. Diese Patient*innenakte ist ein seltenes Aktenfundstück, da nur in sehr wenigen Akten gleichgeschlechtliches Begehren explizit genannt wird. Die 43-jährige Frau* kam Mitte 1951 in die Heidelberger Psychiatrische Klinik, weil sie über Herzschmerzen, Müdigkeit und Energielosigkeit klagte. Die Ärztin gab, was die Patientin ihr bei der Untersuchung anvertraut hatte, wie folgt wieder: „Seit ungefähr 3/4 Jahren könne sie nicht mehr so gut mit ihrem Mann zusammen sein. Ab Juni 1950 habe sie keinen Appetit mehr, sie sei immer sehr müde gewesen, habe immer früh zu Bett gehen wollen, der Schlaf sei etwas unruhiger.“[17] Die Formulierung, dass die Patientin „nicht mehr so gut mit ihrem Mann zusammen sein“ könne, deutet an, dass sie ihren „ehelichen Pflichten“ nicht mehr nachkommen konnte. Die Akte erschien zunächst nicht einschlägig für unser Forschungsthema zu sein, da es viele Akten gibt, in dem Probleme in ehelichen Beziehungen geschildert werden. Jedoch gegen Ende – die Patientin war ca. 1 Monat dort – findet sich folgender Eintrag: „Zur Anamnese gibt sie noch an, dass vergangenes Jahr im Juni die Appetitlosigkeit begonnen habe. Damals habe auch die Freundschaft begonnen. […] Nachzutragen ist noch, daß die Pat.  […] von einem Erlebnis berichtete, das sie sehr stark mitgenommen habe. Sie hatte sich mit einer Nachbarsfrau befreundet und ganz gegen ihren Willen sei so etwas wie eine Verliebtheit über sie gekommen. Weder ihr Mann noch diese Dame habe sie recht ernst genommen und sie habe sehr darunter gelitten. Sie habe dann die Freundschaft erst in der letzten Zeit abgebrochen.“[18]  

Es ist bezeichnend, dass die Patientin offenbar selbst den Beginn ihrer Beschwerden im Zusammenhang mit ihrer Verliebtheit erlebte und datierte, die behandelnde Ärztin dies aber erst als Nachtrag notierte und nicht in einen kausalen Zusammenhang mit der Erkrankung brachte. Stattdessen wurde die Patientin neurologisch untersucht, da sie von Schwierigkeiten beim Gehen, Schreiben und Rechnen berichtet hatte. Ihre Symptome wurden mit aktivitätsfördernden Medikamenten behandelt. Die Einträge in der Akte über das Befinden der Patientin werden daraufhin positiver, sie sei „munterer“ und nehme „gelegentliche Körperstörungen nicht so tragisch“. Was die Patientin sagte, wird, so liest es sich, nahe am O-Ton wiedergegeben: „Schlafen könne sie zur Zeit ordentlich mit Somnifen […] Ihre Stimmung sei gut, es sei ihr so, daß sie dauernd lachen könne.“ Alle Symptome, unter denen die Patientin litt, wurden medikamentös behandelt, so dass sie den ärztlichen Notizen zufolge wieder zu Kräften kam, besser schlafen konnte und sich auch der Appetit einstellte. Aus den Briefwechseln zwischen der Patientin und der behandelnden Ärztin geht hervor, dass sich die Patientin auch Jahre nach dem Klinikaufenthalt Rezepte für diese Medikamente ausstellen ließ. Das „Problem“, dass sie „nicht mehr so gut mit ihrem Mann zusammen sein“ konnte und sich in ihre Nachbarin verliebt hatte, wird außer in der oben zitierten Bemerkung in der Akte nicht weiter thematisiert. Es ist quasi ‘zum verrückt werden‘, wie weit die Ignoranz gegenüber der homoerotischen Neigung der Patientin ging. Andererseits wurde das homoerotische Empfinden der Patientin ganz offensichtlich nicht mit dem in den zeitgenössischen Schriften beschworenen Bild der gefährlichen, kriminellen Lesbe in Verbindung gebracht. Möglicherweise auch deshalb, weil die Patientin verheiratet war und über eine Verliebtheit hinaus ihren Emotionen keine Taten folgen ließ, und somit keine Anzeichen für die Einordnung als weibliche Homosexuelle darbot. 

Während in dieser Patientinnenakte die Liebe zur Nachbarin explizit erwähnt wird, fanden wir weitaus häufiger Akten, in denen eine innige Frauenbeziehung nur angedeutet wird. So ist in der Akte einer 25-jährigen Patientin, die 1948 in die Heidelberger Klinik aufgenommen wurde, zu lesen, dass sie immer „lebenslustig“ gewesen, gern Tanzen und ins Kino gegangen sei, sich allerdings nach dem Wegzug ihrer Freundin zu Hause zurückgezogen habe. Offenbar war die Beziehung zu dieser Freundin sehr wichtig für die Patientin gewesen. Handelte es sich um eine Freundschaft oder eine Liebesbeziehung? Die Akte lässt dies offen, auch wenn ihre Verhaltensänderung und psychische Befindlichkeit mit der Trennung von der Freundin in einen direkten Zusammenhang gebracht wurden.[19]

Um nicht in dem binären Geschlechtermodell verhaftet zu bleiben, achten wir auch auf Hinweise in den Akten, ob Patient*innen, etwa aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbilds, als Personen wahrgenommen wurden, die nicht eindeutig weiblich wahrgenommen wurden. So wird z.B. in einer Akte angemerkt, dass die Patientin sich „ihre Haare schlecht macht“ und einen Bart habe. Hinter dem Wort Bart wurde ein Ausrufungszeichen gesetzt und das Aussehen der Patientin wurde durch ein Porträtfoto dokumentiert.[20] Ähnlich in einer weiteren Akte, in der im körperlichen Befund bemerkt wird: „35 j. Pat. von leptosomem Habitus, sehr mager und ungewöhnlich muskulös, männlich wirkend […] Sprache rauh und tief.“[21] Solche nebensächlich erscheinenden Bemerkungen sind insofern für unsere Fragestellung entscheidend, weil wir sie in Serie gesammelt und analysiert haben, um ein umfassenderes Bild der Verhandlung von Geschlechter- und Sexualitätskonzeptionen in der Nachkriegspsychiatrie zu erhalten.

Dadurch, dass Sexualität in den untersuchten Akten der Zeit nach 1945 völlig ausgeklammert wird und (vermeintlich) ledige Frauen* zum gewöhnlichen gesellschaftlichen Bild der BRD gehörten, gestaltet sich die Suche nach lesbischen* Frauen* in der unmittelbaren Nachkriegszeit deutlich schwieriger als für die Jahrzehnte zuvor. Festzuhalten ist, dass körperliche Merkmale, welche von einer klaren zweigeschlechtlichen Norm abwichen, notiert wurden, daher also auch von Bedeutung waren. Desweiteren wurde homoerotisches Begehren offenbar solange toleriert, wie es nicht öffentlich sichtbar ausgelebt wurde, solange es also ignorierbar war und nicht an den Geschlechterverhältnissen rüttelte. Denn auf der anderen Seite wurde lesbische* Liebe juristisch explizit als „nicht erlaubt“ eingestuft und es gab in wissenschaftlichen Publikationen deutliche Theorien zur Pathologisierung und Kriminalisierung lesbischen* Begehrens.

Inwiefern diese in der psychiatrischen Praxis umgesetzt wurden, müssen weitere Forschungen zeigen, da das untersuchte Sample der Nachkriegszeit begrenzt ist und sich bisher ausschließlich auf die Akten der Heidelberger Psychiatrischen Klinik bezieht. In einem anschließenden Forschungsprojekt wollen wir neben der Sichtung weiterer Akten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit den Fokus auf die Patient*innengeschichte „von unten“ weiter beibehalten. Durch Interviews mit psychiatrieerfahrenen Frauen* wollen wir die Perspektive frauenliebender Frauen* auf die Psychiatrie in den 1970er Jahren herausarbeiten.

 

 


[1] „Alleinstehende Frauen“, „Freundinnen“, „Frauenliebende Frauen“ – Lesbische* Lebenswelten im deutschen Südwesten (ca. 1920er-1970er Jahre), Laufzeit: 4/2021–10/2022, [14.12.2022].
[2] Das * hinter dem Wort Frauen soll zum Ausdruck bringen, dass wir nicht davon ausgehen können zu wissen, ob diese sich selbst so fühlten oder ob sie falls es ihnen möglich gewesen wäre z.B. lieber als Mann gelebt hätten. Das * hinter dem Wort Lesben bezieht sich darauf, dass dieses Wort eigentlich erst in den 1970 Jahren als Selbstbezeichnung Verwendung fand und auch heute noch von frauenliebenden Frauen zuweilen abgelehnt wird.
[3] Klöppel, Ulrike: Die „Verfügung zur Geschlechtsumwandlung von Transsexualisten" im Spiegel der Sexualpolitik der DDR [Drittveröffentlichung], in: Marbach, Rainer/ Weiß, Volker (Hg.): Konformitäten und Konfrontationen. Homosexuelle in der DDR, Hamburg 2017, S. 64-69.
[4] Brückner, Burkhart u.a.: Geschichte der Psychiatrie „von unten“ – History of Psychiatry “from below”. Entwicklung und Stand der deutschsprachigen Forschung, in: Medizinhistorisches Journal 4 (2019), S. 347–376.
[5] Weinschenk, Claudia: „Auch fühlte ich mich immer mehr zu meinem Geschlecht hingezogen“. Ein Forschungsprojekt zur Auffindbarkeit lesbischer Frauen in Psychiatrien während des Nationalsozialismus, in Invertito 22 (2020), S. 46-76. Siehe auch das Forschungsprojekt von Claudia Weinschenk, [15.11.2022].
[7] Vgl. Brink, Cornelia: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980, Göttingen 2010, S. 364.
[8] Plötz, Kirsten: "Echte" Frauenleben? "Lesbierinnen" im Spiegel öffentlicher Äußerungen in den Anfängen der Bundesrepublik, in: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. 1. Jahrgang (1999), S. 47-70, S. 52.
[9] Vgl. Schoppmann, Claudia: Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität, Pfaffenweiler 1991, S. 117–142.
[10] Caprio, Frank S. Die Homosexualität der Frau. Zur Psychodynamik der lesbischen Liebe. Eine Studie für Ärzte, Juristen, Erzieher, Seelsorger, Lagerleiter und Leiter von Straf- und Besserungsanstalten für Frauen und Mädchen, Rüschlikon-Zürich 11958.
[11] Hentig, Hans von: Die Kriminalität der lesbischen Frau, Stuttgart 1959. 
[12] Schelsky, Helmut: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Stuttgart 1953.
[13] Vgl. Plötz, Kirsten: Als fehle sie bessere Hälfte. Alleinstehende Frauen in der frühen BRD 1949-1969, Königstein i.Ts. 2005, S. 17-21.
[14] Plötz, "Echte" Frauenleben?, S. 50.
[15] Zitiert nach Boxhammer, Ingeborg: Anforschungsergebnisse zur (straf)rechtlichen Verfolgung lesbischer, bisexueller und/ oder trans* Frauen nach 1945. Anforschungsbericht im Auftrag der ARCUS-Stiftung für das Referat „Politik für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle (LSBTTI) 2014, [14.12.2022].  
[16] Plötz, "Echte" Frauenleben?, S. 69.
[17] Universitätsarchiv Heidelberg (UAH): Bestand Patientenakten der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg, L-III-Frauen, 51/167.
[18] Ebd.
[19] UAH: Bestand Patientenakten der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg, L-III-Frauen, 48/49.
[20] UAH: Bestand Patientenakten der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg, L-III-Frauen, 48/89.
[21] UAH: Bestand Patientenakten der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg, L-III-Frauen, 52/285.

Diana auf dem Sonderpfad

von
Collin Klugbauer

„Wir interessieren uns nicht nur für die Verfolgten und Geschlagenen, wir interessieren uns auch für die, die leben, queer lieben, kämpfen und glücklich sind.“[1]

Historische Erzählungen und Kunstwerke von und über LSBTIQ*s[2] sind in deutschen Museen immer noch unterrepräsentiert. Sind sie doch vorhanden, ist die Darstellung oft einseitig. Wahrlich queere Zugänge zu Ausstellungen und musealen Sammlungen sind noch rarer gesät. Wo das Problem liegt und wie geglückte Versuche aussehen können, davon erzählt dieser Essay.

 

Lotte und die latente Homoerotik

Zwei Frauen, eine legt die Hand auf die Schulter der anderen, ihr Blick ist auf eine Leinwand gerichtet. Die andere, offensichtlich die Künstlerin, hält einen Pinsel und eine Mischpalette in den Händen, blickt geradewegs aus dem Bild heraus und fixiert die Betrachtenden. Die Szene wirkt vertraut, die beiden Frauen scheinen sich nah zu stehen. Auf dem Gemälde zu sehen sind Gertrud, genannt Traute, Rose (1903-1989) und die Künstlerin selbst, Lotte Laserstein (1898-1993). Das Motiv von „Ich und mein Modell“ von 1929/1930 wurde oft mit der Figur der Muse assoziiert – Traute als kontinuierlicher Quell von Inspiration für Lotte. Anders als üblich wird hier aber kein männlicher Maler von der femininen Schönheit seiner Muse inspiriert, sondern es sind zwei Frauen, zwischen denen sich eine schöpferische Kraft entfaltet. Die Nähe zwischen den beiden ist unbestreitbar, wie genau ihr Verhältnis zu fassen ist, ist aber schon heikler zu beschreiben.

Traute Rose nimmt einen wichtigen Platz im Werk Lasersteins ein: Sie saß ihr für viele Arbeiten Modell, so für fast alle Aktbilder, die Laserstein Ende der 1920er bis Anfang der 1930er Jahre schuf. Im opulenten Ausstellungskatalog „Lotte Laserstein 1898-1993. Meine einzige Wirklichkeit“, einer Retrospektive, die vom Verborgenen Museum 2003/2004 im Museum Ephraim-Palais gezeigt wurde, heißt es über zwei Gemälde, auf denen Rose zu sehen ist:

„Ein latent homoerotischer Subtext wie auch die Betonung des gemeinsamen Schaffens war bereits der Selbstdarstellung mit dem liegenden Akt eigen. […] In der Blickführung des Doppelbildnisses [Ich und mein Modell], die eine Dreiecksfigur ergibt, manifestiert sich die Eingebundenheit und die besondere Bedeutung, die Rose für das künstlerische Schaffen Lasersteins hatte.“[3]

Welche besondere Bedeutung Rose nicht nur für das künstlerische Schaffen Lasersteins hatte, darum wird gerungen und sich seltsam herum gewunden. Ein Beispiel dafür ist der Ausstellungstext zur beachtlichen Werkschau Lasersteins, die 2018/19 im Frankfurter Städel Museum und 2019 in der Berlinischen Galerie gezeigt wurde. Über das Gemälde „In meinem Atelier“ (1928), das ebenso Laserstein zeigt, wie sie einen liegenden Akt von Traute Rose anfertigt, heißt es dort:

„Bis heute hat die Vertrautheit der Szene immer wieder Fragen nach der Liebesbeziehung zwischen Malerin und Modell provoziert, die sich aber mangels Quellenmaterial nicht belegen lässt.“[4]

Waren Laserstein und Rose wirklich nur Freundinnen, Vertraute, wechselseitige Inspiration und Unterstützung? Oder waren sie Liebhaberinnen, romantische oder sexuelle Partnerinnen? Und spielt die Art ihres Verhältnisses denn eine Rolle?

Spannend an der Auseinandersetzung über ein mögliches homosexuelles oder homoromantisches Verhältnis zwischen Laserstein und Rose, aber auch über die sexuelle Orientierung Lasersteins im Allgemeinen, ist die Vehemenz, mit der darauf hingewiesen wird, dass dafür keine stichfesten Beweise zu erbringen seien. Im gleichen Katalog fasst zwar Kristin Schroeder das Verhältnis etwas ambivalenter, jedoch weist sie den Versuch, die Beziehung der beiden auch erotisch oder sexuell zu deuten, scharf zurück: „[E]twas derartiges zu behaupten, würde die facettenreiche Darstellung der Nähe zwischen zwei Freundinnen, […] auf grobe Weise unterminieren.“ Unter Rekurs auf die Literaturwissenschaftlerin Sharon Marcus spricht sie sich gegen die „Anwendung der lesbischen Theorie“ als „Masterdiskurs“ aus, der „unsere Fähigkeit, Komplexität weiblicher Freundschaft zu erkennen,“ limitiere. Stattdessen implizierten die Darstellungen von Lasersteins weiblichen Akten „eine Lust an Freundschaften zwischen Frauen und bieten eine Alternative zur herkömmlichen Ausschließlichkeit eines entweder – oder, zu Freundin oder Geliebte.“[5]

 

Im Museumscloset

So sehr hier zu begrüßen ist, dass soziale Verhältnisse als bedeutungsvoll, intim und signifikant anerkannt werden, egal ob sie sexueller, romantischer oder platonischer Natur sind oder sich vielleicht gar nicht entlang dieser Grenzziehungen festmachen lassen, so sehr wundert doch auch hier die Herbeizitierung eines lesbischen Masternarratives, das alle Nuancen weiblicher Beziehungen zu nivellieren droht. Denn wenn man sich umblickt in den Annalen der (Kunst-)Geschichte, scheint es eigentlich gar keine Lesben gegeben zu haben.

Viel häufiger als die Eingemeindung von heterosexuellen Frauenfreundschaften in ein lesbisches Narrativ ist doch gerade das umgekehrte Phänomen zu beobachten: Ambivalenzen und queere Zwischentöne in Künstler*innen-Biografien und deren Sujets werden zugunsten einer heteronormativen Lesart aufgelöst und zum Verstummen gebracht, Queerness[6] wird „übersehen“ oder aktiv ausradiert. Es ist ein Leichtes, im Museum unfreiwillig ungeoutet zu bleiben, haben Museen ihre Protagonist*innen doch zuhauf in den „Closet“ verbannt: Queere Biografien bleiben auch heute oft unerwähnt und leisten damit der impliziten Annahme Vorschub, die Künstler*innen hätten heterosexuell und cis-geschlechtlich gelebt. Dass das nicht einfach ein systemischer Nebeneffekt ist, sondern eine gewisse Verdrängungsleistung voraussetzt, offenbart beispielsweise ein Blick in die dauerhafte Sammlungspräsentation der Berlinischen Galerie, die ja durchaus eine beachtliche Anzahl von Werken queerer Künstler*innen umfasst. Neben Lotte Laserstein finden sich dort Arbeiten von Herbert Tobias, Jeanne Mammen, Werner Held, Rainer Fetting, Hannah Höch und in früheren Hängungen auch Gertrude Sandmann. Doch wer durch die Ausstellung wandert, bekommt von deren Queerness so gut wie nichts mit. Keines der ausgestellten Werke hat ein LSBTIQ*-Sujet (obwohl es solche in der Sammlung gibt), kein biografischer Text verrät genug, um auch diesem Aspekt der Identität der Künstler*innen Rechnung zu tragen.[7]

Wenn queere Aspekte der Biografien verschwiegen werden, passiert es, dass sie – wenn Besucher*innen die Lebenswege und Werke dieser Künstler*innen nicht bereits kennen – als heterosexuell und cis-geschlechtlich eingeordnet werden. Bei den oben genannten Künstler*innen lassen sich Hinweise noch leicht recherchieren. In Anbetracht von Verfolgung und Diskriminierung, denen homosexuelle, trans* und inter* geschlechtliche Menschen ausgesetzt waren, ist es nicht verwunderlich, dass sich oft keine offensichtlichen und für den cis-heteronormativen Blick zugänglichen Hinweise auf queere Lebensentwürfe finden. Homosexuelle oder homoromantische Beziehungen, Liebschaften und Verhältnisse waren bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts kaum offen lebbar und konnten sich nur verschlüsselt ausdrücken – männliche Homosexualität war bis 1994 nach §175 in Deutschland strafbar, erst 1969 wurde der Paragraf liberalisiert, lesbisches Begehren und Sexualität sowie trans* Identitäten wurden durch gesellschaftliche Normen und Werte und nicht zuletzt patriarchale ökonomische Strukturen abgewertet und in ein Schattendasein gedrängt. Out sein war gefährlich. Dass queere Lebensentwürfe nicht öffentlich gelebt und gezeigt werden konnten, hatte zur Folge, dass in künstlerischen Arbeiten und biografischen Zeugnissen allenfalls vorsichtige Andeutungen zu finden sind.

