Im September 2021 wurden von einer Luxemburger Schulklasse sogenannte Stolpersteine gesetzt: vier für jüdische Personen, die in Konzentrationslagern ermordet wurden, und elf für junge Männer, die zwangsweise in die Wehrmacht eingezogen wurden und im Krieg umgekommen sind. Die Gedenkaktion löste eine breit rezipierte Kontroverse aus, die dieser Beitrag erklären und kontextualisieren möchte.
Die Steine des Anstoßes
Die Gedenkform der Stolpersteine, ein Konzept, das der Künstler Gunter Demnig sich hat patentieren lassen, ist eine Art individuelles Miniaturmahnmal. Auf einem Pflasterstein wird eine massive Messingplatte appliziert, die mit einer biographischen Inschrift versehen ist und in den Boden versenkt wird. Platziert werden diese 'Steine' in der Regel vor dem letzten selbstgewählten Wohnort. Das Luxemburger Schulprojekt wurde von Pädagog:innen und Vertretern des Comité de la Mémoire de la Deuxième Guerre mondiale begleitet, einem dem Staatsministerium unterstehenden, beratenden Organ, das seit 2016 alle Opferverbände vertreten soll.
Bedenken, die im Vorfeld geäußert worden waren, wurde nicht Rechnung getragen. Niemand wollte den Elan der Schüler:innen bremsen, deren Auseinandersetzung mit der NS-Zeit einem zentralen bildungspolitischen Ziel der Demokratieerziehung entspricht. Seit den 2000er Jahren unterstützt das Bildungsministerium den vom Europarat vorgegebenen "Gedenktag zur Erinnerung an den Holocaust und zur Prävention von Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Warum also stieß die eingangs vorgestellte Initiative auf so starken Unmut? Was war das Problem?
Zwangsrekrutierte Wehrmachtssoldaten
Um die 90.000 Stolpersteine wurden seit 1992 in ganz Europa verlegt, sie verweisen v.a. auf die vormaligen Wohnorte der Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden. Die zwangsverpflichteten Soldaten sind jedoch nicht von den Nationalsozialisten ermordet worden, sondern fielen im Kampf gegen die Alliierten, sind an den Folgen ihrer Kriegsverwundungen oder -gefangennahme gestorben. Nun kann argumentiert werden, an ihrem Tod sei letztendlich auch NS-Deutschland schuld. Ohne den Einmarsch der Wehrmacht in Luxemburg und die völkerrechtswidrige Rekrutierung der 1920 bis 1927 geborenen Männer, hätten diese nicht in deutschen Uniformen gekämpft. Luxemburg war zwar de facto seit dem 10. Mai 1940 besetzt, aber nicht de jure annektiert worden. In der Kontroverse wurde betont, dass die getöteten Soldaten zwar Kriegsopfer, doch keine NS-Opfer seien, da sie nicht aufgrund der NS-Ideologie verfolgt und ermordet worden seien. Außerdem wisse man nicht genau, ob sie nicht an Kriegsverbrechen (gezwungenermaßen) beteiligt gewesen waren. Und schließlich, drittes Argument, hätten sie – anders als die Verfolgten – die Wahl gehabt, sich dem Waffendienst zu entziehen (und dabei bessere Überlebenschancen als in der Wehrmacht gehabt).[1]
Dieses letzte Argument ist meines Erachtens nicht überzeugend, da auf Desertion die Todesstrafe stand und auch die Familien der Wehrdienstverweigerer durch Besitzbeschlagnahme, Zwangsumsiedlung und Zwangsarbeit hart bestraft wurden. Dass ihre ‚umgesiedelten‘ Familien und sie selbst (im Versteck) eher überleben würden als politisch oder rassistisch Verfolgte, war – bei ungewissem Kriegsausgang – nicht vorhersagbar. Dennoch wurden 17,8 Prozent der luxemburgischen Rekruten fahnenflüchtig; der Durchschnitt in der gesamten Wehrmacht lag bei 2 Prozent, so der Historiker Peter Quadflieg.[2]
Umstrittene Anerkennung als "NS-Opfer"
