Die Erinnerung an den Holocaust in Zeiten von COVID-19

Es waren besondere Jahrestage, die in diesem Frühjahr anstanden. Vor 75 Jahren befreiten Einheiten der alliierten Armeen die Konzentrationslager auf dem damaligen deutschen Reichsgebiet: Sachsenhausen und Ravensbrück, Dachau und Buchenwald, Bergen-Belsen und Neuengamme, Flossenbürg und Mauthausen. Heute befinden sich auf dem Gelände der ehemaligen Lager Gedenkstätten. Wie die ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, Majdanek, Sobibor, Treblinka oder das Ghetto Terezin/Theresienstadt eröffnen die historischen Orte der NS-Verbrechen einen besonderen Zugang zur Vergangenheit. Um die wachsende Distanz zur Geschichte des Holocaust zu überbrücken, haben sie in den vergangenen Jahrzehnten weiter an Bedeutung gewonnen.

Die diesjährigen Gedenkfeiern sollten daher etwas Besonderes werden. Neben Gästen aus Politik, Gesellschaft und Kultur wurden auch zahlreiche der noch lebenden ehemaligen Häftlinge mit ihren Angehörigen zu den Feierlichkeiten erwartet; vielleicht die letzte Gelegenheit mit den Überlebenden gemeinsam der Befreiung zu gedenken. Doch es kam anders. Kurz bevor die Feierlichkeiten am 11. April mit dem Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald beginnen sollten, sah sich Europa mit einer Herausforderung ganz anderer Art konfrontiert. Die hochansteckende Infektionskrankheit COVID-19 begann sich über ihr bisheriges Epizentrum im chinesischen Wuhan hinaus zu einer globalen Pandemie auszuweiten. Europäische Regierungen reagierten mit umfangreichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Von der darauffolgenden Schließung zahlreicher Kultureinrichtungen waren auch die Gedenkstätten betroffen. Am 12. März schloss die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau ihre Tore für Besucher*innen.[1] Zwei Tage später sah sich auch die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten zu diesem Schritt gezwungen.[2] Zuvor hatte bereits das US Holocaust Memorial Museum in Washington DC den Publikumsverkehr eingestellt. Und auch in Israel blieben Gedenkstätten zu. Am 15. März musste schließlich Yad Vashem in Jerusalem die Ausstellung schließen.

 

#ClosedButOpen: Digitale Gedenkstättenangebote

Viele Gedenkstätten begannen bereits unmittelbar nach Beginn der Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Ausbreitung von COVID-19 damit, ihre Arbeit auf Online-Plattformen zu verlagern. Bestehende digitale Angebote wurden speziell beworben, insbesondere um Lehrer*innen die Möglichkeit zu geben, angesichts des nun flächendeckend eingeführten „Distance Learning“ auf digitale Lern- und Vermittlungsmaterialien zugreifen zu können. Für Josh Perelman, Chefkurator des National Museum of American Jewish History in Philadelphia, und viele andere eröffnete die neue Situation eine Chance: „Sie zwingt uns zu Innovationen, dazu Veränderungen schneller vorzunehmen als erwartet. Das macht uns zu leichter zugänglichen Institutionen mit einem viel größeren Wirkungsbereich. Dies ist der Moment, in dem wir uns vollständig von einem physischen Museum in einen virtuellen Raum transformieren.“[3] Zusammen mit der Onlineplattform Google Arts and Culture bot das Museum virtuelle Führungen sowie Online-Ausstellungen an.

Auf solche virtuellen Geländeführungen verlegten sich nach der Schließung auch die KZ-Gedenkstätten Neuengamme und Bergen Belsen. Unter dem Hashtag #ClosedButOpen konnten Besucher*innen per Livestream an Führungen auf der Social Media Plattform Instagram teilnehmen. Neuengamme nutzte Instagram für Kurzvideos, die ausgewählte Orte auf dem Gedenkstättengelände vorstellten. Vorträge in Form von Videopodcasts wurden auf Facebook hochgeladen.[4] Auf diese Weise blieben Gedenkstätte und Besucher*innenangebot zumindest digital weiterhin zugänglich.

Screenshot: Instagram-Seite der Gedenkstätte Neuengamme mit Story- und Videoauswahl.

