Dieses Jahr läuft vieles ganz anders als geplant: Wegen der Corona-Pandemie dürfen bis mindestens zum Ende des Sommers keine Großveranstaltungen stattfinden. Diese Einschränkung traf auch viele Gedenkfeierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Befreiung nationalsozialistischer Konzentrationslager durch die Alliierten. Innerhalb von wenigen Wochen musste ein Alternativprogramm geschaffen werden. Es erfolgte eine digitale Übersetzung der Gedenkfeiern in den virtuellen Raum, um trotzdem ein würdiges Gedenken an Opfer und Befreier möglich zu machen.
Unter dem Hashtag #75liberation sammeln sich in den sozialen Medien Beiträge, die von verschiedenen Gedenkstätten, Museen, aber auch privaten Nutzer*innen hochgeladen werden. Als Abonnentin sehe ich so immer direkt die neuen Beiträge, die mit diesem Schlagwort versehen wurden, ohne jedes Profil einzeln anschauen zu müssen. Mich interessieren vor allem die Überlebenden, die sich auch noch 75 Jahre nach der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager zu Wort melden können.
Unter den zahlreichen Beiträgen bleibt mir ein Video besonders im Gedächtnis. Es ist eine private Aufnahme, die Richard Fagot aus Israel zeigt. Es wird über das Profil der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen (@sachsenhausenmemorial) angeboten. Über den Bildtext erfahre ich, dass Fagot Überlebender der Konzentrationslager Ravensbrück und Sachsenhausen ist, in die er nach der Auflösung des Ghetto Łódź 1944 verschleppt wurde.
In leichter Untersicht durch die Kameraperspektive sehe ich einen Mann, der abwechselnd in die Kamera und von mir aus gesehen nach rechts blickt, wahrscheinlich, um seinen vorbereiteten Text abzulesen. Im Hintergrund ist die Skyline seiner Heimatstadt vor dem bewölkten Himmel zu sehen; Fagot steht wohl auf einem Balkon, der diese freie Sicht erlaubt. Zwischendurch lächelt er den oder die Filmer*in an, was auf eine gewisse Unsicherheit, ob der ungewohnten Situation, für ihn schließen lassen könnte. Fagot spricht in dem Video deutsch und wird englisch untertitelt. Er beginnt mit der herausfordernden Situation, die die Pandemie mit sich bringt, und betont die internationale Zusammenarbeit, diesem Übel zu begegnen. Für das Gedenken an die Gräueltaten der nationalsozialistischen Herrschaft und besonders die Lehren, die man für die Zukunft aus dieser ziehen muss, sei dieser internationale Zusammenhalt ebenso nötig. Hochgezogene Grenzen, Ausgangssperren und Reiseverbote dürfen dem nicht im Wege stehen. Richard Fagot dankt daher besonders den Organisator*innen für ihre unermüdlichen Bemühungen, „diese Gräueltaten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und die zunehmende Gefahr ihrer Wiederkehr zu mindern“ (1:39‘-1:58‘).
Interessant ist, dass sich das Gedenken, in Anbetracht von Corona-Maßnahmen und politischen Entwicklungen, mit den aktuellen Ereignissen und Zukunftswünschen vermischt. In diesem, wie auch in anderen Beiträgen wird schnell deutlich, dass für die letzten Überlebenden, die dem Grauen der Konzentrationslager entkommen konnten, diese Jahrestage viel mehr bedeuten, als ein punktuelles Gedenken. Dennoch sind sie Dreh- und Angelpunkte, die aufwendig geplant und – normalerweise – vor Ort und vor allem gemeinsam begangen werden.
Bei der schnellen Umplanung des Jahrestages in ein virtuelles Gedenken wurden sich viele Institutionen sicher noch einmal bewusst, wie wichtig Social Media Kanäle für eine tagtägliche Reichweite sind. Auch, wenn die meisten Institutionen eigene Accounts besitzen, werden diese häufig nur unregelmäßig genutzt. Das muss nicht unbedingt mit einer generellen Ablehnung dieser Form der Kommunikation zusammenhängen, meist ist es einfach eine Frage von Ressourcen. Um über diese Medien Aufmerksamkeit für die eigene Einrichtung zu erzeugen, benötigt man eine funktionierende Infrastruktur an Mitarbeiter*innen und Technik. Es bedarf eines Redaktionsplans, da Beiträge in regelmäßigen Abständen hochgeladen werden müssen. Die Algorithmen der Plattformen reagieren auf Interaktionen, auf „Likes“, auf Kommentare, auf „Re-Posts“. Gerade bei Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager bedarf es eines geschulten Community-Managements, das auf Kommentare antwortet, auf sich entwickelnde Diskussionen eingeht und auf diskriminierende, antisemitische und rassistische Bemerkungen reagieren kann – so wie das die geschulten Mitarbeiter*innen bei Führungen auch tun. Die Interaktionen auf den Plattformen müssen zudem regelmäßig, ähnlich einer Besucher*innenforschung, ausgewertet werden, um Angebote/ Beiträge anpassen zu können.
Es ist keine leichte Aufgabe, neue Formen des Erinnerns zu entwickeln, die gleichzeitig historisches Bewusstsein hervorbringen, zur kritischen Reflexion anregen, ethisch angemessen sind und Einfühlungsvermögen möglich machen. Welche Materialien stellt man wie ins Netz, um Missbrauch zu verhindern? Wie schützt man Personen wie Richard Fagot vor Geschichtsrevisionist*innen oder Leugner*innen des Holocaust? Und wie schafft man es letztlich, mit seinem Auftritt in den sozialen Medien zu einem Besuch anzuregen?
Anlässlich des 75. Jahrestags zur Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager haben viele Gedenkstätten Materialen aus ihren Archiven und Ausstellungen über das Internet zugänglich gemacht und gezeigt, wie viele spannende Projekte in Arbeit sind und schon realisiert wurden. Dies wäre unter anderen Umständen vielleicht verborgen geblieben: „Die ganze Vielfalt der heutigen Kommunikationsmöglichkeiten macht Entfernungen irrelevant, tötet Gleichgültigkeit, weckt Neugierde. Sie ermöglicht es, per Mausklick Schicksale aufzuspüren, auszutauschen, zu überprüfen, in ihre Einzelheiten zu verfolgen.“[1] Die Corona-Pandemie hat in diesem, wie auch in vielen anderen Bereichen als digitaler Beschleuniger gewirkt. Das heißt nicht, dass Gedenken nur im virtuellen Raum stattfinden soll. Es ist den Überlebenden zu wünschen, dass ein Gedenken vor Ort spätestens im kommenden Jahr wieder möglich ist; digitale Angebote können darüber hinaus genutzt werden und ermöglichen es Menschen, teilzuhaben, ohne persönlich anwesend zu sein – eine Ausweitung kann den Rezipient*innenkreis nur vergrößern.
So wie ich Richard Fagot sehe, sehe ich zur Zeit auch meine Freund*innen, meine Arbeitskolleg*innen und meine Angehörigen. Das Video suggeriert mir eine Nähe, die mit einer analogen, aber „choreografierten“ Gedenkfeier so vielleicht gar nicht zustande gekommen wäre.
[1] Natan Sznaider: Gedächtnis im Zeitalter der Globalisierung. Prinzipien für eine neue Politik im 21. Jahrhundert, in: APuZ, 18. Januar 2016 „Holocaust und historisches Lernen“, S.10-15.
#75liberation
Erinnern im virtuellen Raum