Der Krieg in der Ukraine betrifft Deutschlands Einwohner*innen auf unterschiedliche Art und Weise. Er durchdringt die Stadt- und Privaträume anders, aktualisiert unterschiedliche Erinnerungen und ruft verschiedene (Re)aktionen hervor. Er beherrscht nun fast jedes Gespräch, das man zufällig auf der Straße, in einem Café oder Geschäft überhört. Auf Grund ihrer eigenen Herkunft fühlen sich die Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland – die postsowjetischen Migrant*innen – besonders von diesem Krieg betroffen, egal wie sie zu ihm stehen. Der Krieg hat direkte Auswirkungen auf ihre Lebenswelten, er betrifft Familienangehörige und Freunde sowohl in der Ukraine als auch in Russland, und er hinterlässt Spuren in den hiesigen Communities.
Die 3,5 Millionen Menschen mit postsowjetischem Migrationshintergrund in Deutschland sind keine homogene Gruppe.[1] Die meisten von ihnen sind in den 1990er Jahren als Spätaussiedler*innen nach Deutschland gekommen, also als "deutsche Volkszugehörig" beziehungsweise deren Familienangehörige. Gut 2,3 Millionen ehemalige Sowjetbürger*innen kamen so in die Bundesrepublik. Weitere gut 220.000 Menschen immigrierten als jüdische Kontingentflüchtlinge und deren Angehörige. Darüber hinaus gibt es Zugewanderte aus verschiedenen ehemaligen Sowjetrepubliken, die im Zuge von Bildungsmigration, Arbeitsmigration, als Geflüchtete u.a.m. ins Land gekommen sind. Zwar spricht eine Mehrzahl dieser Menschen Russisch, aber nur eine Minderheit identifiziert sich als "Russ*innen": laut einer repräsentativen Umfrage der Boris Nemtsov Foundation (BNF) aus dem Jahr 2016 bezeichneten sich 18% der postsowjetischen Migrant*innen in Deutschland als "Russen", gegenüber 44% "Deutschen", 19% "Europäern" und 2% "Ukrainern".[2]
Entsprechend wichtig ist eine differenzierte Betrachtung. Denn es gibt nicht die Einstellung der postsowjetischen Migrant*innen zum Krieg. Auch innerhalb der skizzierten Großgruppen gibt es signifikante Unterschiede in den Reaktionen. Hier können wir nur ein paar Schlaglichter werfen, basierend auf längerfristigen Forschungen zu diesen verschiedenen Communities, aber auch auf aktuellen Beobachtungen aus unserer laufenden Feldforschung.[3]
Komplexe Bruchlinien
Spätestens seit dem "Fall Lisa" – den durch russische Medienberichterstattung befeuerten bundesweiten Demonstrationen anlässlich der angeblichen Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens in Berlin-Marzahn im Januar 2016 – stehen postsowjetische Migrant*innen und besonders die zahlenmäßig dominanten russlanddeutschen Spätaussiedler*innen in dem Ruf, dem Russland Wladimir Putins besonders zugeneigt zu sein. So einfach ist es aber nicht. Die schon erwähnte BNF-Studie ermittelte, dass ca. ein Sechstel der Befragten als äußerst "pro-russisch" bezeichnet werden kann, überproportional – aber keinesfalls ausschließlich – Angehörige der Generation 55+.[4] Ein weiteres Sechstel identifizierten die Autor*innen der Studie als "besonders deutsch" (eine etwas unklare Kategorie, die Bezug nahm auf ethnische Selbstidentifikation und auf progressive beziehungsweise liberale Werte).[5] Die übrigen zwei Drittel der Befragten ließen sich nicht klar zuordnen. Interessant für den gegenwärtigen Kontext ist weiterhin, dass zwar 52% aller Befragten der Aussage ganz oder teilweise zustimmten, dass der Westen Russland in der Außenpolitik mit Vorurteilen begegne, aber nur 14% bejahten, dass Russland das Recht habe, sich in die ukrainische Politik einzumischen – die niedrigste Zustimmungsrate bei allen Fragen mit Bezug auf die russische Außenpolitik, 42% verneinten dies.[6] Nur ein kleiner Teil unterstützte also eine expansive "großrussische" Agenda in der Ukraine.
Durch den Krieg in der Ukraine treten nun die komplexen Bruchlinien innerhalb der postsowjetischen Communities und Familien zu Tage. Wie anhand der oben zitierten Daten zu erwarten war, verlaufen diese zum Teil entlang der Generationengrenzen – es gibt sogar schon Selbsthilfegruppen für junge Leute, die mit ihren Eltern über diese Themen streiten – zum Teil aber auch quer dazu: auch Angehörige der älteren Generation kritisieren Putins Politik, auch Angehörige der jüngeren Generation unterstützten sie. Ähnliches war schon nach der Krim-Annexion 2014 zu beobachten. Jetzt wird aber umso heftiger gestritten. "Der Krieg ist bei den Leuten ins Wohnzimmer eingezogen", wie es eine Gesprächspartnerin formulierte.