Die österreichische KZ-Gedenkstätte Mauthausen war eine der ersten Einrichtungen, die der Öffentlichkeit in Reaktion auf die Schließung ein innovatives digitales Bildungsprojekt vorstellte. Am 23. März startete die Online-Initiative „Bildungsarbeit nun digital“. Jeden Tag wurde ein kurzes Video auf YouTube hochgeladen, mit der Internetseite der Gedenkstätte verlinkt und auf den sozialen Netzwerken Facebook und Instagram geteilt, das die Geschichte des Konzentrationslagers bzw. der Gedenkstätte näher beleuchtet.[5] „Auf diese Weise wollen wir junge Menschen in ihrer Auseinandersetzung mit der NS-Zeit unterstützen und sie gerade 75 Jahre nach der Befreiung Österreichs anregen, #hinzuschauen und #hinzuhören – was damals war und heute ist“, erklärt die pädagogische Leiterin und Initiatorin des digitalen Vermittlungsangebots Gudrun Blohberger das Projekt.[6] Bereits die erste Episode, von Blohberger selbst gestaltet, stellt den zentralen Ansatz vor. Der Spezifik des audiovisuellen Mediums „Digitales Video“ entsprechend, stehen Bilddokumente, Überlebendenzeugnisse sowie die filmische Begegnung mit dem historischen Ort im Zentrum. Die Begriffe „Hinschauen“ und „Hinhören“ beschreiben also den konzeptionellen Zugang des Projekts: Vermittler*innen der Gedenkstätte, die normalerweise Besucher*innen über das Gelände führen, nutzen visuelle Präsentationsformen, sowie Karten, Gegenüberstellungen von historischen und gegenwärtigen Aufnahmen, Zitate oder mit dem Smartphone gefilmte Rundgänge über das Gelände, um den Zuseher*innen aus der Distanz einen Zugang zum Ort und seiner Geschichte zu ermöglichen. Dabei helfen einfache interaktive Mittel, beispielsweise die Aufforderung das Video anzuhalten und ein historisches Foto oder eine Gedenkinschrift näher zu betrachten. Außerdem ist das audiovisuelle Material über die Website der Gedenkstätte mit digital bereitgestellten und online abrufbaren Arbeits- und Aufgabenblättern verlinkt, die in den Schulunterricht integriert werden können.

Auch wenn die Bildungsarbeit sich aufgrund der aktuellen Situation ins Netz verlagert hat, betont die Gedenkstättenleiterin Barbara Glück, dass es kein „Entweder-oder“ geben könne: „Die virtuelle Auseinandersetzung kann nie ein Ersatz sein für den Besuch des historischen Orts.“[7] Daher sind auch die hochgeladenen Videos eng mit dem Ort verknüpft. Digitale Technologien können somit zur vorbereitenden Hinführung und zur Erweiterung des historischen Ortes dienen. Als Orte der Begegnung mit der Vergangenheit bleiben die Gedenkstätten aber auch weiterhin unverzichtbar. Auch das hat die COVID-19-Pandemie noch einmal deutlich unterstrichen.

 

#RememberingFromHome: Gedenken Online

Die ursprünglich geplanten Gedenkfeiern mussten in diesem Jahr allerdings in kleinerem Rahmen und unter Berücksichtigung von Abstandsregeln und anderen Auflagen stattfinden. Aus einigen Gedenkstätten wie Ravensbrück und Sachsenhausen wurden die Feierlichkeiten televisuell und über die entsprechenden Mediatheken der Fernsehsender übertragen. Andere streamten die lokalen Feierlichkeiten auf ihren Webseiten oder in den sozialen Medien. Die Gedenkstätte Lager Sandbostel nutzte ihre Online-Präsenz dazu, eine virtuelle Gedenkveranstaltung zu kuratieren. Das Gedenken vor Ort sowie Videobotschaften von ehemaligen Häftlingen, Befreiern und Angehörigen wurden in Form eines „Befreiungsfilms“ zusammengeschnitten und gleichzeitig zur individuellen Navigation der Nutzer*innen bereitgestellt. Zusätzlich konnte dabei auf weitere Online-Ressourcen wie auf YouTube verlinkte alliierte Filmaufnahmen von der Befreiung des Lagers zugegriffen werden.[8]

Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, die ihre Feierlichkeiten ebenfalls absagen musste, schuf einen eigenständigen virtuellen Gedenkort[9]: „In Flossenbürg wird eine separate Webseite freigeschaltet, auf der von eigentlich an der Befreiungsfeier beteiligten Akteuren aus aller Welt– vorrangig Überlebende und Angehörige – Text-, Audio- und Videobotschaften eingestellt werden.“[10] Auf diese Weise entstand ein vielstimmiges Geflecht des Gedenkens an die Befreiung, das die Nutzer*innen individuell navigieren können, und welches gleichzeitig die verschiedenen Erinnerungen, Erfahrungen und Bezüge zum historischen Ort und Ereignis dokumentiert und digital aufbewahrt.

