Der vorliegende Text ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung eines Aufsatzes, der in der Zeitschrift Osteuropa 10 (2012) erschien. Der Spielfilm Die letzte Etappe (1948) von Wanda Jakubowksa wird auf der diesjährigen Berlinale in der Sektion Berlinale Classics gezeigt, die u.a. einen Schwerpunkt auf frühe Holocaust-Spielfilme legt.
Vorstellungen:
Sonntag 1. März 2020 um 12:00 Uhr CinemaxX
Die polnische Regisseurin Wanda Jakubowska schuf mit Die letzte Etappe (Ostatni etap) den ersten Spielfilm über das nationalsozialistische Konzentrationslager Auschwitz. Er wurde am 28. März 1948 in Warschau uraufgeführt und hinterließ beim Publikum großen Eindruck, wie Kritiken und zahlreiche Leserbriefe darlegen. Der Film wurde etwa ein Jahr lang in Polen, in beiden Teilen Deutschlands, sowie auf internationalen Filmfestivals gezeigt und gefeiert. Die beeindruckende Bildsprache des Films tauchte in vielen anderen Werken über die nationalsozialistischen Verbrechen immer wieder auf – etwa der Zug, der nachts im Nebel durch das Tor von Auschwitz einfährt, der Rauch aus dem Kamin des Krematoriums oder die Menschenmassen beim Appell. Einige Filemacher, darunter Alain Resnais in Nacht und Nebel (Nuit et Bruillard, 1955), haben sogar Jakubowskas Aufnahmen in ihre Dokumentationen einmontiert. Ein Revival von Die letzte Etappe gab es allerdings erst, nachdem Steven Spielberg den Film als Quelle der Inspirationen für Schindlers Liste (1993) nannte. Nun wird Jakubowskas Werk bei der Berlinale gezeigt.
Entstehungsgeschichte des Films
Im Zentrum des Films Die letzte Etappe steht ein Heldenkollektiv, von weiblichen Häftlingen in Auschwitz, vor allem von jenen, die sich konspirativ betätigten. Daneben werden Aufseher, Aufseherinnen sowie Kapos dargestellt. Der Film wurde drei Jahre nach Kriegsende auf dem Gelände von Auschwitz nachgestellt und gedreht. Viele Kritiker*innen berichteten von einem ‚authentischen‘ Eindruck, den der Film hinterließ. Diesen Eindruck verdankte der Film nicht nur dem Drehort, sondern auch der Biographie der Regisseurin selbst. Jakubowska hatte die Lager Auschwitz und Ravensbrück selbst überlebt. Im Jahr 1943 war sie als Kommunistin aus dem Warschauer Gefängnis Pawiak nach Auschwitz gekommen. Als ausgebildete Fotografin wurde sie in das Außenlager Rajsko verlegt, wo sie zunächst im Rahmen nationalsozialistischer Forschungsarbeiten Pflanzen fotografierte. Rajsko war im Vergleich zu anderen Konzentrationslagern ein besonderer Ort. Es war ein Frauenlager, in dem wegen seines ‚wissenschaftlichen Charakters‘ gut ausgebildete Frauen aus unterschiedlichen europäischen Nationen arbeiteten. Sie schliefen in geheizten Baracken, durften ihre Kleidung wechseln und erhielten größere Essensrationen als die Häftlinge des Stammlagers. Man könnte also meinen, Jakubowska habe großes Glück gehabt, in Rajsko inhaftiert gewesen zu sein – sofern man in Auschwitz überhaupt von Glück sprechen kann. Vor Kriegsende wurde Jakubowska allerdings nach Ravensbrück abtransportiert. Dort erlebte sie die Befreiung des Lagers.
Erste Erfahrungen in der Filmproduktion hatte Jakubowska bereits vor dem Krieg gemacht. Sie war Mitglied des linken Vereins der Liebhaber des künstlerischen Films START (Stowarzyszenie Miłośników Filmu Artystycznego). Bereits im Jahr 1944, also noch während des Krieges, hatten die Mitglieder des Vereins den Auftrag erhalten, das polnische Filmwesen wieder aufzubauen. Jakubowska äußerte später, dass sie bereits während ihrer Inhaftierung in Pawiak darüber nachgedacht habe, einen Film über die deutschen Gräueltaten zu drehen. Die Idee entwickelte sie dann im Lager Auschwitz-Rajsko weiter. Dort begegnete sie der ebenfalls inhaftierten deutschen Kommunistin Gerda Schneider, mit der sie die Grundidee des Filmes diskutierte. Nach Kriegsende schrieben sie gemeinsam das Drehbuch zu Die letzte Etappe.