Die Auseinandersetzungen erschöpfen sich allerdings nicht in einem einfachen "dafür" und "dagegen", wie die komplizierten Gefühlslagen quer durch verschiedene Gruppen zeigen: Ein junger russischsprachiger Mann, der sich klar gegen Putin positioniert hat, kehrt betrübt von seinem Besuch von Verwandten in Russland zurück. Trotz seiner politischen Ansichten ist ein wesentlicher Teil seines Lebens mit Russland verbunden. Er kann deswegen nicht fassen, was die politische Entscheidung Russland abzuschotten für das transnationale Zusammenleben der Familie bedeuten wird. Ein älterer Mann, der sich mit seinen Verwandten diesbezüglich gestritten hat, kritisiert die EU-Politiker*innen für deren Verhandlungswillen gegenüber der russischen Regierung:
"Wie viele Länder hat Russland bereits angegriffen? Es wurde nichts gemacht. Mit Polonium die Leute in Großbritannien vergiftet. Auch nichts. Putin war schon immer ein krimineller Kommunist."
Im Gegensatz dazu macht ein Ehepaar, das nach Russland zurückziehen wollte, sich Sorgen um die Zukunft. Während eine Frau hinterfragt, wer am Krieg genau schuldig ist, äußert sich eine andere deutlich dagegen sowie gegen alle russischsprachigen Leute in Deutschland, die "sowas" unterstützen würden.
Zu diesem frühen Zeitpunkt lassen sich die verschiedenen skizzierten Positionen nicht quantifizieren. Es gibt durchaus Leute, die den offiziellen Diskursen, wie sie in den russischen Staatsmedien vermittelt werden, folgen, zum Teil unter dem Eindruck des Krieges sogar verstärkt. Es gibt aber auch diejenigen, die Putins Maßnahmen inzwischen anzweifeln oder sich gegen den Krieg äußern. Und es gibt solidarische Mobilisierung von Hilfe für die Ukraine: unter jungen sogenannten „Post-Ostis“ in Berlin und anderen russlanddeutschen Einzelpersonen; bei der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland; bei den jüdischen Gemeinden, deren Angehörige oft aus der Ukraine stammen; und auch unter russlanddeutschen und russischsprachigen Freikirchen-Gemeinden, die sowohl Geldspenden und Essen für die Ukrainer*innen sammeln als auch mit Bussen nach Rumänien fahren, um die ukrainischen "Schwestern" und "Brüder" von dort abzuholen.
Furcht vor Anfeindungen
Diese Palette von Reaktionen lässt sich also weit ausdehnen und wird durch persönliche Biographien, transnationale Beziehungen sowie Vorerfahrungen im deutschen Kontext geprägt. Auch wenn die Politik klare Deutungsmuster zu kristallisieren vermag, lässt sich die Wahrnehmung der Menschen nicht leicht kategorisieren. Vieles kommt dazwischen, nicht zuletzt die Ängste und Trennlinien, die mit dem eigenen Alltag verbunden sind.
Seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges verbreiten sich in den Communities Bedenken, dass die Spätaussiedler*innen und andere russischsprachige Menschen für Putins Politik in Deutschland verantwortlich gemacht werden. Auf WhatsApp zirkulieren vielfach weitergeleitete Videos, Fotos und Texte, die Anfeindungen belegen sollen: vom Fenster eines russischen Ladens, das mit dem Graffiti "Putin der Mörder" beschmiert wurde (siehe Bild unten), über negative Kommentare gegenüber russischen Restaurants bis zu Video-Geschichten über bewaffnete Angriffe auf russischsprachige LKW-Fahrer. Auch wenn sich diese mittlerweile zahlreichen Berichte nicht immer unabhängig bestätigen lassen, werden diese oft von russischen Medien extrapoliert als Zeichen von Russophobie in Deutschland. AfD-nahe russlanddeutsche Gruppen wie der "Internationale Volksrat der Russlanddeutschen" befeuern die Ängste zusätzlich.