„Desire leaves no archeological traces,“[8] schreibt R. B. Parkinson im Buch „A little Gay History. Desire and Diversity across the World“. Parkinson wirft einen queeren Blick auf die Dauerausstellung des British Museum und findet dann doch ziemlich viele Spuren von nicht-normativem Begehren. Ein solches queer reading setzt voraus, Wissen und Erfahrung über LSBTIQ* Lebenszusammenhänge zu haben, um queere Spuren als solche erkennen und Zusammenhänge richtig einordnen zu können. Dieses Wissen fehlt oft bereits zu einem früheren Zeitpunkt, wenn Objekte bei der Aufnahme in die Sammlung nicht oder kaum unter LSBTIQ* Kriterien verschlagwortet werden und demnach auch später nicht wieder als solche auffindbar sind. Aus Parkinsons‘ umfassenden Forschungsergebnissen ist der „Desire, love, identity – LGBTQ histories trail“ entstanden, den die Besucher*innen mit Texten auf der Website des Museums, in einer Broschüre oder in Form eines Audioguides ablaufen können.[9]

Parkinson fordert auch herkömmliche archäologische Einordnungen heraus – warum wird von historischen Objekten wie einer kleinen Steinskulptur, die 9000 v. C. in Palästina entstanden ist und zwei Figuren zeigt, erst einmal angenommen, dass es sich um eine Frau und einen Mann handelt, obwohl das Geschlecht der Figuren unmarkiert ist?[10] Manchmal ist der Blick durch das Erwartbare verstellt und muss verändert werden, um Spuren von als deviant gebrandmarkten Begehren und Identitäten in den Archiven und Sammlungen frei zu legen.

„Museen schaffen [...] nicht nur Bilder, die den gesellschaftlichen Normen und Werten entsprechen, sondern thematisieren auch Verborgenes. Denn sie repräsentieren nicht nur das, was zu sehen ist, sondern auch, was dem öffentlichen Diskurs und der Wahrnehmung entzogen werden soll und damit ausgeschlossen wird.“[11]

Um das Verborgene zu finden, ist ein bisschen Recherchelust und Mut, vielleicht getrieben von Frust, aber auch spezifisches queeres Wissen nötig, um hinter heteronormativ verpackten Erzählungen ein queeres Aufblitzen zu finden. Sonst bleiben neben den cis-Heterosexuellen immer nur zwei sehr gute Freundinnen, Freundespaare, Schwestern, ewige Junggesellen, alte Jungfern oder Alleinstehende übrig. Das sind Begriffe, die queere Museumsbesucher*innen zumeist aufhorchen lassen – wurden dahinter doch so oft queere Biografien begraben und unsichtbar gemacht und LSBTIQ*s im Museumsdisplay eingemeindet in die stillschweigend gesetzte Norm der cis-heterosexuellen Lebenswelt. Was für biografische Darstellungen von queeren Personen gilt, kann auch auf Räume, Szenen und Bewegungen übertragen werden.

Wirft man einen Blick auf die deutsche Museenlandschaft, scheint die Lust an der Recherche noch nicht so ganz erwacht zu sein – so dünn gesät sind LSBTIQ* Erzählungen in den permanenten Sammlungspräsentationen und Sonderausstellungen. Immerhin gibt es zunehmend mehr Sonderausstellungen, die LSBTIQ* Themen verhandeln: 2015 eröffnete mit „Homosexualität_en“[12] einem Kooperationsprojekt des Schwulen Museums (SMU) und des Deutschen Historischen Museum (DHM) eine der wegbereitenden Ausstellungen, mit deren Platzierung im DHM queere Themen als Teil von allgemein relevanter Geschichte anerkannt wurden. Weitere Ausstellungen, die auch an anderen Orten als Museen zu sehen waren, wie die 2017 im Landtag Wiesbaden eröffnete Wanderausstellung „Unverschämt. Lesbische Frauen und schwule Männer in Hessen von 1945 bis 1985“[13], die 2019 eröffnete und auch digital verfügbare „Love at First Fight! Queere Bewegungen in Deutschland seit Stonewall“[14] oder die 2022 im Alten Rathaus Göttingen gezeigte „In Bewegung kommen. 50 Jahre queere Geschichte(n) in Göttingen“[15] kamen hinzu. Jüngst eröffnete im Oktober 2022 im NS-Dokumentationszentrum München die Ausstellung „TO BE SEEN. Queer lifes 1900-1950“[16]. Es hat sich also durchaus etwas getan.

 

„Hier ist’s richtig“ – Eldorado im Berlin Museum

Dass marginalisierte Gruppen wie Queers in deutschen Museen lange nicht als relevante Akteur*innen von kultureller und künstlerischer Produktion, aber auch Subjekte in der Geschichte wahrgenommen wurden, zeigt die Entstehung einer der ersten LSBTIQ* Ausstellungen in der BRD. Erst 1984 durfte mit der Sonderausstellung „Eldorado. Homosexuelle Männer und Frauen von 1850-1950“ queere Geschichte ins Berlin Museum einziehen. Entgegen dem Spruch „Hier ist`s richtig“, mit dem das titelgebende Berliner Tanzlokal Eldorado aus den 1920er Jahren auf seiner Außenfassade warb, war es für Queers lange nicht richtig im Berlin Museum. Mangelndes öffentliches Interesse am Thema gab es wohl nicht – die Ausstellung, die auf die Initiative einer Gruppe schwuler Männer und lesbischer Frauen zurück ging und von dieser Gruppe kuratiert wurde, war die bis dahin besucherstärkste in der Geschichte des Museums.

Dass die Initiativgruppe die Form einer Ausstellung und nicht nur einer Publikation gewählt hat, hängt vielleicht auch mit der Bedeutung von Museen als kulturellem Gedächtnis von Gesellschaften zusammen. Sie kanonisieren Wissen und dienen Gesellschaften dazu, sich selbst über ihre kulturellen Werte und Normen zu verständigen und zu versichern. Oft untermauern Museen das mit einem Gestus der Autorität, indem die subjektive Konstruktion dieser Vorstellung der Wirklichkeit als Objektivität verschleiert wird. Auch wenn dieser Gestus durchaus kritisch zu betrachten ist, kann er dafür sorgen, queere Themen sichtbar zu machen:

„Museums, because they are perceived as delivering an authoritative account of history, can play a unique role in promoting inclusion. To the heterosexual majority, they can say ‘here it is, the material evidence before your very eyes’. To gay men and lesbians, they can say ‘your lives count’."[17]

Bezeichnend an queeren Interventionen ist, dass sie sich oft nicht in die institutionellen Praktiken etablierter Museen einschreiben: Die Objekte verlassen mit den Sonderausstellungen wieder die Vitrinen, mit dem letzten Nagel an der Ausstellungswand zieht auch das queere Versprechen wieder aus dem Haus aus. Die Wände werden neu gestrichen, die permanenten Sammlungspräsentationen sind seltsam unangetastet von diesem neuen queeren Geist, der kurz wehen durfte. Es bleibt nicht viel.

Nachhaltig war Eldorado auf andere Art: Im Nachgang der Ausstellung wurde von einem Teil der Kurator*innen 1985 das Schwule Museum gegründet als Institution, die am Anfang vor allem schwule Geschichte, Kultur und Kunst sammelte, erforschte und ausstellte, mittlerweile seine Sammlungs- und Ausstellungspraxis auf lesbische, trans*, inter* und queere Themen erweitert hat. Das Schwule Museum schreibt Geschichte von unten und kämpft dafür, dass LSBTIQ*s einen Platz in den historischen Narrativen bekommen.

 

Diana auf dem Sonderpfad

Wenn sich queere Themen doch mal länger ins Museum einmieten dürfen, werden sie oft an den Rand gedrängt. So wurden im British Museum die Themen des „LGBTQ histories trail“ nicht einfach in die Objekttexte eingearbeitet, sondern sie sind ein optionales Zusatzangebot, das Besucher*innen auch erst einmal finden müssen. Auch die Textebene von „Der zweite Blick. Spielarten der Liebe“[18], eines ausstellungsbegleitenden Projektes des Bode Museums, das sich mit der dauerhaften Sammlungspräsentation beschäftigt, ist lediglich ein Add-On. Das Projekt will sich „mit der Vielfalt sexueller Identitäten, ihrer Wahrnehmung, Bewertung und künstlerischer Verarbeitung befassen“.[19] So erfahren Besucher*innen auf laminierten Karten, die neben den Objekten am Boden stehen, beispielsweise etwas über die Rezeption des Heiligen Sebastians als Patron homosexueller Männer, die antike Göttin Diana und ihr lesbisches Begehren oder die geschlechtliche Transformation der Heiligen Kümmernis.

Die Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen und Sexualitäten wird auf diese Weise als eine Zusatzleistung betrachtet, sobald es um nicht-normative Lesarten geht. Warum muss es eigentlich einen Sonderpfad für queere Erzählungen geben? Warum werden diese Themen nicht als interessant genug wahrgenommen, um es in die Haupttexte zu schaffen?

So lobenswert der Versuch ist, gerade in Sammlungen wie der des Bode Museums einen zweiten Blick anzulegen, gelingt es Projekten wie diesen nicht immer, tatsächlich auch eine queere Perspektive einzunehmen. Leider verfallen auch die Texte von „Spielarten der Liebe” an vielen Stellen in stereotypen Erzählungen, reflektieren Gewaltverhältnisse nicht adäquat oder bleiben in der Logik des heterosexuell, cisgeschlechtlich imaginierten „Wir“, das auf die Anderen schaut, verhaftet. Etwa im neu übersetzten Glossar, das unkritisch aus dem Victoria & Albert Museum übernommen wurde, und in dem die Rede davon ist, dass „trans“ „[e]ine gelegentlich verwendete Abkürzung, die sich auf einen Menschen mit abweichender Geschlechtsidentität bezieht,“[20] sei. Damit wird Cis-Geschlechtlichkeit einmal mehr zur Norm erklärt und eine nicht-hierarchische Betrachtung geschlechtlicher Identitäten verunmöglicht. Oder wenn behauptet wird, dass sich der Begriff „Homosexuelle“ „sowohl auf Männer als auch auf Frauen [bezieht], [er] [...]aber vor allem für schwule Männer verwendet [wird]“[21] und sich damit eine männliche Norm auch im LSBTIQ* Vokabular einschleicht.

Dass es auch anders geht, zeigt ein weiteres Projekt des Bode Museums. Mutiger und entschieden queer ist „Let’s talk about Sex and Art“ – ein Workshop, der im Rahmen von „Lab.Bode“, einem fünfjährigen Outreach und Vermittlungsprogramm für Kinder und Jugendliche, entwickelt wurde. Hier wird gezeigt, dass in Vermittlungsprogrammen auch mit einer Sammlung, die wahrlich nicht der Inbegriff von Diversität ist, gearbeitet werden kann, ohne dass die durch die Objekte nahe gelegten Herrschaftsverhältnisse reproduziert werden.

„Wichtig war lab.Bode bei der Neusichtung der Sammlungsobjekte, die Reproduktion von Heteronormativität und binärer Geschlechterrepräsentation zu adressieren und in unserem Bildungsauftrag die Perspektive der sozialen Gerechtigkeit und Diversität umzusetzen“[22]

In einer Übung des kostenlos erhältlichen Methodenkoffers wird z.B. anhand einer Skulptur von Adam und Eva von 1650 gerade das Spezifische der heterosexuellen Begehrensform thematisiert. Die Jugendlichen werden aufgefordert, sich im Museum umzusehen, um bewusst wahrzunehmen, dass heterosexuelle Paarkonstellationen in den Werken der Sammlung dominieren. Dazu erklärt der Begleittext, dass „[h]eterosexuelles Verlangen […] eines von vielen möglichen Begehren [ist], schön und komplex, wie alle anderen Formen des Begehrens. Soweit, so gut. Es gibt da nur einen Haken, die Heteronormativität.“[23] Die Jugendlichen werden dazu aufgefordert, sich eine Welt vorzustellen, die anders eingerichtet ist:

„Spielt in verteilten Rollen in kleinen Gruppen eine Coming-out-Situation, in der sich die beiden dargestellten Figuren als heterosexuell bekennen. Genau, richtig verstanden: als heterosexuell.“[24]

Gerade Museen wie das Bode Museum werden von vielen Schulklassen besucht. Auch queere Jugendliche haben ein Anrecht, als Teil dieser Gesellschaft vorzukommen, nicht diskriminiert zu werden und sich repräsentiert und gesehen zu fühlen. Am Ende profitieren alle Jugendlichen von einer Vermittlungsarbeit, die diskriminierungssensibel und diversitätsorientiert arbeitet und sie als Individuen mit unterschiedlichen Identitäten und Bedürfnissen ernst nimmt. Damit wird auch ein demokratischer Bildungsauftrag ernst genommen.

 

Von der Fortpflanzung hin zu Sexualitäten – ein Neuanfang im DHMD

Ein Beispiel aus Dresden zeigt, wie man eine queere kuratorische Haltung anlegen kann und sich auch dauerhafte Sammlungspräsentationen kritisch befragen und verändern lassen. Das Deutsche Hygiene-Museum Dresden (DHMD), das auch von vielen Schulklassen besucht wird, hat einen Teil seiner 2004 eröffneten Dauerausstellung überarbeitet und 2020 den Themenraum „Sexualitäten. Die Liebe, das Ich und die Vielfalt des Begehrens“ eröffnet. Mit dem alten Themenraum „Sexualität. Liebe, Sex und Lebensstile im Zeitalter der Reproduktionsmedizin“ wurde auch eine Vermittlung von Sexualität abgelöst, die „biologische und technische Aspekte von Sexualität und Fortpflanzung“ in den Vordergrund stellte und in dem „Sexualität jenseits einer heterosexuellen Norm nur an sehr wenigen Stellen vor [kam]“.[25]

In der neuen Sammlungspräsentation ziehen sich queere Aspekte durch alle Themenbereiche: von der Vitrine zur „Pubertät“, bei der selbstverständlich zwei cis- und ein trans* Jugendlicher abgebildet sind, über die Kurzfilme zu „Ersten Malen“, bei denen zwölf Personen, davon manche schwul, lesbisch oder trans*, über die erste Selbstbefriedigung oder das erste Verliebt-Sein berichten. In der Vitrine zu „Identität – Wer bin ich?” werden Geschlecht, Erziehung, Aussehen, Gewohnheiten oder Glaube als Themen behandelt, die für die Auseinandersetzung mit Identität eine Rolle spielen können. Geschlechtliche Identität ist damit ein Marker unter vielen, die Botschaft lautet, dass sie wichtig sein kann, aber Menschen nicht darauf reduziert sind.

Auch zeigt die Ausstellung, dass man über Körper und Körperteile wie Penis, Klitoris und Brüste sprechen kann, ohne sie zugleich untrennbar mit einer geschlechtlichen Zuschreibung zu verbinden. Sie verhandelt Themen wie sexuelle Anziehung, Begehren, Verliebt-Sein, aber auch sexuell übertragbare Krankheiten wertschätzend, und auf geschlechtliche und sexuelle Stereotypen verzichtend. Sie versucht, Aspekte wie Anerkennung, Intimität und Lust in den Vordergrund zu stellen. Fortpflanzung und Familienbünde spielen zwar eine Rolle, werden aber nicht priorisiert. Unterschiedliche sexuelle Praktiken wie Vaginalsex, Analsex und Vorlieben wie BDSM werden wertschätzend, sex-positiv und auf Stereotype verzichtend erklärt. Mögliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse in sexuellen Beziehungen (z.B. die Abwertung von Frauen und die Degradierung zu Sexobjekten) werden benannt, Konsens in allen Beziehungen als Leitprinzip etabliert.

Die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, die es in der Gesellschaft gibt, wird damit abgebildet – ohne Menschen anhand eines einzigen Merkmals zu verbesondern. Deshalb wurde in der Ausstellung auch der Ansatz gewählt, „keine Vitrine mit dem Titel ‚Homosexualität‘ oder ‚Queer‘ oder Trans*‘ zu zeigen. Stattdessen wird in jeder Ecke der Ausstellung gezeigt: Menschen sind vielfältig, Sexualitäten, Körper und Geschlechter sind vielfältig und waren es schon immer,“[26] wie Anina Falasca, eine der Kurator*innen, die Herangehensweise an den Themenbereich beschreibt. Die Ausstellung schafft es damit, Haltung zu zeigen und verschiedene Lebensentwürfe, Geschlechter und Sexualitäten zu normalisieren und vielfältige queere Lesarten zuzulassen.

Dafür muss eine queere kuratorische Haltung entwickelt werden, die Wissen um Sexualitäten, Geschlechter und Begehren historisch und lokal situiert und normierende Erzählungen aufbricht, wie sie auch von der Kulturwissenschaftler*in Jennifer Tyburczy eingefordert wird:

„Queer curatorship is a curatorial activity that can highlight and rearrange normative narratives about what it means to be a historically and geographically specific sexual subject. It can also materialize a spatial and discursive approach to display that utopically imagines new forms of sexual sociality and collectivity between bodies, things, and nations in public institutional display scenes, such as museums.“[27]

 

Queere Zukünfte

Veränderungen wie die schmerzlich langsame Veränderung am DHMD sind erfreulich, haben aber oft einen langen Vorlauf und sind noch viel zu selten. Auch geht das Queeren von Museen nicht in einer Ausstellungspräsentation von LSBTIQ*-Personen oder -Themen auf. Wie das Berliner Netzwerk Museen Queeren, in dem ich aktiv bin, schreibt, bedeutet „Queeren […] eine spezifische Praxis, die heteronormative und binäre Setzungen in Frage stellt. Dabei geht es nicht nur um eine bessere Repräsentation der Vielfalt von Geschlecht und Sexualität in den Sammlungen und Ausstellungen, sondern auch darum, durch wen und wie sie erreicht werden [sic]”[28].