Überlebende anderer Lager kommunizierten ihre für die Gedenkfeiern vorbereiteten Botschaften durch entsprechende Videoplattformen wie YouTube oder Vimeo. Die Gedenkstätte Sachsenhausen teilte beispielsweise die Videobotschaft von Richard Fagot, Überlebender von Sachsenhausen und Ravensbrück, auf ihrem offiziellen Twitter-Account unter dem Hashtag #75Befreiung. Diese und andere Videonachrichten von Überlebenden kann man sich auf dem Vimeo-Kanal der Brandenburger Gedenkstätten ansehen.[11] Anita Lasker-Walfisch, die in Bergen-Belsen befreit wurde und im Rahmen der dortigen Befreiungsfeier sprechen sollte, verbreitete ihre bereits fertige Rede über YouTube.[12] Sie wurde von ihrem Enkel mit einem Smartphone aufgenommen und dann auf die Plattform hochgeladen.[13]

Auch die israelische Gedenkstätte Yad Vashem war von den durch die COVID-19 Pandemie verursachten Einschränkungen in besonderer Weise betroffen. Der jährliche Holocaust-Gedenktag in Israel fiel in diesem Jahr genau in die Zeit des landesweiten Lockdowns. Die offiziellen Feierlichkeiten mussten daher vorher aufgezeichnet werden und wurden dann zusammen mit den Videobotschaften von Staatspräsident Rivlin, Ministerpräsident Netanjahu und von Überlebenden im israelischen Fernsehen übertragen, aber zeitgleich auch auf YouTube und Facebook gestreamt. Begleitet wurde der Yom Hashoah in Israel auch von Online-Gesprächen mit Überlebenden. Das erfolgreiche Projekt „Erinnerung im Wohnzimmer“, das seit einigen Jahren Treffen mit Zeitzeug*innen in ihren Privatwohnungen organisiert, wurde kurzerhand auf die Plattform ZOOM verlegt. Auf diese Weise konnte nicht nur die erzwungene Isolation der Überlebenden aufgebrochen werden, die Gespräche weiteten sich außerdem zu einer globalen Begegnung aus, die insbesondere Teilnehmer*innen in Israel, den USA und Deutschland zusammenbrachte. Allerdings boten die Online-Gespräche auch eine neue Angriffsfläche. In Deutschland versuchten Aktivisten das ZOOM-Gespräch mit dem israelischen Überlebenden Zvi Herschel durch antisemitische und den Holocaust relativierende Störungen zu kapern.[14]

Trotz solcher Zwischenfälle machte das diesjährige digitale Gedenken deutlich, dass die physische Distanz nicht notwendigerweise auch die Distanz zu den historischen Ereignissen vergrößern muss. Viele Online-Initiativen setzten auf die aktive Teilnahme der Online-Nutzer*innen und den partizipativen Charakter von sozialen Medien. Unter dem Hashtag #RememberingFromHome rief Yad Vashem beispielsweise zu einem virtuellen Lesen der Namen von Opfern des Holocaust auf. Social Media Nutzer*innen konnten kurze Videos auf Facebook oder Instagram hochladen, mit denen sie individuellen Opfern der Shoah gedenken. Verbunden durch den gemeinsamen Hashtag bildeten die Videos einen virtuellen Gedenkraum auf den Social Media Plattformen.[15]

Mit einer ähnlichen Initiative rief auch die KZ-Gedenkstätte Mauthausen zum partizipativen Gedenken im virtuellen Raum auf. Unter dem Hashtag #Liberation1945 forderte die Gedenkstätte im Vorfeld des Jahrestages der Befreiung dazu auf, eigene Zeichnungen oder Collagen des Lagertores auf Facebook oder Instagram hochzuladen und diese mit einer individuellen Botschaft zu verbinden. Die hochgeladenen Beiträge wurden schließlich zu einem digitalen Befreiungs-Video zusammengefasst, das wiederum auf den sozialen Netzwerken geteilt wurde.[16]

 

#DigitalMemorial: ein vorläufiges Fazit

Solche Formen des partizipativen Gedenkens scheinen charakteristisch für die gegenwärtige digitale Erinnerungskultur in Zeiten von COVID-19 zu sein. Es sind insbesondere die sozialen Netzwerke, die zu digitalen Foren und virtuellen Gedenkorten werden, an denen neue Zugänge zu den historischen Orten, den in Museen und Gedenkstätten aufbewahrten Sammlungen und damit schließlich zur Erinnerung an den Holocaust entstehen. Durch die zahlreichen Initiativen und Projekte, die insbesondere von kleineren Gedenkstätten und Initiativen ausgingen, schien die wachsende Distanz zum historischen Ereignis trotz verordneter physischer Distanz eher geringer zu werden.