Diese Geschichten dienen den Menschen gleichzeitig als Bestätigung eigener Erfahrungen, die sie im Alltag sammeln und miteinander aus Angst und Verzweiflung teilen. Eine Frau, die in den 1990er Jahren als Spätaussiedlerin nach Deutschland kam, erzählt, dass der Krieg sich längst über die ukrainischen Grenzen hinaus ausbreite und die Erfahrungen der postsowjetischen Migrant*innen hier beeinflusse. "Es tut weh", sagt sie, schon wieder als Russin und damit auch automatisch als Putin-Unterstützerin bezeichnet zu werden. Wieder würden Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland zu "Anderen" gemacht, nachdem man ihnen schon nach der Ankunft ihre legitime deutsche Identität streitig gemacht hatte – eine Grenzziehung zwischen "Einheimischen" und "Fremden", die nie richtig verarbeitet wurde.
Dabei erscheint für viele vor allem die eigene Sprache als Quelle großen Unbehagens und Ursache möglicher Ausschlüsse und Anfeindungen. Bereits vor dem Ukraine-Krieg waren die oft mangelnden deutschen Sprachkenntnisse vieler älterer Spätaussiedler*innen und Kontingentflüchtlinge eine Erinnerung daran, dass sie nicht richtig dazugehören. Heute werden die alten Erfahrungen des eigenen Traumas mit neuer Intensität betrachtet. "Ich war gestern in der Bäckerei", erzählt eine Frau leise auf Russisch den Anderen, "und als ich gesprochen habe, sind alle still geworden. Alle haben mich angestarrt". Zwei andere Frauen begrüßen sich im Café auf Russisch, und eine von ihnen merkt, wie eine Familie sie plötzlich anschaut: "Pass auf, wie die auf uns gucken, bestimmt wegen der russischen Sprache". Auch wenn viele Leute selber noch nicht von Vorfällen betroffen waren, werden solche Geschichten als glaubwürdig betrachtet und mit eigenen vergangenen Befangenheiten verbunden.
Postsowjetische Migrant*innen mit Kriegserfahrung: Georgier*innen in Deutschland
Der aktuelle Krieg in der Ukraine ist nicht die erste militärische Auseinandersetzung im postsowjetischen Raum in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Entsprechend, haben manche postsowjetischen Migrant*innen in Deutschland bereits in der Vergangenheit Erfahrungen mit Krieg gemacht, was auch ihren Blick auf die gegenwärtigen Ereignisse formt. Wenn etwa Migrant*innen aus der ehemaligen Sowjetrepublik Georgien in Deutschland über die aktuelle Lage in der Ukraine sprechen, mischen sich unterschiedliche Erinnerungen miteinander. Überwiegend sind sie mit Angst und Traurigkeit durchdrungen. Man erinnert sich an verschiedene Kriege, die Bürger*innen Georgiens erlebt haben, und interpretiert die heutigen Ereignisse durch das Prisma dieser Vergangenheit.
Dass der Krieg in der Ukraine eine humanitäre Katastrophe ist, steht sowohl bei Einheimischen als auch bei Migrant*innen in Deutschland nicht zur Debatte. Jedoch hat dieser Krieg weitere Implikationen für Menschen aus Georgien. Sie betrachten ihn als Katalysator für die "Wende" in Europas Politik gegenüber Russland, welche eine enorme Rolle für die Zukunftsgestaltung ihres Landes als Russlands Nachbarland haben könnte. Der Krieg in der Ukraine ist in dieser Betrachtungsweise ein Krieg für den Frieden, aber auch ein Krieg für die Hoffnung auf eine sichere Zukunft für die Heimat dieser Menschen.
Fast vierzehn Jahre ist der Krieg von 2008 her, der russische Truppen tief auf georgisches Staatsgebiet brachte. Aber angesichts der heutigen Ereignisse kommen die traurigen Erinnerungen "von damals" hoch, und es fühlt sich alles wieder "wie heute" an. Für Migrant*innen aus Georgien war der Krieg gegen die Ukraine nicht so "unerwartet" und "unvorstellbar", wie viele Bürger*innen in Europa ihn vielleicht wahrnehmen. Er ist für sie ein weiteres Bindeglied in einer langen Kette von Schritten, die Russlands Regierung zum Teil schon vor Putin gegenüber etlichen Ländern im postsowjetischen Raum unternahm. Manche sehen den ganzen Prozess daher als Ergebnis des russischen imperialistischen Projekts, "seine Peripherien zurückzuerobern", wie es eine Gesprächspartnerin formulierte.
Migrant*innen aus Georgien sind eher von der Positionierung Europas überrascht als von Putin und sind voller Hoffnung, dass sich "diesmal" tatsächlich was ändert. Es gibt die Hoffnung, dass der Krieg in der Ukraine die vergangenen Kriege Georgiens für die "Menschen im Westen" sichtbar macht, dass das ungesehene Leid des Krieges im Jahr 2008 in Europa nachvollziehbar(er) werden könnte. Diese "Wende" in der europäischen Haltung betrachten sie als ein für Georgien sehr wichtiges "Zeitfenster", das man unbedingt nutzen sollte.