Um die Entstehungsgeschichte von Die letzte Etappe ranken sich viele Legenden, die heute kaum noch nachzuprüfen sind. Belegt ist, dass Jakubowska vielen hohen Mitarbeitern des staatlichen Filmunternehmens Film Polski, das für die Filmproduktion in Polen zuständig war, das Drehbuch gezeigt hatte und damit anfangs auf Ablehnung gestoßen war. Jerzy Bossak soll sogar gesagt haben, das Drehbuch sei zwar gut, aber für „Fritz Lang, Wilhelm Pabst, John Ford, und nicht für eine Jakubowska!“[1] Aleksander Ford hingegen versuchte, die Regisseurin zu überreden, den Film in Koproduktion mit der Deutschen Film AG DEFA zu drehen. Er schickte das Exposé an Georg Klaren, dem damaligen Chefdramaturgen in Potsdam-Babelsberg, der jedoch ablehnte. Er meinte, der Zeitpunkt für einen solchen Film sei noch nicht gekommen, und fügte hinzu, dass man die „Millionenopfer der KZ nicht gerade durch eine Darstellung von geschminkten Komparsen ehrt. Wenn jedoch eine ausländische Produktion dieses geschmackliche Risiko eingehen will, so können wir nichts dagegen einwenden.“[2]
Am Ende soll Jakubowska, als engagierte Kommunistin und Parteimitglied, nach Moskau gereist sein und dort einige hochrangige Mitglieder des Zentralkomitees der KPdSU um Unterstützung gebeten haben. Wen sie traf und wem sie das Drehbuch übergab, ist bis heute unbekannt. Eine Version, welche die Regisseurin in zahlreichen Interviews in Umlauf brachte, lautet, Stalin persönlich habe das Vorhaben begrüßt.[3] Einiges an dieser Version der Geschichte mag übertrieben sein, das spielt für das filmische Endergebnis jedoch keine entscheidende Rolle. Dank der Unterstützung, die Jakubowska in Moskau jedoch tatsächlich erhielt, konnten die Arbeiten an dem Film letztendlich doch beginnen. Zunächst wurde das Drehbuch mehrmals bei Film Polski überarbeitet, anschließend wurde der Film immer wieder neu montiert. Bis heute sind mindestens vier Versionen erhalten geblieben.
Inhalt vs. Ästhetik
Der Film gliedert sich in zwei Teile. Der erste konzentriert sich auf Bilder aus dem KZ-Alltag und aus dem Krankenbau (dem ‚Revier‘), wo die russische Ärztin Evgenija arbeitet, die von den restlichen Figuren als moralisches Vorbild wahrgenommen wird. Im zweiten Teil steht die Verschwörung einer Gruppe von Frauen unterschiedlicher Nationalitäten im Vordergrund. In dieser Gruppe befindet sich die zweite Hauptfigur des Films, Marta Weiss. Da Marta Weiss fließend Deutsch spricht, beschäftigt sie der Lagerkommandant als Dolmetscherin. Bei einem Fluchtversuch wird sie jedoch gefangen genommen und zum Tode verurteilt.
Nach Jakubowska sind die Protagonistinnen zwar „fiktiv, dennoch aber streng nach authentischen Vorbildern konstruiert.”[4] Die fiktive Ebene war jedoch für viele Zuschauer*innen problematisch. Sie erkannten konkrete Personen und Ereignisse – beispielsweise eine Geschichte, die als Vorlage für Martas Handlungsstrang diente. Der Filmkritiker und Auschwitz-Überlebender Henryk Korotyński erläuterte dazu:
„1944 war das ganze Lager durch die Nachricht elektrisiert, dass ein Liebespaar – eine Jüdin und ein Pole – aus dem KZ geflohen seien. Sie war, soweit ich mich richtig erinnere, nicht dolmeczerka [Dolmetscherin], sondern lauferka [Läuferin]. Sie floh in der Uniform einer SS-Angehörigen. Beide wurden – wie ich hörte – nach einigen Wochen in Bielsko gestellt. Marta schnitt sich die Pulsadern auf, als sie zum Galgen ging. Sie hat sich allgemein heldenhaft verhalten.“[5]
Marta hieß in Wirklichkeit Mala Zimetbaum, ihr vermuteter Verlobter Edward Galiński. Die Einzelheiten ihrer Flucht sind nicht ganz klar, da die Geschichte im Lager mündlich weitergegeben wurde und dadurch zusätzliche Färbungen erhielt.
Die Figuren sprechen im Film ihre eigenen Sprachen: Polnisch, Deutsch, Russisch, Französisch, Serbokroatisch. Die Ärztin Evgenjia, wurde von der sowjetischen Schauspielerin Tatjana Górecka gespielt. Die Rollen der Deutschen – der Aufseherin, des Arztes und des Lagerkommandanten – spielten dagegen polnische Schauspieler und Schauspielerinnen; ein Kriterium für deren Auswahl waren jedoch ihre Deutschkenntnisse. „Nur Jiddisch ist im Film nicht zu hören”[6] – konstatierte der Historiker Hanno Loewy.