Queeren kann auf vielen Ebenen stattfinden, wie auch Hannes Hacke in einem Interview mit dem Netzwerk auffächert: „Für die einen liegt der Schwerpunkt stärker darauf, eine größere Sichtbarkeit für bi, trans*, schwule, lesbische und inter* Geschichte, Identitäten und Kunst herzustellen. Andere setzen stärker auf eine Kritik an Kategorisierungen und den Mechanismen der ‘Inklusion‘ und eindeutiger Sichtbarkeit im Museum. Es gibt unterschiedliche Strategien [...].“[29]

Die Umsetzung dieser Maxime kann Unterschiedliches bedeuten und betrifft verschiedene Felder: Es kann heißen, dass Museen anfangen müssten, ihre Sammlung zu erweitern und gezielt LSBTIQ* Objekte zu akquirieren. Heteronormative Sammlungspraxen führen eben schlicht auch dazu, dass Objekte nicht als relevant für die Versinnbildlichung historisch wichtiger Ereignisse erachtet und damit bisher nicht gesammelt wurden. Es kann auch heißen, dass es sie vielleicht zwar in den Sammlungen gibt, sie aber nicht auffindbar sind, weil es keine Verschlagwortung gibt, die sie als queere Objekte erkennbar macht. Das heißt vielleicht auch, dass es keine Mitarbeiter*in in der Sammlung mit der notwendigen Expertise gibt, um queere Codes lesen zu können und Objekte zu entdecken und entsprechend zu labeln. Und es heißt, dass queeres Wissen – genauso wie rassismuskritisches Wissen – bisher nicht oder zu wenig als wertvoll und bereichernd für die Institution Museum anerkannt wird.

Museen queeren bedeutet, die Ausstellungs- und Sammlungspraxis und nicht zuletzt die Personalpolitik und die Grundfesten der Institution zu hinterfragen. Letztlich geht es darum, ein Versprechen einzulösen, nämlich Machtstrukturen abzubauen und die bereits vorhandene geschlechtliche und sexuelle Vielfalt der Gesellschaft auch auf allen Ebenen ins Museum einziehen zu lassen. Und das nicht nur als notwendiges Übel zu begreifen, sondern das utopische Potential zu sehen, das Queerness im Museum und queeres Kuratieren für alle haben kann.

 


[1] Sandra/Panda Ortmann im Interview mit Andrea Günther und Hannes Hacke, „,… die Bedeutung von queeren muss immer wieder neu verhandelt werden‘ Strategien des Netzwerks Museen Queeren Berlin“, 2020.
[2] LSBTIQ* ist ein Akronym und steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*, Inter* und Queers. Das Sternchen markiert, dass die Aufzählung nicht abschließend ist.
[3] Anna-Carola Krausse, Lotte Laserstein. Meine einzige Wirklichkeit, Dresden 2003, S. 119.
[4] Valentina Bay, Alexander Eiling, Elena Schroll, Katalog, in: Alexander Eiling, Elena Schroll, Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht, München - London - New York 2018, S. 82.
[5] Kristin Schroeder, Unsere Bilder. Freundschaft und weiblicher Akt, in: Alexander Eiling, Elena Schroll, Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht, München - London - New York 2018, S. 155. In der Ausstellung „Lesbisches Sehen“, die ich zusammen mit Birgit Bosold 2018 im Schwulen Museum kuratiert habe, gab es auch ein Gemälde von Laserstein zu sehen – den weiblichen Rückenakt mit dem Titel „Madeleine“, den die Malerin 1956 im Exil in Schweden angefertigt hat. Wir entwarfen mit der Ausstellung „eine utopisch-melancholische Galerie, die lesbischen Begehrensformen, Erfahrungswelten, Identitätsentwürfen und Lebensweisen auf der Spur ist,“, die assoziativer funktionierte als entlang der geforderten Beweislast, mit wem Laserstein Sex hatte.
[6] Im Text wird „queer“ in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Einmal wird „queer“ synonym zu LSBTIQ* verwendet und bezeichnet als Sammelbegriff Lebensrealitäten, Identitäten, Praxen und Begehrensstrukturen, die in einer Gesellschaft, die an cis-geschlechtlichen Personen, an heterosexuellen Identitäten und Begehren ausgerichtet ist, abgewertet, marginalisiert und auch strukturell diskriminiert werden. Queer wurde als Schimpfwort verwendet, ist aber mittlerweile eine positive Selbstbezeichnung, die sich wieder angeeignet wurde. Queer und insbesondere queering meint in meinem Text aber auch eine spezifische Kritikform und eine kuratorische Haltung, die versucht Sexualitäten, Geschlechter und Begehrensformen historisch und lokal zu verorten und damit die Naturalisierung von cis-heteronormativen Räumen aufzubrechen und Narrative komplexer werden zu lassen.
[7] Dieser Leerstelle hat sich das Volontär*innen-Projekt „Out and About. Queere Sichtbarkeiten in der Sammlung der Berlinischen Galerie“ gewidmet und genau diese queeren Aspekte ans Licht geholt: In einem Online-Projekt, das auf einer Unterseite der Berlinischen Galerie gehostet wird, untersuchen sie insgesamt elf Arbeiten auf ihre „queeren Lesbarkeiten“ und erweitern dadurch das sozial Vorstellbare im heteronormativen Raum Museum.
[8] R. B. Parkinson, A little gay history, London 2013, S. 10.
[9] British Museum, Desire, love, identity. LGBTQ histories trail, 2019.
[10] R. B. Parkinson, A little gay history, London 2013, S. 34.
[11] Roswitha Muttenthaler, Regina Wonisch, Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld 2006, S. 13.
[12] "Homosexualität_en", eine Ausstellung des DHM und des Schwulen Museums*, 26. Juni bis 1. Dezember 2015.
[13] Die Wanderausstellung wurde von Birgit Bosold und mir für das SMU kuratiert und basierte auf einem Forschungsbericht von Dr. Kirsten Plötz und Marcus Velke-Schmidt. Sie wurde 2017 im Landtag in Wiesbaden eröffnet und war an verschiedenen Orten in Hessen zu sehen. 
[14] International hieß das Projekt „Queer as German Folk“ und wurde von Birgit Bosold und mir für das SMU in Kooperation mit dem Goethe-Institut New York kuratiert. Die Wanderausstellung war weltweit an über 20 Orten zu sehen, in Deutschland bisher im SMU, im Abgeordnetenhaus Berlin und dem Thüringer Landtag.
[15] Ausstellung 2022: "In Bewegung kommen. 50 Jahre queere Geschichte(n) in Göttingen".
[16] "To be seen. Queer Lives 1900-1950" im NS-Dokumentationszentrum München.
[17] Angela Vanegas, Representing Lesbians and Gay Men in British Social History Museums, in: Amy K. Levin, Gender, Sexuality and Museums, London - New York 2010, S. 268f.
[18] Das Projekt wurde 2019 veröffentlicht und ist immer noch zu sehen, das Schwule Museum war Kooperationspartner*in.
[19] María López-Fanjul y Díez del Corral, Auf den zweiten Blick. Spielarten der Liebe, 2019.
[20] ebd., S. 37.
[21] ebd.
[22] Andrea Günther, Let’s talk about sex and art! Wie und warum wir im Museum über Gender und vielfältige sexuelle Lebensweisen sprechen sollten, in: Anna Pritz, Rafaela Siegenthaler, Marian Thuswald (Hg.), Bilder befragen. Begehren erkunden, Zeitschrift Kunst Medien Bildung, 2020.
[23] Pauline Recke, Taina Engineer, Andrea Günther, Nicola Lauré al-Samarai, Felicia Rolletschke, Let`s talk about Sex and Art! Methoden Kit, 2019, S. 87.
[24] ebd. S. 90.
[25] Anina Falasca, Sexualitäten ausstellen. Herausforderungen bei der Neukonzeption eines Themenraums im Deutschen Hygiene-Museum – ein kritischer Erfahrungsbericht, in: Maria Bühner (Hg.), Sexualitäten Sammeln. Ansprüche und Widersprüche im Museum, Wien - Köln 2021, S. 135.
[26] ebd., S. 154.
[27] Jennifer Tyburczy, Sex Museums. The Politics and Performance of Display, Chicago - London 2016, S. 3f.
[28] Vorstellung Netzwerk Museen Queeren, Abruf: 3.12.2022.
[29] Hannes Hacke im Interview mit Andrea Günther und Sandra/Panda Ortmann „,…die Bedeutung von queeren muss immer wieder neu verhandelt werden‘ Strategien des Netzwerks Museen Queeren Berlin“, 2020.

Aids-Bewegung in der Bundesrepublik

von
Eugen Januschke

von
Ulrike Klöppel

Bis zur Einführung der Kombinationstherapie Mitte der 1990er Jahre führte das HI-Virus zu schweren Krankheiten und Tod, vor allem unter Schwulen. In Westdeutschland kam es mit Beginn der Aids-Krise Anfang der 1980er Jahre zu einem konservativen rollback gegen die Tendenzen sexueller Liberalisierung.[1] Aids war die „Krankheit zur [geistig-moralischen] Wende“, insofern sie politisch „zur gesellschaftlichen Restauration“ instrumentalisiert wurde.[2] Doch Aktivist*innen, progressive Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Medienschaffende und Künstler*innen setzten sich dafür ein, der Diskriminierung von HIV-Positiven und sogenannten „Risikogruppen“ entgegenzuwirken und eine auf Lebensweisen-Akzeptanz und Selbstverantwortung basierende Präventionsstrategie zu fördern. Diese Anstrengungen trafen auf eine staatliche Gesundheitspolitik, die sich zunehmend auf New Public Health-Prinzipien ausrichtete, wozu zentral die Förderung von gesundheitlicher Eigenverantwortung und die Kooperation mit Selbsthilfenetzwerken gehörte. Eine rigide, am Bundesseuchengesetz ausgerichtete Aids-Politik wurde zugunsten einer Kooperation der AIDS-Hilfen mit dem Staat und der Durchsetzung eines liberalen Ansatzes zurückgedrängt. Dies beförderte die gesellschaftliche Integration von Schwulen und Lesben und führte zu einem erneuten Schub sexueller Liberalisierung.[3] Im Zuge der Bewältigung der Aids-Krise entstanden in der Bundesrepublik außerdem neuartige Umgangsformen, Konzepte und Institutionen in den Bereichen Gesundheit, Aktivismus und Kultur.[4]

Das in der Historiographie zu Aids in der Bundesrepublik verbreitete Erfolgsnarrativ blendet allerdings die Vielfalt und Widersprüchlichkeiten aktivistischer Kämpfe aus. Anregungen für eine komplexere Herangehensweise bietet die queer-politische Diskussion zur Geschichte der US-amerikanischen Aids-Bewegung, die sich vor allem auf die Ende der 1980er Jahre entstandene AIDS Coalition to Unleash Power (ACT UP) konzentriert. Diskutiert wird u.a. über die soziale Diversität der Aktivist*innen, die Herausforderungen der Zusammenarbeit sowie über die Frage, wie subversiv die Repräsentations- und Protestformen waren.[5] Deborah Gould zufolge setzte die New Yorker ACT UP-Gruppe auf konfrontative und sex-positive Interventionen, schmiedete sozial diverse, intersektionale Bündnisse und entwickelte eine kollektive Identität, die sich explizit gegen Heteronormativität abgrenzte. Dies zeichnete, so die Autorin, ACT UP als queer-politische Organisation aus.[6]

Auch wenn diese Einschätzung zur Radikalität US-amerikanischer ACT UP-Gruppen nicht durchgehend geteilt wird,[7] regen die von Gould herausgearbeiteten queer-politischen Aspekte dazu an, einen anderen Blick auf die Aids-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland zu gewinnen.[8] Bisherige Studien zur Bundesrepublik haben den Aids-Aktivismus zumeist primär in die Schwulengeschichte eingeordnet, während sie die Rolle von Junkies, Frauen, Migrant*innen etc. als ein Anhängsel behandeln.[9] Dieses Essay plädiert demgegenüber für eine queer-politische, an den Aspekten ‚intersektional‘, ‚anti-normativ‘ und ‚konfrontativ‘ orientierte Bestandsaufnahme der Aids-Bewegung in der Bundesrepublik und für deren Einordnung in die (queere) Zeitgeschichte.

 

Intersektionale Politiken

In den 1980er bis Mitte der 1990er Jahre entstand in der Bundesrepublik eine große Bandbreite von Initiativen und Organisationen, die sich zum Thema HIV/Aids engagierten: Schwuleninitiativen, AIDS-Hilfen, Sexarbeiter*innen-Projekte, Tuntenensembles, Positiventreffen, Community-Pflegedienste, Junkie-Selbsthilfe, ACT UP-Gruppen, Kirchengruppen, FrauenLesben- sowie migrantische Initiativen und Organisationen, die Aktivitäten wie Aufklärungskampagnen, Peer-Empowerment und -Beratung, Besetzungen von öffentlichen Räumen, Performances, Demonstrationen oder Gedenkveranstaltungen initiierten. Viele dieser Initiativen und Organisationen waren in sich sozial divers und adressierten unterschiedliche soziale Gruppen. So die AIDS-Hilfen, in denen sich auch bereits Mitte der 1980er Jahre (einzelne) FrauenLesben engagierten. Das Angebot der AIDS-Hilfen richtete sich explizit nicht nur an Schwule, sondern beispielsweise auch an Gefangene oder Konsument*innen von intravenös injizierten Drogen. Zudem gaben sie Broschüren in verschiedenen Sprachen heraus. Die AIDS-Hilfen schlossen auch Bündnissen etwa mit Sexarbeiter*innen-, feministischen oder alternativen Drogenhilfe-Organisationen. Auf diese Weise wollten die Bündnispartner*innen sich gruppen- und interessenübergreifend gegen Diskriminierung, Strafverfolgung und politische Pläne zur Isolierung und Internierung von HIV-Infizierten wehren. Zum Beispiel gründete sich in Nürnberg 1987 aus Anlass der Verhaftung eines HIV-Positiven das Komitee AIDS und Menschenrechte aus u.a. Schwulengruppen, Aktivist*innen der links-alternativen Szene, der AIDS-Hilfe Nürnberg-Fürth, der lokalen Drogenhilfe MUDRA und dem Ausländerbeirat der Stadt Nürnberg.[10] Ebenfalls 1987 formierte sich mit dem „Hessischen Netzwerk gegen AIDS-Zwangsmaßnahmen“ ein Bündnis aus Gewerkschafter*innen, der Darmstädter und Frankfurter AIDS-Hilfe, dem Prostituierten-Selbsthilfeprojekt „Huren wehren sich gemeinsam“ (HWG) und anderen.[11] Mit zwei in Frankfurt am Main Ende der 1980er Jahre veranstalteten Aktionstagen wurde zur „Solidarität der Uneinsichtigen“ aufgerufen, was sich explizit auf „Ausländer, Prostituierte, Junkies und Schwule“ (1988) bzw. auf „Schwule[], Junkies, Nutten, Knackies, Flüchtlinge, Menschen mit HIV u. AIDS“ (1989) bezog.[12]

Michael Bochow, der selbst auch Zeitzeuge ist, schreibt im Rückblick über die „Solidarität der Uneinsichtigen“, dass dies „eine ‚queer-politische‘ Aktion avant la lettre“ gewesen sei und meint damit, dass in dem Aktionsbündnis verschiedene Interessengruppen zusammenarbeiteten.[13] Die oben genannten Beispiele untermauern diese Einschätzung. Sie zeigen, dass (auch) in Deutschland bereits in den 1980er Jahren intersektionale aidspolitische Bündnisse aus einem breiten Spektrum von Initiativen geschmiedet wurden, wobei verschiedene Diskriminierungsformen gegenseitig wahrgenommen und politisch zusammengeführt wurden. Dies gipfelte in Versuchen, Identitätsgrenzen zu überschreiten bzw. eine kollektive Identität neu zu schmieden, verwirklicht insbesondere in der Formierung einer Identität aller „Positiven“ – egal welcher sozialen Gruppe sie entstammten. Eine explizite Politisierung der so verstandenen Positivenidentität formulierte Hans Peter Hauschild mit der anti-normativen, kämpferischen Selbstbezeichnung als „Underdogs“.[14]

 

Anti-normative Politiken

Mitte der 1980er Jahre sorgten Präventionskampagnen der AIDS-Hilfen, die auf Lebensweisenakzeptanz und Eigenverantwortung basierten, für die öffentliche Sichtbarkeit nicht-heteronormativer Sexpraktiken. Die Safer Sex-Materialien und -Aktionen zeichneten sich dabei durch einen sexpositiven Ansatz aus. Im Zuge der Aufklärung über mögliche Ansteckungsrisiken wurden schwule und – in geringerem Umfang auch – heterosexuelle Sexpraktiken und promisker Sex explizit (im Stil der jeweils angesprochenen Szene) adressiert. Erst zu Beginn der 1990er Jahre und im Umfang geringer gab es auch lesbische Safer Sex-Pornos, -Workshops und -Materialien, organisiert und produziert hauptsächlich außerhalb der AIDS-Hilfen. Diese beförderten ein sex-positives Selbstverständnis innerhalb der Lesbenszene.[15] Insgesamt sorgten die Safer Sex-Kampagnen für eine stärkere öffentliche Sichtbarkeit von schwulen und – in geringerem Maße – lesbischen Sexpraktiken und Lebensweisen.[16] Sie zeigten selbstbewusst die gesellschaftlich als „abnorm“ und „pervers“ stigmatisierten sexuellen Praktiken, statt einer Angleichung an heteronormative Vorstellungen von privater Zweisamkeit, Mäßigung und Reinlichkeit das Wort zu reden.

Auch in anderen Feldern der Aidsprävention finden sich Beispiele anti-normativer Politiken. So gab es zum Thema Drogengebrauch einzelne, gegen die gesellschaftliche Norm der Abstinenz gerichtete Anläufe, so insbesondere eine Präventionskampagne in Form einer Plakatserie der Deutschen AIDS-Hilfe aus dem Frühjahr 1991.[17] Der Text auf einem Plakat mit dem Titel „Von Kokain allein kriege ich kein AIDS“ befürwortete einen „überlegte[n] Umgang mit Drogen“ sowie mit „safer sex“, sprach sich aber zugleich für die Lust am Experimentieren mit Acid, Koks, Speed etc. aus. Das Plakat adressierte Drogengebrauchende als Menschen, „die intensiv und lustvoll leben wollen.“ Dazu passte der „rauschbejahende“ Ansatz, wie ihn Hans Peter Hauschild, Vorstandsmitglied der Deutschen AIDS-Hilfe, vertrat: Im Feiern aller Arten von Lüsten propagierte er eine kollektive und kollektivierende Praxis von Menschen, die von der Aids-Krise betroffen sind. Damit sollten sie ihre gesellschaftliche Marginalisierung „selbstbewusst“ umwenden in eine Kollektive Identität als „Außenseiter des Rausches“.[18]

Plakat der Deutschen AIDS-Hilfe e.V. "Von Kokain allein kriege ich kein AIDS", 1991, Gestaltung: Peder Iblher.

Dieser Ansatz war allerdings von Anfang an, auch in den AIDS-Hilfen selbst, umstritten.[19]

Auch im Bereich Sexarbeit entwickelte die Aids-Bewegung radikale Ansätze. Als es in den 1980er Jahren unter dem Vorwand der Bekämpfung von Aids vermehrt zu staatlicher Kontrolle und Verdrängung von Prostituierten kam, wehrten sich „Hurenorganisationen“, wie sie sich damals selbst bezeichneten. Sie verbündeten sich mit den AIDS-Hilfen, um gegen die Tabuisierung von Sexarbeit zu kämpfen. Sexarbeit sollte als Dienstleistung anerkannt und behördliche Kontrollen abgeschafft werden.[20]

Die hier beispielhaft angeführten Aids-politischen Ansätze zielten nicht auf gesellschaftliche Integration durch Angleichung. Vielmehr ging es um Freiräume für nicht-heteronormative, sex- und rauschbejahende Lebensentwürfe und alternative Beziehungsweisen. Deren öffentliche Sichtbarkeit sollte gesellschaftliche Wertvorstellungen und Normen transformieren.