Doch an der Frage, "wo wir stehen" (in den Worten der Gesprächspartner*innen), gehen die Meinungen auseinander. Dabei reproduzieren sich Konfliktlinien, die auch im Herkunftsland existieren. Folgende Aussagen und Einstellungen lassen sich beobachten:
Die Ukraine kämpft heute für uns alle. Sowohl für Georgiens Bürger*innen, als auch für die Europäer*innen.
Wenn die Ukraine fällt, ist das Schicksal vieler anderer Länder in und außerhalb Europas gefährdet. Das imperialistische Projekt der russischen Regierung endet damit noch lange nicht.
Die Hoffnung auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist für die Menschen in und aus Georgien die Hoffnung auf eine friedliche Existenz.
Es gibt eine politische Spaltung innerhalb von Migrant*innenkreisen entlang der Konfliktlinie zwischen der georgischen Regierung und der georgischen Bevölkerung bezüglich der Teilnahme an den Sanktionen gegen Russland. Ein Teil vertritt die Meinung, Georgien wäre nicht in der Position, an Sanktionen teilzunehmen, da das Land nicht in einen weiteren Militärkonflikt mit Russland verwickelt werden sollte: „Wir haben ja gesehen, was damals passiert ist, niemand wird uns schützen.“ Ein anderer Teil sieht die heutige Lage aber als Wahl zwischen "gut" und "böse": "Wir sollen entscheiden, wo wir stehen." Andauernde friedliche Demonstrationen für die Ukraine vor dem Parlament der georgischen Hauptstadt Tbilisi signalisieren, auf welcher Seite zumindest ein großer Teil der georgischen Bevölkerung steht. Dazu ist an dieser Stelle noch die Sichtbarkeit von Georgier*innen auf den Demonstrationen für die Ukraine z.B. in Berlin zu erwähnen. Georgische Wortmeldungen im Sinne von "geteiltes Leid ist halbes Leid" wurden laut Erzählungen mit besonderer Freude begrüßt. Das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen diesen zwei Gruppen von Migrant*innen nimmt so zu. Man trifft sich hier, auf dem "fremden" deutschen Boden, und symbolisiert gemeinsam vergangenes und aktuelles Leid.
Das beschriebene Zusammengehörigkeitsgefühl hat auch eine ganz praktische Dimension. Als eine Hilfsaktion für die Ukraine ausgerufen wurde, zögerten die Gesprächspartner*innen nicht, daran teilzunehmen. Sie suchten benötigte Dinge (Anziehsachen, Decken etc.) zu Hause zusammen und kauften Hygieneartikel und Süßigkeiten für Frauen und Kinder ein. Kinder malten Bilder für Gleichaltrige in den Kriegsgebieten. Wie schon viele Male in der Menschheitsgeschichte bezeugen Kriegszeiten nicht nur Gräueltaten, Elend und Versagen, sondern auch Menschlichkeit, Mitgefühl und Beistand. Es mag als ein winziges Tröpfchen im Meer erscheinen, jedoch zählt, was jeder und jede Einzelne von uns und von unseren Gesprächspartner*innen aktuell sagt und tut.
[1] Für eine detaillierte Darstellung der verschiedenen Communities siehe Jannis Panagiotidis, Postsowjetische Migration in Deutschland: eine Einführung (Weinheim: Beltz Juventa, 2021).
[2] Boris Nemtsov Foundation for Freedom, Russischsprachige Deutsche (Berlin 2016), S. 3.
[3] Diese ist auch die Quelle der in diesem Text eingefügten Zitate. Die Feldforschungen sind Teil der Projekte von Alina Jašina-Schäfer und Nino Aivazishvili-Gehne im Rahmen des von der VW-Stiftung finanzierten Forschungsverbundes “Ambivalenzen des Sowjetischen: Diasporanationalitäten zwischen kollektiven Diskriminierungserfahrungen und individueller Normalisierung, 1953-2023.
[4] Boris Nemtsov Foundation for Freedom, Russischsprachige Deutsche (Berlin 2016), S. 32-33.
[5] Boris Nemtsov Foundation for Freedom, Russischsprachige Deutsche (Berlin 2016), S. 37-38.
[6] Boris Nemtsov Foundation, Russians in Germany (Berlin 2016), S. 29.
Konflikte, Engagement und Ängste
Der Ukrainekrieg in den Augen postsowjetischer Migrant*innen in Deutschland