Waren es vor COVID-19 vor allem technologisch avancierte Großprojekte wie die von der USC Shoah Foundation produzierten 3-D-Hologramme von Überlebenden oder die Virtual Reality Filme von Besuchen an historischen Orten, die die digitale Erinnerungskultur an den Holocaust dominierten, traten in den vergangenen Monaten innovative Ansätze in den Vordergrund, die auf die bestehende Kultur des Kommentierens, Teilens und der kreativen Weiterverarbeitung in den sozialen Medien setzten. Mit einfachen Mitteln, oft lediglich ausgerüstet mit einem Smartphone, experimentieren viele der Projekte mit digitalen Formaten wie Selfie-Videos, Video-Tagebüchern oder Influencer-Videos und versuchen diese mit erprobten Formen der Geschichtsvermittlung zu verbinden. So entstehen virtuelle Video-Führungen, komplex montierte Vermittlungsfilme und kreative Gedenkinitiativen, die die bisherigen Formen der Erinnerung an den Holocaust perspektivisch nicht ersetzen aber doch ergänzen und in den virtuellen Raum hinein erweitern können.

 

Die Forschungsarbeit für diesen Beitrag wurde durch ein Fellowship des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und dem European Forum der Hebrew University of Jerusalem unterstützt.

 


[1] Gedenkstätte Auschwitz wegen Coronavirus geschlossen. Jüdische Allgemeine, 11. März 2020. 

[2] Corona-Pandemie – Gedenkstätten ab Sonnabend geschlossen. Märkische Allgemeine, 13. März 2020.

[3] PJ Grisar: Closed by coronavirus, Jewish museums consider an uncertain future online. Forward, 31, März 2020. 

[4] Digitale Angebote der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte, 31. März 2020.

[5] KZ-Gedenkstätte Mauthausen: Bildungsarbeit nun digital, 20. März 2020. 

[6] KZ-Gedenkstätte Mauthausen: Bildungsarbeit nun digital, Presseaussendung, 24. März 2020.

[7] Oona Kroisleitner, Markus Rohrhofer: Befreiungsfeiern in der Corona-Krise: Gedenken im virtuellen Raum. Der Standard, 8. Mai 2020. 

[8] Gedenkstätte Lager Sandbostel: 75. Jahrestag der Befreiung

[9] KZ-Gedenkstätte Flossenbürg: 75. Jahrestag digital

[10] BR24: Corona-Krise – KZ Gedenkstätte Flossenbürg gedenkt digital, 15. April 2020. 

[11] Richard Fagot: Videobotschaft. Siehe auch: Anne Vitten: #75Liberation – Erinnern im virtuellen Raum. Zeitgeschichte online, 6. Mai 2020. 

[12] Anita Lasker-Wallfisch, April 2020. 

[13] Gzegorz Szymanowski: Wegen Corona – Virtuelles Gedenken an KZ-Befreiung. DW, 20. April 2020. 

[14] Angriff auf Gedenkveranstaltung mit Holocaust-Überlebendem. Die Welt, 21. April 2020. 

[15] Yad Vashem: International Virtual Name-Reading Ceremony – Part One. Facebook, 21. April 2020.

[16] KZ-Gedenkstätte Mauthausen: #Befreiung1945. Facebook, 10. Mai 2020.

Art der Seite
Artikel
Artikelformat
Aus
Chronologische Klassifikation
Darstellung der Beiträge
Liste
englischsprachiger Artikel
Aus
Header
Aus
manuelles Inhaltsverzeichnis/keine automatische Darstellung der Beiträge des TS
Aus
Regionale Klassifikation
Reprint
Aus
Titel

Die Erinnerung an den Holocaust in Zeiten von COVID-19

Untertitel

Eine Bestandsaufnahme

Veröffentlichung
übergeordneter Themenschwerpunkt vorhanden
Aus