 

Konfrontative Politiken

Zu den konfrontativeren aidspolitischen Interventionsformen in der Bundesrepublik gehörten vor allem die Aktivitäten der deutschen ACT UP-Gruppen, die sich ab Sommer 1989 organisiert hatten. Ihre Radikalität hob sich von den integrativen Strategien vieler anderer Aids-politischer Akteure ab.[21] Zu den Aktionen von ACT UP zählten beispielsweise Die-ins (kollektive Inszenierung symbolischen Sterbens) und Hausbesetzungen. Bei einer der Demonstrationen in Hamburg nahm ein Aids-kranker Aktivist in einem Krankenhausbett liegend teil.[22] Bei einer Berliner ACT UP-Aktion wurde Spritzbesteck über die Mauern einer Vollzugsanstalt geworfen.[23] Besonders drastisch war eine Störaktion vor dem und im Dom zu Fulda, bei der es zu tumultartigen Szenen in der Kirche kam. Anlässlich des Schlussgottesdienstes der Herbsttagung der Deutschen Bischofskonferenz am 26. September 1991 protestierten die Aktivist*innen verschiedener deutscher ACT UP-Gruppen gegen die schwulenfeindliche Haltung der Katholischen Kirche und Aids-Kranke diffamierende Äußerungen des Fuldaer Bischofs Dyba.

Protestaktion „Stoppt die Kirche“ von ACT UP vorm und im Dom zu Fulda am 26. September 1991, Filmstill „L“ aus Willkommen im Dom (1991, Regie: Jochen Hick). © Galeria Alaska Productions

Die Aktionen zeichneten sich dadurch aus, dass sie zu drastischer Symbolik griffen, im Ausdruck trotzig-selbstbehauptend bis wütend waren oder auch die Grenzen des Legalen überschritten.[24]

 

Schlussfolgerungen & Ausblick

Aus unserer Diskussion ergibt sich, dass es sich lohnt, die Aids-Bewegung in Deutschland aus einer queer-politischen Perspektive näher zu betrachten. Auf diese Weise werden auch intersektionale, anti-normative und konfrontative Praktiken sichtbar, die das Spannungsfeld der zivilgesellschaftlichen Aids-Politik mit konstituierten. Eine solche „Geschichte von unten“, die sich aus der queer-politischen Perspektive gewinnen lässt, kann die bisherige Forschung zur Aids-Geschichte der Bundesrepublik, die überwiegend staats-, institutions- und diskurszentriert ist, produktiv erweitern.[25] Der Fokus auf Bewegungspraktiken und -akteur*innen erlaubt, transformative Potentiale der historischen Situation – die Veränderungsmöglichkeiten, die die Aktivist*innen vor Augen hatten – auszuloten. Die „Solidarität der Uneinsichtigen“ zeigt, wie ein Möglichkeitsraum für eine Koalition marginalisierter Menschen eröffnet, gruppenübergreifende Beziehungsweisen vorgelebt und gemeinsame Protestformen gegen multidimensionale Machtstrukturen entwickelt wurden. Ein weiteres Beispiel ist die oben erwähnte Präventionskampagne der Deutschen AIDS-Hilfe von 1991 für Drogengebrauchende, die Rauschbedürfnisse offensiv bejahte. Entgegen der vorherrschenden Drogenpolitik, die auf Verzicht setze, verfolgten die Macher*innen der Kampagne einen radikalen transformativen Ansatz: eine queer-politische Intervention avant la lettre. Allerdings kam die Kampagne nicht über eine Plakatserie hinaus. Ein solches Scheitern sollte jedoch nicht den historiographischen Blick auf transformative Potentiale verstellen.

Mit unseren Ausführungen argumentieren wir dafür, die Aids-Bewegung in Deutschland in der queer(politisch)en zeitgeschichtlichen Forschung stärker zu berücksichtigen. Dies erfordert auch ein Umdenken queerer Archive. Deren Bestände zum Thema HIV/Aids dokumentieren die Betroffenheit, die Selbsthilfe und den Aktivismus von Schwulen und – allerdings in sehr viel geringerem Maße – von Lesben, Bisexuellen und Trans*. Archive, Museen und historische Forschung sollten Themen wie Aids und Drogen, Sexarbeit, Migration und Rassismus stärker zusammendenken. Davon würden insbesondere die Bewegungs-, Geschlechter-, Drogen-, Migrations- und die Medizingeschichte profitieren.

 

 


[1] Vgl. Dirck Linck (2013): Nach der Revolte. Überlegungen zur schwulen Kunst in der BRD der 1980er Jahre, in Zwischen Autonomie und Integration. Schwule Politik und Schwulenbewegung der 1980er und 1990er Jahre, Hrsg.: A. Pretzel, V. Weiß, Hamburg, 173-99: 175 f.
[2] Sophinette Becker (1985): AIDS – Die Krankheit zur Wende?, Psychologie heute 2/11, 60-65: 60 & 64. Die „geistig-moralische Wende“ herbeizuführen, hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl 1982 im Koalitionspapier als übergeordnetes Ziel seiner Politik formuliert.
[3] Vgl. Raimund Geene (2000): AIDS-Politik. Ein neues Krankheitsbild zwischen Medizin, Politik und Gesundheitsförderung, Frankfurt am Main: 236; Henning Tümmers (2017): AIDS: Autopsie einer Bedrohung im geteilten Deutschland, Göttingen: 336 f.; Sebastian Haus-Rybicki (2021): Eine Seuche regieren AIDS-Prävention in der Bundesrepublik 1981-1995, Bielefeld: 14.
[4] So z.B. neue Trauerrituale oder gesundheitspolitische Konzepte wie das der "strukturellen Prävention", vgl. Hans Peter Hauschild (1993): Trauerkultur, in 10 Jahre Deutsche AIDS-Hilfe. Geschichte und Geschichten, Hrsg.: Deutsche AIDS-Hilfe e.V., Berlin, 122-30 und Deutsche AIDS-Hilfe e.V. (1998), Hrsg.: Strukturelle Prävention. Ansichten zum Konzept der Deutschen AIDS-Hilfe, Berlin.
[5] Vgl. Cathy J. Cohen (1997): Punks, Bulldaggers, and Welfare Queens: The Radical Potential of Queer Politics? GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 3/4, 437-65 und Keguro Macharia (2020): Queer Writing, Queer Politics: Working across Difference, in The Cambridge Companion to Queer Studies, Hrsg.: S. B. Somerville, Cambridge, 30-48.
[6] Deborah Gould (2009): Moving Politics: Emotion and ACT UP's Fight against AIDS, Chicago, London: 5; vgl. auch Brett C. Stockdill (2003): Activism Against AIDS: At the Intersection of Sexuality, Race, Gender, and Class, Boulder, London: 73.
[7] Vgl. z.B. Cohen (1997).
[8] Wir ordnen das zivilgesellschaftliche informelle Netzwerk der Akteur*innen des Aids-Aktivismus und der -Selbsthilfe in Deutschland als soziale Bewegung ein. Auch die Aids-Selbsthilfe und subkulturellen Aktivitäten im Kontext von HIV/Aids besaßen einen politischen Charakter, insofern sie auf Veränderungen gesellschaftlicher Normen im Alltagshandeln zielten; vgl. Priska Daphi (2020): Politisierung und soziale Bewegungen: Zwei Perspektiven, in (Ent-)Politisierung? Die demokratische Gesellschaft im 21. Jahrhundert, Hrsg.: A. Schäfer, D. Meiering, Baden-Baden, 93-120: 109 ff. Zudem entstand eine soziale Gruppen übergreifende, wenn auch konflikthafte und instabile Kollektive Identität. Bezüglich der Deutschen Demokratischen Republik lässt sich hingegen aufgrund des geringen Grads der Selbstorganisierung schwerlich von einer Aids-Bewegung sprechen; vgl. Rainer Herrn (2008): Schwule Männer und die Krankheit Aids in der DDR, in Lesben und Schwule in der DDR. Tagungsdokumentation, Hrsg.: Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt, LSVD Sachsen-Anhalt, Halle (Saale), 89-98 und Adrian Lehne (2016): "[...] eine solche Krankheit macht doch nicht an der Grenze halt." HIV/AIDS in der DDR (Master, Freie Universität Berlin).
[9] Vgl. z.B. Florian Georg Mildenberger (1999): Die Münchner Schwulenbewegung 1969 bis 1996. Eine Fallstudie über die zweite deutsche Schwulenbewegung, Bochum und Martin Reichert (2018): Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik, Berlin.
[10] o. A. (1987): Nürnberg: Komitee "AIDS und Menschenrechte" gegründet, Rosa Flieder 52, 20.
[11] Offenbach-Post (29.01.1988): "Am Ende steht Internierung und der Zwangstest für alle".
[12] Deutsche AIDS-Hilfe e.V. (1988), Hrsg.: Solidarität der Uneinsichtigen. Aktionstag 9. Juli 1988 Frankfurt a.M. Eine Dokumentation der Reden, Berlin und Plenum Frankfurter Schwulengruppen (1989): Demonstration Solidarität der Uneinsichtigen (Faltblatt). Catalogue AIDS: Frankfurt am Main. Archiv des Schwulen Museums (Berlin). Trotz der Solidaritätserklärungen waren 1988 in der Deutschen AIDS-Hilfe noch keine Migrant*innen organisiert; vgl. Dimitra Kostimpas, Hella von Unger (2021): Wer gehörte zur „Allianz der Schmuddelkinder“? Ein- und Ausschlüsse von Migrant*innen in HIV-Organisationen, in Gesellschaft unter Spannung. Verhandlungen des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2020 Hrsg.: B. Blättel-Mink.
[13] Michael Bochow (2013): Dreißig Jahre Aidshilfen: Von den schwulen Gründungsjahren in eine queere Zukunft?, in queer.macht.politik. Schauplätze gesellschaftlicher Veränderung, Hrsg.: B. Höll et al., Hamburg, 41-55: 9.
[14] Hans Peter Hauschild (1990): Positive Selbstorganisation in der AIDS-Krise, DAH-aktuell April/Mai, 44-46: 46.
[15] Nicole D. Schmidt, Petra Knust (1997): Auf die Frage: In Sachen Frauen und AIDS passiert wohl nicht mehr viel...? kann es keine kurze Antwort geben, lespress 12.
[16] Maria Bormuth, Eugen Januschke (2020): Gesunder Sex durch HIV-Präventionsmedien, VIRUS. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin 18, 325-48; Regina Brunnett, Finn Jagow (2001): Macht und Homosexualitäten im Zeitalter von AIDS. AIDS als  Knotenpunkt von Normalisierungen und Selbstnormalisierungen von Lesben und Schwulen, in Jenseits der Geschlechtergrenzen. Sexualitäten, Identitäten und Körper in Perspektiven von Queer Studies, Hrsg.: U. Heidel et al., Hamburg, 190-205.
[17] Jürgen Neumann (1991): Turbulenzen – die Plakate werden zurückgezogen, DAH-aktuell 4, 28-29.
[18] Hauschild (1990).
[19] Michael Lämmert (1991): Drogenplakate der DAH – vom Unwohlsein über Botschaften, DAH-aktuell 4, 27.
[20] Eugen Januschke, Ulrike Klöppel (20.12.2017): Pieke Biermann Video Interview. Humboldt-Universität zu Berlin, Medien-Repositorium, European HIV/AIDS Archive, DOI: 10.18450/ehaa/251.
[21] Vgl. Haus-Rybicki (2021): 295.
[22] Ulrike Klöppel (05.07.2017): Petra Knust, Nicole Schmidt, Klaus Knust Video Interview. Humboldt-Universität zu Berlin, Medien-Repositorium, European HIV/AIDS Archive – demnächst online zugänglich.
[23] Die Tageszeitung (taz) (22.10.1992): "Aids kriegst du leicht im Knast, Spritzen nicht".
[24] Vgl. Eugen Januschke, Ulrike Klöppel (2021): ACT UP-Kirchenprotest in Deutschland als translokale Aids-aktivistische Praxis, Hamburger Journal für Kulturanthropologie (HJK) 13, 651-60.
[25] Vgl. Ulrike Klöppel (2016): Aids-Krise in Deutschland revisited: zwischen Bio- und Affektpolitik, Gender Sonderheft 3: "Bewegung/en", 75-87, DOI: https://doi.org/10.2307/j.ctvddznbv.9 und Peter-Paul Bänziger, Zülfukar Çetin (2016): Die Normalisierung eines Ausnahmezustands? Geschichten der Aids- und der Drogenthematik in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1980er Jahren, in Gewalt, Zurichtung, Befreiung? Körperliche "Ausnahmezustände" 1880-2000, Hrsg.: H. Ahlheim, Göttingen, 117-40. Inzwischen sind historische Studien erschienen, die das zivilgesellschaftliche Engagement einzelner Gruppen oder Personen rekonstruieren; vgl. z.B. Ulrich Würdemann (2017): Schweigen = Tod, Aktion = Leben: ACT UP in Deutschland 1989 bis 1993, Hrsg.: T. Michalak, Berlin und Friederike Faust (2021): Der Staat, der nicht hören will. HIV/Aids-Prävention in Haftanstalten und die Formatierung aktivistischer Politiken, Hamburger Journal für Kulturanthropologie (HJK) 13, 661-69.

Stern.Zeichen

von
Eike Wittrock

Zwischen Weihnachten und Neujahr 1982 und 1983 fand im Frankfurter Theater am Turm (TAT) jeweils das Festival Stern.Zeichen statt, das im Untertitel „Homosexualität im Theater“ hieß. Zu den großen Entdeckungen der ersten Ausgabe zählte Georgette Dee, jene androgyne Künstler*in, die seit den frühen 1980er Jahren in ihren Bühnenauftritten unterschiedlichste Facetten von Geschlechtlichkeit aufführt, die sich nicht in einer einzelnen Identitätskategorie auflösen lassen. Für die zweite Ausgabe 1983 wurde Georgette Dee eingeladen, eine Weihnachts-Gala zu moderieren (und zu organisieren). Die Beschreibung des Auftritts lässt erahnen, mit welchem Glitter, Glamour und Camp hier gegen Heteronormativität angespielt und angesungen wurde:

„Es war ein rauschender Abend, das schönste Weihnachtsfest, das ich je erlebt habe. […] Links und rechts vorne an der Bühne standen zwei Weihnachtsbäume, einer war schon aufgeputzt, den anderen habe ich bei meinem ersten Auftritt zur Begrüßung des Publikums geschmückt, indem ich einen vollen Karton mit Kugeln, Lametta und anderem Zeug rüberkübelte. […] Für meinen Songauftritt hatte ich mir im Fundus ein Wagner-Kostüm geangelt, […] schwarze Pailletten, bis ganz runter, und die Ärmel aus schwarzem Tüll mit Goldrand. Der war so geschnitten, als wären es riesige Flügel in Ruheposition – oben ganz dick und nach unten immer schmaler werdend, um den schwarzen, dünnen Paillettenschlauch noch mal zu verstärken, so daß eine wirklich atemberaubende Silhouette erscheint. […] Vorher hatte ich mir überlegt, daß ich nur dieses Lied singe, kein Wort vorher, kein Wort nachher, und dann abgehe. Ich wollte einen Followspot, der die Treppenstufen beleuchtet und, wenn ich die Treppe runterschreite, auf mich zukommt, so daß er auf der untersten Stufe mein Gesicht hat. Bis dahin war ich nur im Gegenlicht – nur diese Silhouette, die wie schwebend das Lied begann; unten, der Spot auf meinem Gesicht, ganz klein, also wirklich nur der Kopf, ‚Stormy weather‘ furios zu Ende gesungen und dann abgegangen. Die Leute haben fast die Tische aus dem Theater geworfen vor Hysterie. Das hat so reingehauen! Es war so schlicht – und doch ergreifend. Auch wenn mich diese Wirkung total überrascht hat: das sind wirklich Sternstunden.“[1]

Stern.Zeichen, so ließe sich spekulieren, antwortete auf die Sehnsucht queerer Menschen nach einer Form der feierlichen Zusammenkunft, in der Legitimierungs- und Machtdiskurse wie Religion, Staat, Kapital, Ideologie und Häuslichkeit nicht mit einer Stimme zu sprechen scheinen – wie sie es in deutschen Innenstädten zu Weihnachten immer noch tun. Eve Kosofsky Sedgwick nannte diese Form der monolithischen Sinnstiftung, in der die Verbindung von Christentum und Familie so überwältigend und mächtig auftritt wie niemals sonst im Jahr, den ‚christmas effect‘. In einem ihrer einflussreichsten Texte definiert Sedgwick queer als Gegenentwurf zu diesem ‚christmas effect‘ als ein „open mesh of possibilities, gaps, overlaps, dissonances and resonances, lapses, and excesses of meaning when the constituent elements of anyone’s gender, of anyone’s sexuality aren’t made (or can’t be made) to signify monolithically.“[2]

Die Weihnachtsgala des Stern.Zeichen-Festivals, mit Travestie, Bauchtanz, Sketches, Stelzen-Performances und Chanson, mag genau diese Art von Feier gewesen sein, dessen einzelne Elemente eher einen Exzess von Bedeutung erzeugen, insbesondere was Geschlecht und Sexualitäten bedeutet. Theater übt generell eine besondere Anziehungskraft auf queere Personen aus. Die US-amerikanische Anthropologin Esther Newton nennt es „a magic beyond simple explanation“.[3] Theater birgt das Versprechen einer anderen Welt und erlaubt durch Verstellung, Verkleidung und vermeintliche Folgenlosigkeit der dort ausgeführten Handlungen, alternative geschlechtliche und sexuelle Identitäten, die von der Mehrheitsgesellschaft moralisch und rechtlich sanktioniert wurden (und teils noch werden), auszuprobieren. Diese unterschiedlichen Identitäten würden wir heute unter dem Begriff queer subsumieren, den ich anachronistisch auf die verschiedenen, aufgrund von Sexualität und Geschlecht von der Mehrheitsgesellschaft verworfenen Positionalitäten dieser Zeit anwende, auch um eine transhistorische Affinität und Kontinuität mit ihren politischen Kämpfen zu betonen.[4]

Die Geschichte queerer Emanzipationskämpfe sollte dabei nicht getrennt von den ästhetischen Experimenten queerer Kultur gedacht werden, folgt man dem Filmwissenschaftler Marc Siegel. Künstlichkeit und Performance bieten die Möglichkeit, „a more fabulous, more livable reality“ zu schaffen, deren Erotik bisweilen die Grenzen der (direkten) Repräsentation sprengt.[5] Ein ästhetisches Experimentieren setzte in der BRD im Vergleich zur Emanzipationsbewegung leicht verzögert ein – zumindest was die Bühne angeht.[6] Im Folgenden möchte ich die Entwicklung einer westdeutschen queeren Theaterkultur der 1970er Jahre skizzieren, in der sich Verbindungen von Theater, schwuler und trans* Erinnerungsarbeit und politischem Aktivismus finden lassen. Diese Entwicklung kulminierte im Stern.Zeichen-Festival, das wie ein Überblick über die Vielfalt der künstlerischen Projekte, die aus den schwulen Emanzipationsbewegungen der BRD entstanden waren oder mit ihnen assoziiert wurden, funktionierte.