Jakubowskas Reise nach Moskau hatte die Zusammenarbeit mit dem Kammeramann Boris Monastyrskij, einem Schüler Sergej Ejzenštejns, zur Folge. Seine Kameraführung erinnert an die sowjetische Avantgarde der Zwischenkriegszeit: Aufnahmen auf spitze und aus spitzem Winkel, aus der Frosch- und der Vogelperspektive, nur wenige Aufnahmen aus der Perspektive der Figuren, wenige Dialoge in der klassischen Form von Aufnahme und Gegenaufnahme, Wechsel zwischen Nahaufnahmen und Totalen. Zu den charakteristischen Kunstgriffen in Die letzte Etappe zählen zudem die zahlreichen visuellen und tonalen Kontrapunkte. Die Musik Roman Palesters sowie in der Handlung selbst erklingende Musik – Melodien des Lagerorchesters oder Grammophonaufnahmen, zu denen die Protagonistinnen gefoltert werden – stehen häufig im Widerspruch zu den Bildern. Den Abmarsch der weiblichen Gefangenen zur Arbeit begleitet ein fröhlicher Walzer, Evgenija wird zum Rhythmus eines leichten Swings brutal verhört.
Rezeption des ersten Holocaust-Spielfilms
Nach der Premiere wurde vor allem die ideologische Haltung der Protagonist*innen thematisiert. Im Film sind die Kommunistinnen ‚gut‘, Nazis und ihre Helfer ‚böse‘. Die SS-Aufseherinnen, der Arzt und der Lagerkommandant sind selbstverständlich ‚böse Deutsche‘ – grausam, unmenschlich, gefühllos (so pfeift der Arzt fröhlich, während er ein Kind ermordet), im Privatleben dagegen werden die deutschen Täterfiguren ruhig und sensibel dargestellt. Aber auch die polnische Kapo Elza behandelt die weiblichen Häftlinge mit derselben Grausamkeit wie die SS- Aufseherinnen und droht den Ungehorsamen unter ihnen, „sie durch den Kamin zu jagen“. Die Schriftstellerin Maria Dąbrowska notierte, nachdem sie den Film im Kino gesehen hatte: „Alles, was im Lager sympathisch ist, sind Russinnen und Jüdinnen – natürlich Kommunistinnen. Alles Verkommene, Schurkische sind Polinnen.“[7]
Das Geflecht aus ideologischen, ästhetischen und ethischen Problemen um Die letzte Etappe hatte die Folge, dass sich auch ausländische Autor*innen äußerten. Den Film kommentierten die bekanntesten internationalen Filmkritiker und -theoretiker jener Zeit: u.a. Béla Balázs, André Bazin, Wsewolod Pudowkin und Georges Sadoul. Die Vorstellungen im Sowjetischen Sektor Berlins sollen ein Erfolg gewesen sein, wobei anzunehmen ist, dass es sich dabei um organisierte Vorführungen handelte. In Westdeutschland stieß der Film auf ein Interesse der Presse und wurde von den Mitgliedern der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes gefeiert.
In den 1950er Jahren wurde der Film weitgehend vergessen – sowohl in Polen als auch im Ausland. Dennoch etablierte Jakubowska schon wenige Jahre nach Kriegsende zahlreiche Bildmotive, die das visuelle Gedächtnis an den Holocaust nachhaltig prägten. Neben den Motiven der Züge, des Krematoriums oder des Stacheldrahts, gehören dazu Nahaufnahmen von grausamen Aufseher*innen, Totalaufnahmen der Häftlinge, die auf dem Appellplatz stehen. Diese symbolhaften Bilder tauchen in beinahe allen späteren Holocaustfilmen wieder auf. Viele von ihnen gehen auf ihre persönliche Erinnerung aus Auschwitz zurück.
[1] Zit. n. Alina Madej: „Jak powstał Ostatni etap“ [Wie enstand Die letzte Etappe], Kino 5 (1998), S. 15.
[2] Gutachten. Drehbuch des polnischen KZ-Films, 26.09.1946. Bundesarchiv, Bestand DR 117. Ich danke Herrn Ralf Schenk für den Einblick in dieses Dokument.
[3] Madej, Jak powstal [Fn. 5]. – Dwa debiuty oddzielone w czasie. Rozmowa z Wanda Jakubwoska. in: Marek Hensrykowski (Hg.): Debuity kina polskiego. Konin 1998. S. 9-28, hier S. 19.
[4] Wanda Jakubowska: Twórca o powstaniu dzieła [Der Autor über die Entstehung des Werks], in: Ders.: Ostatni etap. Warszawa 1955, S. 16.
[5] Henryk Korodyński: Oczyma Oświęcimiaka [Mit den Augen eines Auschwitzers], Film 7 (1948), S. 4.
[6] Hanno Loewy: “The Mother of All Holocaust Films? Wanda Jakubowska´s Auschwitz Trilogy”, Historical Journal of Film, Radio and Television 24 (2004), H. 2, S. 181.
[7] Maria Dąbrowska: Dzienniki powojenne 1945–1965 [Nachkriegstagebücher 1945–1965], Bd. 1, herausgegeben von Tadeusz Drewnowski, Warszawa, S. 209.
Der erste Auschwitz-Spielfilm
„Die letzte Etappe“ der polnischen Regisseurin Wanda Jakubowska aus dem Jahr 1948