Zu Beginn der 1970er Jahre entstanden in vielen westdeutschen Städten schwule Aktivismusgruppen, oft in Diskussionsrunden nach Vorführungen von Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt.[7] Es dauerte jedoch eine Weile, bis sich schwule Kultur- und Kunstprojekte gründeten. Lange Zeit wurde wohl vornehmlich diskutiert und demonstriert, wobei von Anfang an auch theatrale Aktionsformen eingesetzt wurden: Bereits bei der Pfingstaktion der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) 1973 wurde am Informationsstand am Kurfürstendamm „Straßentheater“ aufgeführt. Auch bei Demonstrationen wurde mehr oder wenig bewusst auf theatrales Potenzial gesetzt, wie bei dem Berliner Tuntenstreit 1973/74. Der Tuntenstreit markiert eine Auseinandersetzung über Ziele und Wege des politischen Aktivismus in der Berliner Homosexuellenbewegung, die letztendlich zur Spaltung in verschiedene Fraktionen führte. Zur Debatte stand hier auch die Wirksamkeit eines performativen Protestes: Auslöser waren französische und italienische Protestteilnehmende, deren tuntiges Verhalten – einem Verhalten, das bewusst das Klischee des effeminierten und schrillen Schwulen affirmiert –, für die deutschen linken Schwulen, die mit Transparenten brav in Reihe und Glied marschierten, einen Affront darstellten.[8]

Ab Mitte der 1970er Jahre häuften sich die Gründungen schwuler Kulturprojekte, wie z.B. 1975 des Rosa Winkel Verlags. Die Umbenennung des Schwulenmagazins Him in him applaus. Forum für Kultur, Show und Erotik im Ende 1976 zeugte dabei von einem gesteigerten schwulen Bewusstsein (und expliziter Reflexion) der Rolle von Kunst und Kultur für die Aushandlung von schwulem Selbst- und Fremdbildnis. Theater, wie oben angedeutet, spielt für queere und insbesondere schwule Kultur eine besondere Rolle.

Plakat zu Brühwarms zweitem Stück Männercharme (1977), mit einem Foto von Rüdiger Trautsch. © Haus der Essener Geschichte/Stadtarchiv, Bestand 910 Nr. 3021.

Die Premiere von Brühwarm – ein schwuler Jahrmarkt des Ödipus-Kollektivs, das sich später in Brühwarm umbenannte, markierte 1976 den Beginn eines regelrechten Booms schwuler Theaterprojekte.[9] In der Folge gründeten sich in vielen Städten Gruppierungen unterschiedlichster Größe, die mit der Form eines schwulen Theaters experimentierten. Dazu zählen u.a. die Bremer Stadtschmusetanten, DIN-Arsch 2 (und 3), Emscher Sisters (später aufgeteilt in Emscher Split und Endlos schwule Fornopilme), Familie Schmidt – aufrecht, deutsch, homosexuell, die Fränkische Klabbenoper, Frontbetreuung, Hamburger Tuntenchor mit den Untergruppen Budaschwestern, Alsterelsen und Muttis Muff, das Ost-Berliner Hibaré, die Himbeeren und die Wiener HOSIsters, die Maintöchter, Preddy Show Company, Rita und Claus, Rosa Gänseliesels, Rosa Kitsch, Rosa Lüste, Rosa Träume, Rosa Welle, Schwul 8/15, SEW (Schwules Ensemble Westberlin), Spalding Sisters, Stinkmäuse, Transitiv und Warmer Kappes. Die Aufführungen dieser Gruppen bestanden meist aus einer Reihe von kurzen Sketchen oder Szenen, unterbrochen von musikalischen und anderen show-artigen Nummern. Sie mischten didaktische Agitprop-Ästhetik mit Versatzstücken aus der Varietékultur wie Drag und bezogen sich darüber hinaus mehr oder weniger explizit auf zu dieser Zeit populäre Methoden der Bewusstseinsbildung und der politischen Agitation durch Theater, wie sie z.B. von dem brasilianischen Regisseur und Autor Augusto Boal entwickelt wurden.[10] Einige wenige experimentierten auch mit dramatischen Formen, wie die Maintöchter mit Die Wildnis der Doris Gay oder Transitivs Fassung von Jean-Paul Sartres Geschlossene Gesellschaft.

Das lesbische Pendant des schwulen Theaters, das sogenannten Lesbentheater,[11] entwickelte sich in dieser Zeit eher in Frauen-Zusammenhängen, wie ja generell im deutschsprachigen Raum lesbischer Aktivismus stärker mit der Frauen- als mit der Schwulenbewegung assoziiert war. Lesbisches Theater und Performance wird so z.B. auf Renate Kletts Kölner Frauentheater-Festival 1980, den Sommeruniversitäten für Frauen oder an Orten wie der Lesben.Kultur.Etage ARAQUIN oder PELZE-multimedia aufgeführt. Dort traten explizit lesbische Gruppen wie Wuppertaler Lesbentheater, Gießener Lesbentheater, Lesbentheater München, come-out Lesbentheater, Die Witwen und Unterste Stufe, aber auch gemischte FrauenLesben-Gruppen wie das Aachener Frauenkabarett, auf.

Lesbentheater München: Anne Bonny, 1978. Aus: Lesbentheater München: Sappho und alle die danach kamen. München: Come Out Lesbenverlag 1978, S. 25.

Ein verbindendes Moment von Lesbentheater und schwulem Theater ist die Beschäftigung mit queerer Geschichte. Theater ist nicht nur Ort queerer Utopie, sondern auch queerer Selbstvergewisserung durch die kollektive Aufführung gemeinsamer Geschichte(n) – zwei Aspekte, die in José Esteban Muñoz‘ Definition von Queerness eng miteinander verwoben sind: „We have never been queer, yet queerness exists for us as an ideality that can be distilled from the past and used to imagine a future.“[12] In den späten 1970er Jahren war historisches Wissen über gleichgeschlechtlich begehrende Personen nur schwer zugänglich, und die Erforschung und Verbreitung spezifisch schwuler und lesbischer Kulturgeschichte(n) integraler Teil der queeren Emanzipationsbewegungen dieser Zeit. Theateraufführungen ermöglichten, zugleich die Vergangenheit (körperlich) zu vergegenwärtigen und im Moment der Aufführung, über die geteilte Geschichte, eine Gemeinschaft zu stiften.[13] So führt z.B. Sappho und alle die danach kamen vom Lesbentheater München eine lesbische Kulturgeschichte auf, bei der „Sappho, zwei Hexen Rotraud und Gertrud, Christina von Schweden, Anne Bonny, Radcliffe Hall, Marie Laurencin, Caroline David und Marlene Dietrich“[14] auftraten. Und Brühwarm - ein schwuler Jahrmarkt befasste sich u.a. mit der Verfolgung von (männlichen) Homosexuellen in der Zeit des Nationalsozialismus. Dies kann als Teil des politischen Kampfes um die Anerkennung als Opfergruppe des Nationalsozialismus gesehen werden, der einen wichtigen Antrieb der deutschen Homosexuellenbewegungen (lesbisch wie schwul, BRD wie DDR) bildete.

Das Frankfurter Stern.Zeichen-Festival markiert eine Zäsur in der Geschichte von schwulen und lesbischen Theaterexperimenten, sowohl als Zeichen einer (institutionellen) Veränderung des queeren (Kultur-)Aktivismus als auch der Freien Theater-Szene selbst. Während die erste Ausgabe 1982 die Vielfalt von künstlerischen Ausdrucksformen selbst produzierter Aufführungen abbildete,[15] war die zweite Ausgabe 1983 deutlich von den Strukturen der sich festigenden Freien Theater-Szene gestützt (und finanziert).[16] Zu einer dritten Ausgabe kam es nicht. Es bleibt offen, ob in Folge der Kritik am Festival, ob der Grund Auseinandersetzungen zwischen (schwuler) Organisation und Theaterleitung waren, oder ob 1984 durch die Verbreitung von AIDS auch die Entwicklung des queeren Theaters insgesamt pausierte. Elmar Kraushaar, der für beide Ausgaben verantwortlich zeichnete, erläutert, dass TAT-Intendant Peter Hahn so viele eigene ‚professionelle‘ Produktionen geplant hatte, dass für Projekte aus der Community kaum noch finanzielle Mittel vorhanden waren. Von der Kritik wurde dieser Wechsel von ‚unmittelbarer Betroffenheit‘ zu ‚professioneller Güte‘ bedauert, da sich das TAT damit „der streitbarsten Vertreter des neuen kulturellen ‚coming out‘“ beraubte.[17]  

Eine dieser vom TAT produzierten Produktionen, die jedoch stärker mit der Community eigenen ästhetischen Mitteln arbeitete und von der Kritik auch positiv aufgenommen wurde, war der Androgyn-Abend: FACES – 1 Portrait – 3 Masken: Leben, Traum und Kampf, uraufgeführt am 23. Dezember 1983. Autor und Hauptdarsteller Joaquín La Habana ist ein in Kuba geborener und in den USA klassisch ausgebildeter Sänger und Tänzer, der im New Yorker Underground im Studio 54 auftrat, 1981 für eine Tour mit dem Travestiekabarett Chez Nous nach Europa kam und seitdem in Berlin lebt.[18]

Programmheft der Europa-Tournee 1982 des Chez Nous. Privatsammlung.

In dieser Performance bediente sich Joaquín La Habana der genuin queeren Gattung Travestie, um eine Weltgeschichte des Crossdressing, des performativen Spiels mit Geschlechterrollen, aus seiner Position als Performer of Color zu erzählen. Der Androgyn-Abend war als Nummernrevue konzipiert, strukturiert von Tanz- und Gesangsnummern, inklusive Quickchange und Striptease. Neben Joaquín La Habana standen noch zwei weitere Performer auf der Bühne, darunter der afrodeutsche Schauspieler Robert Völklein. Die Körper auf der Bühne präsentierten sich in einer Weise, die dem Show-Genre entstammt, waren sich stets ihrer erotischen und sexuellen Ausstrahlung bewusst. Jede Bewegung war auf Effekt ausgelegt. Der Modus schwankte zwischen queerem Camp und großer – bisweilen fast zu großer – Ernsthaftigkeit. Die Kostüme wurden u.a. von Yvana angefertigt, der lange Jahre die Kostüme und auch Choreografien für das Chez Nous entwarf, und entstammen ebenfalls eindeutig dem Travestie-Genre. Die Musik war eine eklektisch-schwule Mischung aus italienischer Barockoper, US-amerikanischen Broadway-Musical, deutschem Schlager (Katja Ebsteins „Theater“ spielte eine zentrale Rolle) und Perkussion mit karibischen und afrokubanischen Einflüssen.

La Habana reihte im Androgyn-Abend Reenactments historisch und geografisch unterschiedlich situierter Geschlechtsperformances aneinander und vollzog in den Nummern insbesondere die Migration und Appropriation tänzerischer und musikalischer Formen entlang der Routen des atlantischen Sklavenhandels nach. Er stellte die New Yorker Disco-Kultur der 1970er Jahre Elementen afrikanischer und afro-kubanischer Tanzkulturen gegenüber, imaginierte die Aufführung einer (europäischen) Barockoper mit Kastrati-Sängern im Kuba des 18. Jahrhunderts, zeigte Ausschnitte aus kubanischen Operetten, schwule Chansons aus dem Berlin der 1920er Jahre, Broadway-Musical-Nummern usw., wobei er in den kurzen erzählerischen Intros zu den Nummern die kolonialen und rassistischen Machtverhältnisse, in denen diese stehen, stets miterzählte.

Der Androgyn-Abend ist ein veritables Stück queerer performativer Erinnerungsarbeit und darin gar nicht unähnlich den oben genannten Stücken des schwulen und lesbischen Theaters der 1970er Jahre, in denen oft Fragmente queerer Geschichte verkörpert und für das kulturelle queere Gedächtnis reaktiviert wurden – hier aber als Weltgeschichte von Trans*, aufgeführt in einem Genre, der Travestie, das für trans* Personen – neben Sexarbeit – lange das einzig mögliche Berufsfeld darstellte, und so eben auch eine extreme lebensweltliche Relevanz für queere Personen hatte (und hat).

Theater, so zeigt dieser kursorische Streifzug, hat für queere Kultur eine besondere Bedeutung: um neue Selbstentwürfe auszuprobieren, als gemeinschaftsstiftender Ort wie auch Medium kulturellen Gedächtnisses, und nicht zuletzt als Feier und Fest.

 

 

 


[1] Georgette Dee: Gib mir Liebeslied. Chansons Geschichten Aphorismen, München: dtv 1998, S. 41-43.
[2] Eve Kosofsky Sedgwick: „Queer and Now“, in dies.: Tendencies, London: Routledge 1994, S. 8.
[3] Esther Newton: „Theater. Gay Anti-Church – More Notes on Camp“, in: dies.: Margaret Mead Made Me Gay. Personal Essay, Public Ideas, Durham/London: Duke UP 2000, S. 34–62, hier S. 37.
[4] Zur (theoretischen) Geschichte von queer vgl. Mike Laufenberg: Queere Theorien zur Einführung, Hamburg: Junius 2022.
[5] Marc Siegel: „Documentary that Dare/Not Speak Its Name. Jack Smith's Flaming Creatures," in: Chris Holmlund und Cynthia Fuchs (Hrsg.): Between the Sheets, in the Streets. Queer, Lesbian, Gay Documentary, Minneapolis: U of Minnesota P 1997, S. 91-106, hier S. 92.
[6] Das Medium Film nimmt hier eine Vorreiterrolle ein. Werner Schroeter, Rosa von Praunheim und Ulrike Ottinger experimentieren recht früh mit queeren filmischen Formen.
[7] Craig Griffiths: The Ambivalence of Gay Liberation. Male Homosexual Politics in 1970s West Germany, Oxford: Oxford UP 2021, S. 79.
[8] Homosexuelle Aktion Westberlin (Hrsg.): Tuntenstreit. Theoriediskussion der Homosexuellen Aktion Westberlin. Westberlin: Rosa Winkel 1975; Craig Griffiths: „Konkurrierende Pfade der Emanzipation. Der Tuntenstreit (1973-1975) und die Frage des ›respektablen Auftretens‹“, in: Andreas Pretzel/Volker Weiß (Hrsg.): Rosa Radikale. Die Schwulenbewegung der 1970er Jahre, Hamburg: Männerschwarm 2012, S. 143-159.
[9] Vgl. Eike Wittrock: „Das Coming-out des Theaters. Brühwarm und das schwule Theater der 1970er Jahre“, in: ders./Jenny Schrödl (Hrsg.): Theater* in queerem Alltag und Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre, Berlin: Neofelis 2022, S. 271-298.
[10] Boal entwickelte ab den 1950er seine Methode des „Theater der Unterdrückten“, angelegt an Paolo Freires Befreiungspädagogik. Vgl. Augusto Boal: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979.
[11] Vgl. Jenny Schrödl, „‚Zerren wir weiter an diesem Leichentuch des Patriarchats und entdecken wir Stück für Stück unsere wahre Geschichte.’ Lesbentheater in der Bundesrepublik Ende der 1970er Jahre“, in: dies./Eike Wittrock (Hrsg.): Theater* in queerem Alltag und Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre, Berlin: Neofelis 2022, S. 33-60.
[12] José Esteban Muñoz: Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York/London: New York UP 2009, S. 1.
[13] Vertiefend dazu: Carolyn Dinshaw: Getting Medieval. Sexualities and Communities, Pre- and Postmodern, Durham/London: Duke 1999.
[14] Schrödl: „Zerren wir weiter an diesem Leichentuch des Patriarchats und entdecken wir Stück für Stück unsere wahre Geschichte“, S. 38.
[15] Das Programm 1983 beinhaltete folgende Stücke: „Bis hierher und wie weiter“ von den Maintöchtern (Frankfurt/Main),„Wetten, das ist Frau Witten“ der Familie Schmidt, aufrecht, deutsch, homosexuell (Hamburg),„Fahren Sie ab, Madame“ vom Frauenkabarett Die Witwen (Berlin/Lübeck), „Tanz auf den Wolken“ von Schwul 8/15 (Bielefeld),„Die Triologie der Schimpanski“ von S.E.W. (Berlin), „Yum Yum“ der Bloolips (London); wie auch Beiträge von der Fränkischen Klabbenoper, den Dieter Heitkamp & Helge Musial, Georgette Dee, Zazie de Paris, Maren Kroyman, Arnie Reinhardt, Monsieur Petit, Aurora, die tanzende Fleischwurst, Detlev Meyer, Guido Bachmann und anderen, sowie Diskussionsveranstaltungen, Filme und Ausstellungen.
[16] 1983 gab es eine Reihe von TAT-Produktionen, die im Rahmen des Festivals uraufgeführt wurden: „Anatomie eines Gettos“ nach dem Buch von Walter Foelske, „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ von Fassbinder mit reiner Männerbesetzung inszeniert von Volker Spengler, und Joaquín La Habanas „Androgy-Abend: FACES“ (siehe unten). Darüber hinaus gab es erneut Konzerte, u.a. von Georgette Dee, einem Barockmusik-Ensemble und Marianne Rosenberg (!), wie auch zwei Abende mit Tanz-Theater, u.a. wieder die Berliner Tanzfabrik, aber auch der New Yorker Ishmael Houston-Jones und Frans Poelstra aus Amsterdam, Lesungen (Josef Winkler, Ronald Schernikau), Ausstellungen und Diskussionsveranstaltungen.
[17] Elmar Kraushaar, „Stern.Zeichen. Homosexualität im Theater“, in: Sabine Bayerl/Karlheinz Braun/Ulrike Schiedermair (Hrsg.): Das TAT. Das legendäre Frankfurter Theaterlabor, Leipzig: Henschel 2011, S. 138-139, hier S. 139.
[18] „Joaquín La Habana“, in: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie, Bearbeitungsstand: 13. August 2022 (Abgerufen: 1. Oktober 2022). Materialien zu seinem künstlerischen Schaffen finden sich im Schwulen Museum Berlin und im Mime Centrum Berlin. Die folgende Beschreibung basiert auf der dort unter dem Titel „Behind the Faces“ archivierten Aufnahme, Signatur MCB-DV-12406.

Keine Erinnerungskultur ohne Debatten

von
Sébastien Tremblay

Wer in der westdeutschen Metropole Köln am Rheinufer spazieren geht, kann neben der Hohenzollernbrücke einen Moment innehalten und einen Blick auf das im Sommer 1995 eingeweihte steinerne Denkmal werfen. Am Ufer des Flusses, in der Nähe eines beliebten queeren Cruising Spot in einer Stadt, die für ihre lebendige queere Szene bekannt ist, erinnert das Denkmal an das Schicksal der und ehrt die queeren Opfer des NS-Regimes. Mehrere rosafarbene und schwarze Keile bilden einen Rosa Winkel mit folgender Inschrift: „Den schwulen und lesbischen Opfern des Nationalsozialismus”. Für Achim Zinkann, den Künstler der das Denkmal entwarf, ist dieser Rosa Winkel ein Appell an Solidarität und Erinnerung. In seinen eigenen Worten: „Druck, Gegendruck und Reibung sind Voraussetzung für den Gesamtzusammenhalt. Wird einer der Keile entfernt, verliert mindestens ein anderer den Halt. Das Gefüge wird zerstört [...] zwei Blöcke, zwei Farben, zwei Schnitte, zu einem Ganzen zusammengefügt. Männer, Frauen, Lesben, Schwule, einander bedrückend, sich aneinanderreibend, ineinander aufgehoben, sich bedingend.”[1] Mit anderen Worten: Ohne einander würde jeder Aspekt des Denkmals zusammenbrechen; der Rosa Winkel als Ganzes würde zusammenbrechen. Ohne die Erwähnung queerer Frauen, so der Künstler, würde das Gedenken an queere Männer in sich zusammenfallen.

Jenseits der Binaritäten von zwei Geschlechtern, zwei Gendern und zwei möglichen Strukturen des Begehrens versteht dieser Beitrag Queerness als ein Netz, in dem alle Aspekte des Begehrens und der Sexualität, einschließlich der Hegemonie der Heteronormativität, miteinander in Beziehung stehen und fließend ineinander verwoben sind. Ich verwende ‚Queer‘ hier als ein analytisches Konzept, um auf nicht-heteronormative Strukturen des Begehrens und der Sexualität zu verweisen, ohne mich auf die Kategorien der Vergangenheit festzulegen. Mit anderen Worten: Ich versuche, der Fluidität, die queere Theorien betonen, treu zu bleiben. Queer wird hier nicht nur gedacht als ein Oberbegriff für alle Formen gleichgeschlechtlichen Begehrens und geschlechtlicher Nonkonformität. Vielmehr verwende ich queer um Identitätszwängen zu entrinnen, und so in den Archiven auch Stimmen zu finden, die sich nicht unter den je zeitgenössischen Begriffen subsumieren lassen.

Deswegen spreche ich im Folgenden nur von ‚schwul‘ oder ‚lesbisch‘, wenn ich Quellen wörtlich zitiere oder wenn der politische Aspekt von ‚schwul‘ oder ‚lesbisch‘ von Bedeutung ist, um zum Beispiel eine Gruppe oder eine Aktion zu charakterisieren. Diese scheinbare Spitzfindigkeit hat auch mit historischer Empathie zu tun und mit den Grenzen des Archivierten. So kann ich beispielsweise nicht mit Sicherheit sagen, wie die mit dem rosa Winkel gekennzeichneten Männer ihre Sexualität begriffen oder definierten. ‚Schwul‘ und ‚lesbisch‘ sind politische Identitäten mit denen die Erfahrungen und Selbstbilder dieser Menschen erst retrospektiv verknüpft wurden. Es geht also darum, immer genau auf den Kontext zu achten, historische Begrifflichkeiten kritisch zu bewerten und Erfahrungen semantisch miteinander zu verknüpfen, ohne sie aneinander anzugleichen. ‚Queer‘ erlaubt genau das: Die Vergangenheit lässt sich so erkunden, ohne den historischen Akteur*innen, die uns in den Archiven nichts über ihre Sexualität mitteilen Identitäten zuzuweisen, die möglicherweise nicht ihre eigenen waren.

Die Wege zur queeren Erinnerung an die NS-Gräueltaten waren leider voller Hürden und nicht immer stand die Solidarität dabei im Mittelpunkt. Vom Kriegsende bis zu den jüngsten Debatten um die Enthüllung einer Gedenkkugel für die lesbischen Opfer des NS-Regimes auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Ravensbrück sorgten historiografische Diskussionen, Anstrengungen der Community und ein unablässiger erinnerungspolitischer Aktivismus für eine aufkeimende Professionalisierung von queerer Geschichte im deutschsprachigen Raum und für ein besseres Verständnis der NS-Vergangenheit.[2] Im Folgenden zeige ich, inwiefern Kontroversen ganz zentral zur schwul-lesbischen Identitätsbildung und zur Demokratisierung der Vergangenheitsbewältigung beitrugen.

 

NS-Zeit

Zunächst einmal gilt es zu klären, was überhaupt erinnert werden sollte. Das NS-Regime war nicht immer konsistent in seinen sex- und fortpflanzungspolitischen Maßnahmen, ging aber schnell gegen „Homosexualität“ vor.[3] Als Hitler 1934 einige seiner engsten Verbündeten der ersten Stunde ausschaltete, begründete die Propaganda Ernst Röhms Hinrichtung mit dessen gleichgeschlechtlichem Begehren. Das Regime schloss und plünderte das von Magnus Hirschfeld gegründete Institut für Sexualwissenschaft. Die Archive und Papiere des Instituts, die damals größte Sammlung von Arbeiten zur Sexualität, wurden 1933 auf dem Opernplatz – heute Bebelplatz – im Zentrum Berlins von Studenten verbrannt, die eifrig für die nationalsozialistische Sache kämpften.

Nicht nur indem es Bücher über queere Realitäten vernichtete, radikalisierte das NS-Regime die Verfolgung queerer Personen in Deutschland. Queere Sexualität war für die Nationalsozialisten so etwas wie eine Geschlechtskrankheit: Sie konnte behandelt und sollte den unter ihr leidenden deutschen Männern gewaltsam ausgetrieben werden. Gleichzeitig musste die „Volksgemeinschaft“ vor den Gefahren einer „Infektion“ geschützt werden. 1935 änderten NS-Beamte das Strafrecht. Die neue Fassung des §175 radikalisierte die Bestrafung queerer Handlungen zwischen Männern. Wo es zuvor nötig gewesen war, „naturwidrigen“ Geschlechtsverkehr nachzuweisen, konnte nun auch ein einfacher liebevoller Moment zwischen zwei Männern genügen, um beide ins Gefängnis zu bringen. Jede Verletzung des allgemeinen Schamgefühls und jede „Ausschweifung“ galt als Straftat.

Auf der Grundlage von Listen, die teils noch aus der Weimarer Zeit stammten, aber auch aufgrund von Denunziationen wurden queere Männer nun immer heftiger schikaniert, überwacht und verfolgt. Tausende von ihnen wurden in Konzentrationslager deportiert, wo sie oft mit einem auf die Häftlingskleidung genähten Rosa Winkel gebrandmarkt wurden. In Österreich wurden auch queere Frauen strafrechtlich verfolgt. In Deutschland stand Sex zwischen Frauen zwar nicht unter Strafe, aber dennoch wurden, wie die Historiografie der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, Frauen, die Frauen begehrten, strukturell unterdrückt. Sie mussten in Angst und versteckt leben, galten als „asozial“ und manche von ihnen wurden auch in Konzentrationslagern inhaftiert.[4] Neben der gleichgeschlechtlichen Sexualität verfolgte das NS-Regime, wie neuere Forschungen zeigen, auch trans* Frauen und Männer, die zur Zielscheibe des NS-Heteropatriarchats wurden.[5] Daher ist es genauer und zutreffender, von der Verfolgung queerer Personen zu sprechen, statt sich an den von den Tätern geschaffenen juristischen Kategorien zu orientieren. Die Spannung zwischen einer breiteren Analyse der Gewaltstrukturen und konkreten, in der Täterperspektive verankerten Fällen prägt historiographische Debatten bis heute. Manche Wissenschaftler*innen beharren auf engen Begriffen und Perspektiven und blenden so das Leid und das Unrecht aus, das lesbischen und trans* Personen angetan wurde.

 

Die Nachkriegszeit

Unmittelbar nach dem Krieg brachte die Befreiung der Lager für queere Personen keine Freiheit. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal von queeren Männern in der Nachkriegszeit. Als die Alliierten das NS-Unrecht beseitigen wollten, bezog sich das nicht auf den §175. Männliche Homosexualität galt weiterhin als ein „gewöhnliches Verbrechen“ und die Homosexuellen-Verfolgung betrachtete man nicht als eine nationalsozialistisch geprägte Diskriminierung. Deswegen mussten einige queere Männer, die die Schrecken der Lager überstanden hatten, nach 1945 den „Rest“ ihrer Strafe in Gefängnissen verbüßen. Da sich viele Richter, die mit der NS-Ideologie sympathisierten oder überzeugte Nazis waren, der Entnazifizierung entziehen konnten, standen queere Männer nach 1945 oft wieder vor denselben Richtern, die sie nach demselben Gesetz verurteilten.[6] Eine angemessene Erinnerung an das Leiden queerer NS-Opfer war unter diesen Bedingungen unmöglich. Dies veranlasste den jüdischen Historiker Hans-Joachim Schoeps zu der berühmten Feststellung, dass queere Männer erst 1969 wirklich befreit wurden, also in dem Jahr, in dem die NS-Fassung des §175 in der BRD endlich reformiert wurde.[7] 1994 wurde er schließlich abgeschafft.

Die Liberalisierung in den späten 1960er Jahren bedeutete, dass queere Männer endlich offen Vereine gründen konnten. Sie gilt als die Geburtsstunde einer neuen Bewegung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.[8] Aber nicht nur Männer gründeten Vereine. Auch lesbische Gruppen waren politisch aktiv, arbeiteten manchmal mit schwulen Männern zusammen und gründeten manchmal eigene Gruppen im Kampf gegen Queerfeindlichkeit und Patriarchat.[9] Fast von Beginn an bildete die Erinnerung an die NS-Verfolgung einen wichtigen Aspekt in der Arbeit dieser Gruppen. Eine von ihnen war die Homosexuelle Aktion Westberlin (HAW). Sie tauschten sich mit anderen Gruppen aus, wie der Homosexuellen Aktion Nürnberg, der kurzlebigen Homosexuellen Aktion Köln, der Paderborner Aktion Homosexualität, der Aktionsgruppe Homosexualität Osnabrück usw. Gemeinsam entdeckten diese Gruppen das Schicksal der Männer, die den Rosa Winkel in den KZs getragen hatten und dort Folter ertragen mussten. Und sie begannen das Schweigen zu begreifen, das den Opfern nach dem Krieg aufgezwungen wurde.

Für viele Aktivist*innen der 1970er Jahre verdeutlichte die Tatsache, dass die NS-Version des §175 das Regime überlebt hatte, die Kontinuitäten zwischen dem deutschen Faschismus und der BRD. Sie gründeten Lesezirkel und organisierten Veranstaltungen, in denen sie ihre Unterdrückung anprangerten. Sie fühlten sich auch persönlich mit den NS-Opfern verbunden. Eines der Bücher, die sie lasen, war Die Männer mit dem Rosa Winkel, die Memoiren eines Mannes namens Josef Kohout. Das Buch ist wie eine Autobiografie aufgebaut, basiert aber lediglich auf den Erinnerungen von Kohout, die er in zahlreichen Interviews mit Johann Neumann teilte, der das Buch schließlich selbst unter einem Pseudonym veröffentlichte: Heinz Heger. Die Wiederentdeckung der Verfolgungen und des Leids der NS-Zeit und die Erkenntnis, dass Queersein immer noch tabuisiert, kriminalisiert und gesellschaftlich abgelehnt wurde, veranlasste Gruppen wie die HAW, sich das mit dem Stigma und der Verfolgungsgeschichte verbundene Symbol anzueignen.[10]

Die Aktivist*innen verwendeten den Rosa Winkel auf ihren Flugblättern und auf Plakaten bei Demonstrationen. Das Symbol ermöglichte es ihnen, das Schicksal all der Männer sichtbar zu machen, die nach dem Krieg nicht als Opfer des Faschismus anerkannt worden waren, und das zu unterstreichen, was sie als eine historische Kontinuität wahrnahmen: die Fortführung eines unterdrückerischen Rechtssystems in der BRD.[11] So kämpften sie um Anerkennung außerhalb der eigenen sozialen Gruppe oder des imaginierten Kollektivs. Mit dem Rosa Winkel formulierten sie ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit und legitimierten ihren Kampf für Bürger- und Menschenrechte.

Gleichzeitig trugen diese Aktivist*innen den Rosa Winkel auch, um das zu vermeiden, was sie als ein Sich-Verbergen hinter heterosexuellen Fassaden wahrnahmen. Das Privileg mancher queeren Männer, die in der Mainstream-Gesellschaft als Heterosexuelle „durchgehen“ konnten, wollten sie keinesfalls in Anspruch nehmen. Stattdessen wollten sie das vermeintliche Stigma sichtbar tragen und sich ganz offen mit dem Rest der queeren Community solidarisieren. Das Zeigen des Rosa Winkels sollte als ein Impuls innerhalb der sozialen Gruppe verstanden werden, als ein Aufruf zur Solidarität, der die Geschichte nutzt, um ein Stigma in ein emanzipatorischeres Zeichen umzudeuten. In diesem Sinne könnte man den Rosa Winkel mit den vielen Schimpfwörtern vergleichen, die Aktivist*innen aufgriffen, um sie als positiv-gewendete Selbstbezeichnungen zu verwenden: schwul, queer, butch, usw. Einige Organisationen gingen semantisch noch ein wenig weiter, wie die Gruppe Rosa Winkel Wuppertal oder der militante Rosa Winkel Verlag.

 

Implikationen

Ab den 1970er Jahren räumte eine neue schwule, dann lesbische Presse der NS-Unterdrückung immer mehr Bedeutung ein. Diese (Wieder-)Entdeckung der queeren Vergangenheit war von zentraler Bedeutung für die Bildung eines kollektiven Imaginären, das die Community über politische Grenzen hinweg vereinen sollte. Neben dem anfänglichen Kampf für die Abschaffung der strafrechtlichen Diskriminierung stand bis 2002 die Forderung nach Wiedergutmachung für (hauptsächlich männliche) queere Opfer im Zentrum. Indem sie die Diskriminierung historisierten und so ihren Kampf gegen die gegenwärtige Unterdrückung legitimierten sowie den herrschenden Teil der Gesellschaft mit dem fortdauernden Unrecht und der Geschichte der Grausamkeiten konfrontierten, entwarfen queere Organisationen eine Genealogie des Queerseins. Indem sie sich als Erben der Männer mit dem Rosa Winkel in den KZs begriffen, nutzten queere westdeutsche Männer die Opferrolle, um einen intensiven Zusammenhalt zu stiften. Eine Kohäsion, die eng mit den Gräueltaten verbunden war, die als negativer Gründungsmythos der BRD die Grundlage der nationalen Identität bildete. Diese Sichtweise war alles andere als ein zynischer politischer Schachzug, denn viele der Aktivist*innen identifizierten sich mit den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgungen.[12] Der Aufbau eines kollektiven queeren Gedächtnisses an die NS-Diktatur – Erinnerungen, die durch außerfamiliäre Beziehungen in der queeren Community weitergegeben wurden, zum Beispiel durch queere Printmedien – rahmte die Bewegungen der 1970er Jahre mit einer Rhetorik des Überlebens.

Die queere Erinnerung an die NS-Zeit war nicht nur die Grundlage für ein queeres Zusammengehörigkeitsgefühl. Weil die queerfeindliche Gewalt des NS-Regimes – fälschlicherweise – als genozidal gerahmt wurde, ließ sie sich mit anderen Momenten der deutschen queeren Geschichte in Zusammenhang bringen. In den 1980er Jahren, am Anfang der HIV/AIDS-Epidemie, verglichen manche die drakonischen Vorschläge für prophylaktische Maßnahmen und das queerfeindliche gesellschaftliche Klima mit einem „neuen“ Völkermord, der in der Bundesrepublik vermeintlich kurz bevorstand.[13]

Diese Identitätsstiftung, die queere Politik eng mit der deutschen Gewaltvergangenheit verband, schloss bestimmte Teile des queeren Spektrums aus. Zum einen verstärkte der Fokus auf die NS-Verbrechen und den §175 die Konzentration auf die Männer mit dem Rosa Winkel. Queere Menschen, die nicht nach §175 verfolgt worden waren, konnten an diesem ‚Ursprungs-Mythos‘ nicht teilhaben. Deswegen blieben Lesben lange Zeit von dieser schwulen Erinnerungsgemeinschaft ausgeschlossen. Als Pionierinnen der lesbischen Geschichte wie Claudia Schoppmann das Schicksal queerer Frauen während des Nationalsozialismus untersuchten, führten ihre Einsichten nicht unmittelbar zu einem Umdenken und zur Solidarität mit lesbischen Formen des Gedenkens.[14] Stattdessen warfen queere Historiker und Aktivisten, genauer: schwule Cis-Männer, den Lesben vor, die Vergangenheit zu instrumentalisieren, um sich politische Vorteile in der Gegenwart zu verschaffen.

Dies ist insofern ironisch, als dieser Vorwurf eher auf queere und männliche Aktivisten in den 1970er Jahren zutrifft, die das Ausmaß der Verfolgung queerer Männer teilweise maßlos übertrieben und aufgeblähte Opfer-Zahlen von Millionen in Umlauf brachten, um die Verfolgung schwuler Männer als etwas „ebenso Schlimmes“ wie den Holocaust darzustellen.[15] Eine Zeit lang kursierte sogar der Begriff „Homocaust“. Was dabei so gut wie gar nicht zur Sprache kam, war das Schicksal queerer jüdischer Männer, die sozusagen am Schnittpunkt von NS-Queerfeindlichkeit und Antisemitismus besonders intensiver Verfolgung ausgesetzt waren, aber selten im Mittelpunkt erinnerungspolitischer Debatten standen. Inzwischen haben Wissenschaftler*innen in Deutschland die aufgebauschte Geschichte vom ‚Homocaust‘ akribisch widerlegt und seit ein paar Jahren gibt es auch eine queere Geschichte des Holocaust, die die Vielschichtigkeit des Themas ernst nimmt.[16] Nichtsdestotrotz motivierte das zentrale Narrativ der Vergangenheitsbewältigung und des Anspruchs queerer männlicher Opfer auf Gerechtigkeit auch lesbische Aktivistinnen dazu, ihre Anliegen in ähnlicher Weise mit der gewalttätigen NS-Vergangenheit zu verbinden. Einige von ihnen schlugen vor, den Schwarzen Winkel als Symbol für das lesbische Leiden während der NS-Zeit zu verwenden.

Ein weiterer unglücklicher Effekt der engen Verknüpfung zwischen queerer Politik und der Erinnerung an den Nationalsozialismus ist das sogenannte Whitewashing des deutschen Queerseins. Wissenschaftler*innen haben gezeigt, wie bereits in der Weimarer Zeit das queere Subjekt implizit oder explizit als weiß rassifiziert und definiert wurde.[17] Diese Verengung des Queeren auf das Weißsein haben Aktivist*innen in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren perpetuiert, indem sie den Kampf für die Rechte von Queers mit der Erinnerungspolitik an die NS-Verfolgung von einer imaginierte weiße Minderheit verknüpften und legitimierten, und so anders rassifizierte queere Erfahrungen – einschließlich jüdischer, Sinti, und Roma Erfahrungen – aus dem Kanon der queeren Erinnerung ausschlossen. Mit anderen Worten, weil man Kategorien wie ‚schwul‘ und ‚lesbisch‘ oft als weiß imaginierte, wurden rassifizierte Erfahrungen verdeckt, die der dominante, weiße Teil der meisten Lesben- und Schwulenorganisationen aufgrund eines Mangels an intersektionaler Analyse in den Hintergrund drängte. Queere Erinnerungspolitik wurde, ähnlich wie andere Aspekte der deutschen Vergangenheitsbewältigung, zu einer neuen Form des jus sanguinis.[18] Je zentraler die Vergangenheitsbewältigung für die deutsche nationale Identität und je ausschließlicher die von den Nazis zerstörte queere Szene als eine Angelegenheit von weißen Menschen imaginiert wurde, desto mehr gerieten anders rassifizierte queere Stimmen zu einer Art Anhängsel, zu einem erst kürzlich auf der Bildfläche erschienenen neuem Detail in einer ursprünglich ‚weißen‘ queeren Community.[19]

 

Das Potenzial von Debatten

In seiner berühmten Rede zum Tag der Befreiung am 8. Mai 1985 erwähnte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum ersten Mal homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus im offiziellen, sozusagen staatstragenden Diskurs. Damit war ein Anfang gemacht. Dank des unablässigen Drucks queerer Aktivist*innen kam es 2002 zur Anerkennung des NS-Unrechts und zu einer Entschuldigung bei den homosexuellen Opfern durch den Bundestag. Von diesem Zeitpunkt an stand das queere Gedenken auf der politischen Tagesordnung. Nach mehreren Anläufen wurde 2008 ein Denkmal zur Erinnerung an die homosexuellen Opfer im Berliner Tiergarten eingeweiht.[20] Dieser Erfolg löste erneut Debatten über ein gemeinsames Gedenken an alle von den Nazis verfolgten queeren Personen aus. Im Zentrum stand dabei die Frage, ob der Film im neuen Denkmal nur Männer oder auch Frauen zeigen sollte.[21] Der Forderung, auch die weiblichen und anderen queeren Opfer anzuerkennen, begegneten einige queere männliche Historiker mit unfairen und böswilligen Kampagnen. Diese Auseinandersetzung intensivierte die Debatten über die Unterdrückung queerer Frauen in der NS-Zeit, die kürzlich, 2022, in der Enthüllung einer Gedenkkugel für die lesbischen Häftlinge im KZ-Ravensbrück und Uckermark gipfelten.[22]

Dieser Erfolg eines inklusiveren Gedenkens, beruhte nicht unbedingt auf neuen Forschungsergebnissen. Seit den Studien von Claudia Schoppmann in den 1990er Jahren haben zahlreiche Arbeiten belegt, dass die NS-Verfolgung nicht nur männliche Homosexuelle betraf. Dennoch trugen die Debatten um queere Denkmäler im 21. Jahrhundert zu dem bei, was die Historikerin Insa Eschebach „Demokratisierung der Vergangenheitsbewältigung“ nennt. Wenn die Forschung und das Gedenken alle Aspekte des Queerseins einbeziehen will, müssen Historiker*innen jenseits der von den Täter*innen geschaffenen Kategorien neue Begriffsfelder zur Beschreibung der Opfer entwerfen.[23] So wie sich das Gedenken und die Erinnerungskultur in den 1980er und 1990er Jahren für Homosexuelle, Roma und Sinti und andere sogenannte vergessene Opfergruppen öffnete, so öffnet sich die Erinnerungskultur in den gegenwärtigen Debatten für alle queeren Opfer, nicht mehr festgelegt auf die nationalsozialistischen Rahmungen. In dieser Hinsicht klingen die eingangs zitierten Worte von Achim Zinkann wahrer denn je: Ohne diese Debatten, ohne einander, würden die verschiedenen Aspekte des Queerseins auseinanderfallen und das Gedenken an queerfeindliche Gewalt wäre nicht vollständig.

 

 


[1] Konzept des Denkmals in den Worten des Künstlers Achim Zinkann und wie abgedruckt im Juni 1995 in der schwulen Monatszeitschrift Box. Schwules Museum (Berlin). Box Nr. 199 Gedenk-Veranstaltungen Homosexuellen-Verfolgung Berlin-Sonstiges.
[2] Evans, Jennifer. Streiten, verstehen und zusammenstehen, Tagesspiegel, 14. April: 2021.
[3] Herzog, Dagmar. Sex after Fascism. Memory and Morality in Twentieth-Century Germany. Princeton, NJ: Princeton University Press, 2005.
[4] Hájková, Anna, Birgit Bosold, im Gespräch mit, Ulrike Janz, Irmes Schwager, and Lisa Steininger. „Aktivistinnen des lesbischen Gedenkens.“ Invertito, no. 21 (2019): 74-97; Marhoefer, Laurie. „Lesbianism, Transvestitism, and the Nazi State. A Microhistory of a Gestapo Investigation, 1939-1943.“ The American Historical Review 121, no. 4 (2016): 1167-95; Huneke, Samuel Clowes. „Heterogeneous Persecution: Lesbianism and the Nazi State.“ Central European History 54 (2021): 297-325.
[5] Nunn, Zavier. „Trans Liminality and the Nazi State.” Past & Present gtac018 (2022), DOI: https://doi.org/10.1093/pastj/gtac018.
[6] Micheler, Stefan. „‘...Und Verbleibt weiter in Sicherungsverwahrung‘. Kontinuitäten der Verfolgung Männer begehrender Männer in Hamburg 1945-1949“. In Ohnmacht Und Aufbegehren, Andreas Pretzel and Volker Weiß (Hrsg.), 62-90. Hamburg: Männerschwarm Verlag, 2010.
[7] Schoeps, Hans-Joachim. „Überlegungen Zum Problem Der Homosexualität“. In Der Homosexuelle Nächste, Hermanus Blanchi (Hrsg.), 74-114. Hamburg: Furche, 1965.
[8] Griffiths, Craig. The Ambivalence of Gay Liberation. Male Homosexual Politics in 1970s West Germany. Oxford: Oxford University Press, 2021.
[9] Ledwa, Lara. Mit schwulen Lesbengrüßen. Das lesbische Aktionszentrum Westberlin (LAZ). Gießen: Psychosozial-Verlag, 2019.
[10] Tremblay, Sébastien. „‘Ich Konnte Ihren Schmerz Körperlich Spüren‘. Die Historisierung der NS-Verfolgung und die Wiederaneignung des Rosa Winkels in der Westdeutschen Schwulenbewegung Der 1970er Jahre.“ Invertito, no. 21 (2019).
[11]  Beljan, Magdalena. Rosa Zeiten?. Eine Geschichte der Subjektivierung männlicher Homosexualität in den 1970er und 1980er Jahren der BRD. Bielefeld: Transcript, 2014.
[12] Tremblay, „Ich Konnte“, 2019.
[13] Tremblay, Sébastien. „Visual Collective Memories of National Socialism: Transatlantic HIV/AIDS Activism and Discourses of Persecutions”. German History 40, no 4 (2022): 536-582.
[14] Schoppmann, Claudia. Zeit der Maskierung. Lebensgeschichten lesbischer Frauen im ‚Dritten Reich‘. Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1993.
[15] Zinn, Alexander. „Der Hang zu Opfererzählungen. Über Dramatisierung und selektive Wahrnehmung in Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur zu Homosexuellen während der NS-Zeit.“ Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 53, no. 2 (2021): 331-46; Hàjkovà, Anna. Menschen ohne Geschichte sind Staub: Homophobie und Holocaust. Göttingen, Wallstein Verlag, 2021.
[16] Lautmann, Rüdiger. "Die Politik des Vergessens: Die Arbeit des Erinnerns." In Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Verdrängt und ungesühnt, Burkhard Jellonek und Rüdiger Lautmann (Hrsg.), 301-16. Paderborn: Schoeningh, 2002.
[17] Marhoefer, Laurie. „Was the Homosexual Made White? Race, Empire, and Analogy in Gay and Trans Thought in Twentieth-Century Germany”. Gender & History 31, no. 1 (2019): 91-114.
[18] El Hissy, Maha 2022, „Die Erinnerung an den Holocaust gehört nicht einer weißen, deutschen Mehrheit, Berliner Zeitung, 7. Mai: 12-13.
[19] El-Tayeb, Fatima. European Others: Queering Ethnicity in Postnational Europe. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press, 2011.
[20] Tomberger, Corinna. „Das Berliner Homosexuellen-Denkmal. Ein Denkmal für Schwule und Lesben?, In Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Insa Eschebach (Hrsg.). Berlin: Metropol, 2012: 187-207.
[21] Hier wäre es interessant und wichtig, auch die Fixierung auf cis-geschlechtliche Binaritäten in diesen Debatten in Betracht zu ziehen, insbesondere im Hinblick auf eine gewisse Verleugnung von Trans-Verfolgungen, die derzeit im Vordergrund einiger politischer Debatten stehen. Es wäre auch notwendig, nach Inter* und nicht-binären Stimmen im Archiv zu suchen und ihren Platz in diesen Debatten zu sehen. An dieser Stelle bin ich Ulrike Klöppel dankbar für den Hinweis auf diese Fragen.
[22] Eschebach, Insa. „Queere Gedächtnis. Zivilgesellschaftliches Engagement Und Erinnerungskonkurrenzen Im Kontext Der Gedenkstätte Ravensbrück.“ Invertito: Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 21 (2019): 49-73.
[23] Ibid.

QPoC Solidarity in West Berlin in the 1980s

von
Soheil Asefi

The 1980s were a decade of political liberation struggles across the Global South. Despite the tragic end to most of these attempts, anti-imperialist and anti-capitalist politics, a legacy in a way of the 1970s, were at the center of these ongoing conflicts. As Iran’s people swept away 2500 years of monarchy in 1979 and overthrew Jimmy Carter’s ‘Island of Stability’,[1] West Berlin hosted a United States-American import, the first Christopher Street Day (CSD). With the defeat of the promises of the 1979 incomplete Revolution, freedom, independence, and social justice,[2] Islamists seized power. Western mainstream media began to replace the rosy image of pre-revolution Iran, which had focused on Soraya Esfandiary, the German Iranian second queen in the regime the Shah established after the CIA coup of 1953, and on Farah Diba (Pahlavi), the third queen. Darker depictions came to the fore instead that portrayed Middle Eastern masculinity no longer in terms of exotic sexual appeal, but rather in terms of a ‘terrifying’ strangeness. According to this new paradigm, Iranian women and queer people needed to be saved from the perils of the Islamist regime by the ‘civilized’ proponents of the ‘rights’ discourse in the West. This discourse continued to rely on colonial dichotomies such as ‘free versus oppressed’ and ‘modern versus traditional’. It is no coincidence that this postcolonial shift from ‘liberation’ to ‘rights and recognition’ coincided with the first CSD in West Berlin.

Political repression and mass executions of communist revolutionaries occurred from Iran to Turkey during the 1980s. Throughout this decade, struggles for liberation in a Marxist idiom connected people from the global South beyond the nation-state against the legacy of colonialism. Several of these revolutionaries then fled, escaping as a queer act. They fled wars, executions, uprisings, and reactionary regimes. These major upheavals include the revolution in Nicaragua, opposition to imperialist interventions in Argentina, El Salvador, and Guatemala, the first Palestinian Intifada and the Gwangju anti-capitalist student uprisings and massacres in South Korea. Were these stories reflected in West Berlin’s queer communities and diasporas?

Queer emancipation must be seen in the context of those other local and global struggles. Nowadays, sexual politics is trapped between particularized sexual nativism and universalized LGBTQIA+ citizenship. To determine what forms of political solidarity with the Global South remain available to us, it becomes increasingly crucial to look at the past.[3] My research here focuses on West Berlin’s queer diaspora and on conversations I had with people from these communities. What effects did the upheavals elsewhere have on non-heterosexual, ‘queer’ diaspora communities during the 1980s?[4] What role did transnational solidarity play in the 1980s West Berlin gay and lesbian movement? Were West Berlin’s CSDs in the 1980s ‘homonationalist’, associating LGBTQIA+ people and their rights with a nationalist ideology and the claim that immigrants, especially Muslims, are homophobic while Western society was tolerant? All this happened in the middle of HIV/AIDS, and while the autonomous movement and the Black Women’s movement in Germany (ADEFRA) gained momentum. How did all this impact on queer people of color (QPoC) activism in West Berlin?

 

Queer PoC Transnational Solidarity

In this piece, which is part of a larger study on transnational QPoC solidarity in West Berlin and New York City in the 1970s and 1990s, I attempt to answer these questions. As a start, we must name three notable queer-related organizations from the 1980s: Akarsu, which means ‘flowing water’ in Turkish, served as a place of self-help for lesbian migrant women living in West Berlin. In 1986, Akarsu hosted a sexuality circle for Turkish immigrant women. Lale Arpat, the group ‘s founder, described it to the author in 2022 as “a self-help gathering without a facilitator”. Many participants, including Arpat, married men in the 1990s. Lesbianism is no longer an identity for her. In her view, she is “an ally”. Arpat’s story illustrates 1980s queer life “outside of a clearly delineated movement or organization and without identity politics”. While books like Verena Stefan’s Shedding created a presence for predominantly white lesbian voices in the late 1970s, there are other stories, the often-untold experiences of queer women of color who identified as lesbians in the 1980s and early 1990s and whose voices are not recorded in the archive of white German gay and lesbian history.

Ipek Ipekcioglu was also involved in non-movement activities. She (they) is a German DJ, music producer, and author. As a social pedagogy student, she wrote her MA thesis in 1995 on lesbians and the self-perception of lesbian feminist immigrants from Turkey living in Germany who belong to the second generation. She is openly lesbian, from a family who has immigrated from Turkey. In the Federal Republic of Germany (FRG), she represented the second generation of lesbian immigrants. She came out in the 1980s. Her mother’s presence as a warm shoulder is central for her story which she shared with me in 2022. Her mother asked Ipekcioglu if she was gay as soon as she saw her hitting gay shops. As a migrant child, she grew up in the Red Wedding neighborhood, surrounded by intellectuals and artists. Her mother’s parties were full of queer people and can be considered as some of the very first private gatherings of migrants concerned with sexuality in West Berlin.[5]

There was also ADEFRA e.V. – a Black women’s organization in Germany. The black lesbian feminist movement arose during the transition between Fordism’s collapse and neoliberalism’s reorganization of the world economy. These upheavals, however, took a long time to register with white Germany. As a Berlin-based cultural and political organization for Black women, the organization had a crucial impact on perceptions of racism, feminism, and sexuality. ADEFRA made the political aspects of queerness and institutionalized racism more visible. With the public presence of black lesbian leftist American feminist Audre Lorde and Afro-German feminists and lesbians, with intellectual vigor and an internationalist outlook, the women at ADEFRA were able to push beyond whitewashed normativity, according to Tiffany Florvil.[6]

Schwule Internationale (Gay International) was another organization founded in 1989 by second generation people with Turkish and Kurdish backgrounds. The organization then also included Iranian, Arab, Latin American, and African members. “While our group’s name comes from Marx’s Das Kapital, it was not really international, let alone transnational,” says Birol Isik in a conversation with the author in 2022. Isik was one of the founding members of Gay International along with Hakan Tas.[7] Despite emerging when the Berlin Wall fell and Germany reunified, most of the group’s activities occurred later. In 1993, they attempted to organize the first CSD in Turkey, together with other German gay activists and Lambda Istanbul, a Turkish LGBT organization. They were forced back to Germany over night after being denied permission to hold a parade. Gay International continued to challenge institutionalized racism and homophobia in Germany.

Although they interacted with activists in East Berlin, French debates, and the US mainstream gay and lesbian discourse as well as with British socialist-feminist critiques during the Thatcher years,[8] in terms of transnational QPoC anti-capitalist politics, West Berlin ‘s diaspora communities did not engage with the Global South in the 1980s. However, within the rights discourse of the hegemonic center, efforts to organize a CSD in Turkey may be considered transnational activities. Looking at the anti-imperialist protests on the west and east coasts of the United States, in the UK, France, and the Netherlands, the story of West Berlin turns out to be quite peculiar. 

Groups like Akarsu have never addressed questions around transnational solidarity. And within ADEFRA, there is but one of the very few moments of transnational solidarity in 1980s LGBTQIA+ West Germany. Carol Gammon, a Canadian author and lesbian activist, and Katharina Oguntoye, an Afro-German historian and Gammon’s longtime partner, were influential figures in the PoC movement. Gammon recalled in our conversation in 2022 the following occurrence: “During the International Feminist Book Fair in Montreal, Katharina and I met. When Katharina visited Montreal with her book Farbe bekennen which would translate as Afro-German Women on the Trail of Their History (black bewegt),[9] we lesbians hosted her in our homes and performed other acts of solidarity.” Gammon mentions, too, that Audre Lorde was collaborating with lesbians from West as well as East Berlin. Considering Lorde’s involvement with anti-racist and anti-imperialist struggles in the Caribbean, this arguably also generated some transnational and solidary links between Black and PoC lesbians in Berlin and in the Global South.

Another influential platform was the Shabbeskreis (the Lesbian Feminist Shabbat Circle) an organization bringing together lesbians from Black, migrant, and Jewish and non-Jewish feminists in the FRG of the 1980s and the first feminist group in post-war Germany to focus on a Jewish perspective and to address anti-Semitism within the women's and lesbian movement.[10] As Gammon points out in our conversation: “There were a few moments of queer transnational solidarity in the 1980s in West Berlin.” The example of Oguntoye’s, Gammon’s, and Lorde’s Caribbean connections are a few moments of indirect connectivity with the Global South. These are the quick flames of transnational queer solidarity. It is significant that the children of the so-called guest workers who arrived in Germany since the 1950s to fill the labor demand of the post-war economy and create its so-called ‘economic miracle’, did not establish a space for transnational solidarity on the question of liberation and sexuality with the Global South. Several of them never left Germany, became what some non-white Germans have sarcastically called ‘plastic Germans’ (non-ethnic Germans ‘mit Migrationshintergrund’ (with a migration background), and created communities that have forever changed the demographics of Germany.[11]

The FRG’s laws on migration make the migrant community appear uniformly heterosexual, as Lauren Stokes shows in her research on the so-called guest workers and family migration. According to her, politicians and scholars who complain about migrant homophobia rarely mention that Germany only introduced same-sex civil unions in 2001, which meant migrants who wanted to live together as same-sex partners were not able to migrate legally through family reunification for decades.[12]

Birol Islik, queer child of ‘guest workers’ from Turkey was not feeling like an ‘Ausländer’ when he arrived in Berlin. “It was the island of liberty before German reunification in 1990.” After this event, he realized that there were at least three types of citizens in Germany: West Germans, East Germans (‘Ossis’, a pejorative West German term for residents of the German Democratic Republic) and finally Germans with ‘Migrationshintergrund’. In the 1980s, Islik did not “come out” as a gay man, as he was skeptical of US-American culture, including the notion of ‘coming out’ and how it interfered with German society. In the 1990s, however, he ended his “double life” and came out to fight the racist and homophobic atmosphere in Germany. Islik also does not recall any transnational actions among diaspora communities, including Turkish communities, in the 1980s. “Fighting the racist German society and our homophobic family made us much happier than paying attention to the rest of the world in my opinion.”

Other places where one can trace transnational solidarity and queer of color activists during the 1980s include the autonomous women’s movement and the West Berlin squatting movement. They rejected the state, capitalism, patriarchy, any forms of rule, domination and exploitation and they mobilized for countless protests and activities. Kurdish and Turkish migrant women contributed as well to lesbian and autonomous women’s resistance, blocs, and public manifestations in migrant working-class neighborhoods like Kreuzberg and elsewhere in West Berlin. Important locations, projects and events included the women’s cafe on Jagow Street, a women’s squat at chocolate factory on Mariannen Street, and the massive protests the World Bank congress in 1988.

As the child of two ‘guest workers’ who originally resided in Germany’s suburbs, Anna Lazaridou has been an active leftist activist for decades. It was in the 1970s that Anna moved to West Berlin. She told the author in 2022: “We had many dreams, even if they were difficult to realize in Greece.” Lazaridou was a member of the autonomous lesbian group within the Greek homosexual association E.O.K. Due to the group’s only brief existence, they did not develop a unified viewpoint on lesbian issues. “At the height of the Greek women’s movement in 1979, the then existing lesbian group published the first and only lesbian magazine, Labrys. It was discontinued after three issues.”[13] Yet Lazaridou’s narrative nevertheless offers another glimpse of the often-precarious threads that linked activists in West Berlin with questions around transnational solidarity.

Lazaridou was involved with the squatting movement which in early 1980s West Berlin also comprised the Tuntenhaus (House of Queens), a squat whose participants describe themselves in retrospect as “coming from more than 10 countries, sometimes cis, sometimes trans, sometimes non-binary, sometimes gay, sometimes straight, and sometimes undecided”.[14] Students, craftswomen, freelancers, artists, welfare benefit recipients (Sozialhilfeempfänger*innen) and social workers made up most of the group. However, there are hardly any traces of PoC queer activists. According to Anna, she emphasized her political identity over her sexuality within the squatting movement: “It wasn’t about looking at the issue from a sexuality perspective. Even though it was only a small part of our identity, we participated in anti-capitalist political activities with gay men and women from Greece, Italy, and Latin America. In any case, we had no problem identifying ourselves as gay men or women in the diaspora.” So militant leftists in the 1980s were deeply committed to liberation and solidarity with the global South, while their sexual identifications were not necessarily highlighted within that activism.

 

The Roots of Homonationalism

Analyzing the assumption that migrants were homophobic while Western societies were accepting sexual diversity, the US-based queer theorist Jasbir Puar coined the term homonationalism to describe how nationalist forces align themselves with the claims of the LGBTQIA+ community to justify racist, xenophobic, and anti-Muslim prejudices.[15] This analytical framework can be linked with what Lisa Duggan has described as “homonormativity”[16] to shed light on the privatization, depoliticization and domestication of queer life within a neoliberal paradigm since the 1990s. Yet elements of this homonationalist-homonormative complex can, as we have seen, be traced back to way before the early twenty-first century ‘War on Terror’, namely to 1979, when the US-imported CSD was introduced to West Germany and the Iranian Revolution occurred. It is arguably then that a process began to unfold in the course of which integrationists who aimed for the integration of LGBTQIA+ communities into mainstream society gained the upper hand over a more radical queer politics. As heterogeneous and multi-voiced West German gay and lesbian movements may have been in 1979,[17] ultimately ‘liberation’ and anti-capitalism were swallowed up by rights discourse and an emphasis on ‘equality’.

As the 1980s were a turbulent and transitional time in global affairs, upheavals in the Global South challenged the perception of masculinity in the Global North. Yet these entanglements were not really acknowledged and gay and lesbian movements in the West were not aware of these connections. As the 1979 Iranian revolution was crushed, Islamists rose to power, and thousands of anti-imperialist revolutionaries, both Muslim radicals and communists, were killed in prisons and buried in mass graves. The previously dominant Western perception of the Iranian male as an exotic object of desire became gradually replaced by the stereotype of the terrorist, who was still exotic enough to be saved by ‘Western civilized nations'.[18] A former gay activist and Islamic scholar, Thomas Ogger wrote about gays during the Iranian Revolution in the Berliner Schwulen Zeitung in 1979. In contrast to many other texts about gay and lesbian life in Iran at the time in the West German mainstream media, Ogger’s piece is less homonationalist, Euro-centric and orientalist in its outlook. To a certain degree he even welcomed Khomeini’s anti-American rhetoric.

In 1978, Ogger had visited Isfahan to study Iranian classical music. This year is exactly the year Michel Foucault and his partner Daniel Defert, French sociologist, and HIV/AIDS activist, traveled to Iran and wrote enthusiastically about ‘Islamism’ and ‘political spirituality’ for the Italian daily newspaper Corriere della Sera. Ogger’s views on the Iranian Revolution and Islamism were similar to Foucault’s. As Ogger said in our conversation in 2022: “the leftists in Iran had a different reason to act than the leftists here. Thus, there was a revolution with a lot of constructive ideas from Khomeini himself.” His explanation is more or less consistent with the narrative of the clash between postcolonial and Western-centric approaches. It must be noted that the 1979 Iranian Revolution and its historical continuity had different meanings beyond their mere objectification by both sides of the intelligentsia in the Global North. As a strategy for decolonization and socialist transformation based on the ‘non-capitalist way of development’ (NCWD),[19] some leftist parties and organizations, particularly the strongest ones at the time, embraced the falsehood of the so-called ‘democratic and national’ character of Khomeini’s forces. The 1979 Revolution and counter-Revolution and their very complex dynamics in the context of political Islam and Communistphobia during the Cold War have mostly been reduced to the dichotomy of ‘Islamism versus modernism’ in Western public discourse. Despite the importance of anti-imperialist internationalism and solidarity in the 1980s, this complexity was mostly not understood.[20]

Nevertheless, the media battle between Michel Foucault, the postmodernist anti-Marxist French philosopher, and his Eurocentric colleagues over their hot topic ‘Iranian Revolution’ in the 1980s subsided without a deeper exploration of how Foucault or Ogger searched for ‘political spirituality’ in revolutionary Tehran in the late 1970s as well as at a BDSM gay club in San Francisco in the same era. How different or similar are the approaches of both authors to these phenomena? Having recently learned about the concept of ‘homonationalism’ in our conversation, Ogger readily picks up on its critical potential. Since visiting Iran in 1978, he has distanced himself from the German gay movement. While he lived in Berlin for many years, he recently moved to a suburban area in North Rhine-Westphalia with his longtime partner. Currently, he is most concerned about environmental issues. 

It is essential to distinguish between the assumption that Islam is intrinsically homophobic, which gained popularity after 1979, and homonationalism as a set of political strategies and goals, which were ushered in largely, but not exclusively by the Lesbian and Gay Federation in Germany (LSVD) in alliance with the Greens during the 1990s. In the course of time part of the LSVD’s agenda came to embrace the notion that Muslim migrants were homophobic and to use this sentiment as a motivating force for their homonationalist politics. Ogger instead proposes a very different understanding of Islam. He believes that Islam today is just as homophobic as any other religion, while in the Middle Ages it was “more open-minded”.

 

PoC in West Berlin and the Aids movement

In the 1980s and 1990s, the AIDS crisis was repoliticizing the gay and lesbian movement. The US Act Up movement and other influences inspired major attempts to address the fundamental problems caused by capitalism. Joanie Marquardt, who lived in Los Angeles and San Francisco in the early 1980s, emphasized that the early organizers of the HIV/AIDS protests were veterans of the anti-war, anti-imperialist, and anti-racist movements of the 1960s and 1970s. Before they joined Act Up and other groups, they had protested the Vietnam War and the U.S.-backed coup that overthrew Chile’s democratically elected president Salvador Allende. Queer AIDS activists had also participated in the 1979 White Night Riots, following Dan White’s acquittal of murder charges for the assassination of Harvey Milk and San Francisco Mayor George Moscone.

While the slogans “Fight AIDS, not Nicaragua,” and “Condoms, not contras” circulated across the nation, also at the first AIDS protest in front of the White House, the politics linking antimilitarism to direct action against AIDS reached a powerful scale in the fall of 1987 during the March on Washington for Lesbian and Gay Rights and through civil disobedience manifestations at the Supreme Court Building.[21] Sarah Schulman’s history of the AIDS movement also chronicles the early years of a vigorously oppositional group riven by discord and factionalism.[22] Many members of this diverse group of queer activities in the United States had roots in anti-war and anti-imperialism protests. However, “Act Up was predominantly white and male,” Schulman acknowledges. “But its history has been whitened in ways that obstruct the complexity.” Act Up also comprised affinity groups, including the Majority Action Committee, for people of color, and the Women’s Caucus. Therefore, the argument that Act Up was white and male and the fact that Aids history has long focused on Act Up have sidelined the much more diverse nature of AIDS activism. This social movement went beyond what is inscribed in the mainstream memory that dominates public discourse.

Following the first AIDS cases in 1981, Deutsche Aidshilfe e.V. was founded in West Berlin on September 23, 1983. Despite this, the connection between AIDS activists of the 1980s in West Berlin and PoC activists was not particularly strong. According to one of the directors of Deutsche Aidshilfe e.V. Thomas Oh, there were significant differences between the AIDS movement in Germany and those in the United States and France. He describes the 1980s as a decade of shock. Even though the German Act Up movement emulated the American model, it lacked the original’s anti-capitalist and anti-imperialist spirit. Hence West German activists did hardly link Aids policies with political and economic issues and neither with criticisms of Western militarism nor with upheavals in the Global South. Many HIV positive queers of color had to flee Germany as the institutionalized racism in German society put their lives in danger. During the AIDS epidemic in West Germany, 1981-1992, many gay men assumed that West Germany was more sexually liberal than the rest of the world. But Christopher Ewing shows us that is not the case. There was a lot of concern about whether Turkish immigrants in particular would be compatible with ‘liberal’ West German society. Ewing provides a detailed analysis of differently racialized groups of gay men during the epidemic. In particular, concerns were raised about migrants from the “Islamicate” countries of North Africa and the Middle East.[23]

Yet anti-racist voices in the German AIDS movement remained isolated at best. Critiques of Militarism and of NATO did not figure within AIDS activism. It did also not link up with the protests of immigrants and their struggles outside of the homosexual world. One reason for this reluctance to forge cross-issue and cross-group alliances may have been that the German welfare state and state-funded institutions were relatively quick, especially when compared to the US, in supporting infected persons. A very small number of PoC people appear in German mainstream media stories about the AIDS crisis in the 1980s. The queer children of so-called ‘guest workers’ from Turkey and Arab countries who were part of West Berlin’s sex worker scene hardly surface in official records. AIDS and PoC in West Germany were the subject of a report published in Der Spiegel on 1 December 1985 titled “Horror vor Zwang” (“the horror of coercion”). The article was about a young civil engineer from Central Africa who came to Germany on a student scholarship. After testing positive for HIV, he was forced to return home. According to German-Turkish queer scholar Zülfukar Cetin, similar cases had already occurred earlier.[24] Yet there was no mobilization against such deportations in the name of queer transnational solidarity with the Global South.

That QPoC activists played clearly less prominent a role in the German AIDS movement in the 1980s than they did in the US movement partly explains this lack of mobilization. The scarcity of anti-capitalist voices can also account for this as these could have pinpointed how global injustices imposed larger risks on non-Western persons with HIV, thus generating transnational solidarity. Ultimately, both the German and the US movement were outmaneuvered by capitalist forces. Across the Atlantic economic elites used the AIDS crisis as an alibi to impose structural adjustments within an incipient neoliberal regime of accumulation, which also led to the demise of queer social spaces in cities like New York and San Francisco through privatization, urban development, and financialization. As Alexander Stoffel puts it against the destruction of these lifeworld’s and against the privatization of sexual life, the AIDS activists insisted upon promiscuity and erotica (not domesticity and sexual conservatism) as the solution to the AIDS pandemic.[25] From this vantage point, parts of the German as well as the US-American movement invoked Eros, albeit unsuccessfully, as a means to reconfigure social relations towards human flourishing, bodily autonomy, pleasure, desire and sociality – as opposed to accumulation, profit, and atomization. These dreams could only have become true through a radical change in the existing social-political system.

 

Conclusion

An analysis of archival records and oral history interviews with non-white Germans, migrants, and exiles in Berlin’s diaspora communities can provide insights into their struggles against institutionalized racism, patriarchy, and homophobia. During the 1980s, non-white, non-heterosexual people living in West Berlin had a hard time surviving, and many of my interlocutors were forced out. Therefore, they were less likely to engage in organized political activism and to act in solidarity with struggles in their own countries of origin. As a result, queer migrant communities in West Berlin during the 1980s rarely participated in transnational anti-imperialist solidarity actions.

Politics is all about survival. It is important to note that during the 1980s in Germany, identity politics played hardly a significant role beyond what is known as ‘gay and lesbian activism’. The kind of identity politics we know today, of non-heterosexual (queer), non-white (PoC), and non-citizen (refugee, exiled, fugitive) people, was practically non-existent in 1980s Germany. The hegemonic US queer liberation model, which involved QPoC who adhere to Blackness as well as to a category of the Euro-American regime of sexuality (LGBTQIA+) as their points of identification, has not been implemented in Germany, with all its pros and cons. Consequently, there was a lack of anti-imperialist solidarity among QPoC in West Berlin, while gay and lesbian identifications in diaspora communities did not follow the US model.

As a result of the fall of the Berlin Wall and the shift towards the 1990s, this situation has changed. As the fresh voices of QPoC studies in contemporary German history on both sides of the Atlantic remind us, ‘queer’ and ‘of colour’ are contingent, contested, and unfinished categories. The majority of these policies tend to reinforce US-centricity and eliminate differences between and within gendered, sexually non-conforming, racialized, and colonized populations across the North and the South. In Europe, the term ‘people of color’ is often used in a fashion that maintains the US hegemony and dismisses the local antiracist and anti-imperialist movements as unauthentic and derivative.[26]

In 1980s West Berlin, queers of color and fugitives were essentially disconnected from transnational forms of queer anti-imperialist solidarity. Their diverse experiences were far beyond the purview of the dominant Western understandings of LGBTQIA+. Even though they were removed from the records, they did exist.

 

 

 


[1] “Island of Stability” was the phrase that Jimmy Carter used to describe the circumstances of Iran under the leadership of the last Shah of Iran, Mohammad Reza Pahlavi in the Christmas period of 1977, just one year before the 1979 Revolution.
[2] The true leaders of the Iranian revolution were the general strikers. Without the strike, the Shah would not have been toppled, and the revolutionary movement would have ended in defeat or bloody civil war at best. Oil industry workers had a strong communist tradition, which was the basis of the strike. The clash between the promise of revolution and counter-revolution is ongoing. There is still debate among political actors and historians about the permanent nature of the 1979 Revolution. For more check: “A portrait of Iran's incomplete revolution” by this author and “The “problem space” of the historiography of the 1979 Iranian Revolution” by Naghme Sohrabi.
[3] Stoffel, Alexander. “The Dialectic of the International: Elaborating the Historical Materialism of the Gay Liberationists.” International studies quarterly 66 (2022), no. 3, DOI: https://doi.org/10.1093/isq/sqac054.
[4] When it comes to terminology, it is notable that the terms ‘gay’ and ‘lesbian’ were among the most used terms to identify with the Western regime of sexuality (LGBTQIA+) in Germany at the time. ‘Queer’ was the queerest term in 1980s West Berlin. In this study, queer refers to a broad spectrum of non-normative identities and politics. Check Caroline Cottet and Manuela Lavinas Picq, eds. Sexuality and Translation in World Politics. E-International Relations, 2019.
[5] Voß, Heinz-Jürgen, ed. Westberlin  ein sexuelles Porträt. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2021.
[6] Florvil, Tiffany Nicole. Mobilizing Black Germany: Afro-German Women and the Making of a Transnational Movement. Champaign: University of Illinois Press, 2020.
[7] Check also Sekuler, Todd (26.7.2020): Birol Isik Video Interview. Humboldt-Universität zu Berlin, Medien-Repositorium, European HIV/AIDS Archive, DOI: 10.18450/ehaa/228.
[8] Colpani, Gianmaria; Isenia, Wigbertson Julian; Pieter, Naomie. “Archiving Queer of Color Politics in the Netherlands: A Roundtable Conversation.” Tijdschrift voor genderstudies 22 (2019), no. 2: 163–182.
[9] Ayim, May; Oguntoye, Katharina; Schultz, Dagmar Showing Our Colors: Afro-German Women Speak Out, Berlin: Orlanda Verlag, 1986.
[10] Jacoby, Jessica; Adler, Sharon. "Lebenslanges Engagement für die Sichtbarkeit von Jüdinnen.“  Deutschland Archiv, 15.12.2020.
[11] Check Stokes, Lauren. “The Permanent Refugee Crisis in the Federal Republic of Germany, 1949—.” Central European History 52 (2019), no. 1: 19–44.
[12] Stokes, Lauren. Fear of the Family: Guest Workers and Family Migration in the Federal Republic of Germany. New York: Oxford University Press, 2022.
[13] See the contribution on “’Die Unsicheren Frauen’. Die autonome Lesbengruppe im Homosexuellenverband EOK.” in: Frauen Anstiftung, ed. Frauen in Bewegung zwischen Berlin, Athen und Thessaloniki. Dokumentation der griechisch-deutschen Tagung zu autonomen Frauenprojekten. Ohne Verlag, 1991, page 39.
[14] Tuntenhaus & KA86 (last accessed 20 June 2023).
[15] Puar, Jasbir K. Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times. Durham: Duke University Press, 2007.
[16] See for example Duggan, Lisa. “The New Homonormativity: The Sexual Politics of Neoliberalism.” In Russ Castronovo and Dana Nelson, eds. Materializing Democracy: Toward a Revitalized Cultural Politics, 175–194. Durham: Duke University Press, 2020.
[17] Check Griffiths, Craig. The Ambivalence of Gay Liberation: Male Homosexual Politics in 1970s West Germany. Oxford: OUP 2022. Van Cleef, Ronald. A Tale of Two Movements? Gay Liberation and the Left in West Germany, 1969- 1989. Stony Brook Theses and Dissertations Collections, 2014.
[18] Bracke, Sarah. “From ‘Saving Women’ to ‘Saving Gays’: Rescue Narratives and Their Dis/Continuities.” European Journal of Women’s Studies 19 (2012), no. 2: 237–52.
[19] Check Amirahmadi, Hooshang. “The Non-Capitalist Way of Development.” Review of Radical Political Economics 19 (1987), no. 1: 22–46.
[20] Check Matin-Asgari, Afshin. Both Eastern and Western: An Intellectual History of Iranian Modernity. Cambridge: Cambridge University Press, 2018.
[21] Hobson, Emily K. Lavender and Red: Liberation and Solidarity in the Gay and Lesbian Left. Oakland: University of California Press, 2016.
[22] Schulman, Sarah. Let the Record Show: A Political History of ACT UP New York, 1987-1993. New York: Farrar, Straus and Giroux, 2021.
[23] Ewing, Christopher. “Highly Affected Groups: Gay Men and Racial Others in West Germany’s AIDS Epidemic, 1981–1992.” Sexualities 23 (2020), no. 1-2: 201–223.
[24] Cetin, Zuelfukar; Attia, Iman. “Der Schwulenkiez Homonationalismus und Dominanzgesellschaft.“ In Köbsell, Swantje; Prasad, Nivedita, eds. Dominanzkultur reloaded: Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld: transcript Verlag, 2015.
[25] Stoffel , Alexnader. “Politicizing Eros: Queerness, Pleasure, and the Modern Capitalist State.” London School of Economics, England, September 2022.
[26] Bacchetta, Paola; El-Tayeb, Fatima; Haritaworn, Jin. “Queer of Colour Formations and Translocal Spaces in Europe.” Environment and planning. D 33 (2015), no. 5: 769–778.