Die Wehrpflichtsverweigerer und Deserteure, von denen sich manche dem bewaffneten Widerstand in Frankreich und Belgien anschlossen oder in den alliierten Armeen dienten, schlossen sich nach dem Krieg in der Ligue des Réfractaires et déportés militaires luxembourgeois zusammen. Sie boten den nicht-desertierten "Zwangsrekrutierten" an, diese im Interessensverband aufzunehmen, falls sie überzeugend darstellen konnten, dass sie "gute Luxemburger" geblieben waren und nur unter Zwang die "verhasste Uniform" getragen hatten. In diesem Sinne äußerte sich auch die Großherzogin Charlotte aus dem Exil nach der Bekanntmachung der Wehrpflicht. Per großherzoglichem Dekret wurde den gefallenen Luxemburger Wehrmachtssoldaten im Juli 1944 die Ehrenbezeichung „Morts pour la patrie“ zugestanden, was jedoch viele Mitglieder des Widerstands ablehnten und schließlich zu einer jahrzehntelanger Opferkonkurrenz führte. Im Gefolge des seit 1955 mit der Bundesrepublik ausgehandelten Vertrages vom 11. Juli 1959, wurden die Zwangsrekrutierten nur als "Kriegsopfer" und nicht als "Opfer von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen" angesehen und bei der Frage der Entschädigung (Wiedergutmachung) ausgeschlossen. Im Rahmen der Ratifizierung des Vertrags durch die luxemburgische Abgeordnetenkammer 1961 kam es zu Protesten seitens der "Zwangsrekrutierten", da der Vertrag sie bzw. ihre Hinterbliebenen nur entschädigte, wenn sie "eine gesundheitliche Schädigung durch unmittelbare Kriegseinwirkungen erlitten" hatten[3]. Damit wurden sie den deutschen Wehrmachtssoldaten gleichgestellt. Im Jahr 1967 erreichten sie aber schließlich die nationale Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus[4], unabhängig davon, ob sie kriegsversehrt waren. Ein gemeinsames Monument, das 1971 auf dem sogenannten Kanounenhiwwel in der Hauptstadt eingeweiht wurde, trägt die Bezeichung Monument national de la solidarité. Die Solidarität war dabei weniger der Auslöser als das erhoffte Resultat.
Die Schüler:innen sind daher fünfzig Jahre später in ein Wespennest getreten, dessen Latenz sie wohl nicht erahnen konnten. Das muss aber nicht als Scheitern der Gedenkpolitik angesehen werden, sondern kann als Aufforderung dienen, in der pädagogischen Aufarbeitung nicht nur auf die unterschiedlichen Kriegsbiographien einzugehen, sondern auch auf die Erinnerungskämpfe in diesem Zusammenhang.
Neue Wege in der Erinnerungslandschaft?
Die Stolpersteine können als Teil einer vielschichtigen Erinnerungslandschaft gelesen werden. Sie werden lokal initiiert und finanziert, sind höchst individuell und fragmentieren damit das Gedenken. Gleichzeitig haben sie, aufgrund ihrer seriellen Verfasstheit, einen hohen Wiedererkennungswert und schaffen damit Bezüge zwischen Biographien, Regionen und auch zwischen verschiedenen Opfergruppen. Sie sind eine spätmoderne Erscheinungsform des öffentlichen Gedenkens: Sie sind Einzelpersonen gewidmet, in deren und unsere eigene Alltagswelt eingebunden und säkular – im Gegensatz zu den kollektiven Monuments aux morts, die fast jede Gemeinde Luxemburgs nach dem Krieg den Toten in Kirchen- oder Friedhofsnähe widmete.
Bereits 1946 wurde ein nationales Gedenkmonument für den Widerstand auf dem Liebfrauenfriedhof in Luxemburg-Stadt errichtet, wo die exhumierten Ermordeten aus dem Konzentrationslager Hinzert bestattet worden waren. An die vielfältigen Streiks, welche die Bekanntmachung der Wehrpflicht am 30. August 1942 auslöste, erinnert ein weiteres Denkmal, das 1956 im nördlichen Wiltz errichtet wurde. Die Form des 23 Meter hohen Leuchtturms verweist auf seine Bestimmung als moralischer Wegweiser, dessen Licht in die Finsternis strahlt. Im gleichen Jahr wurde am anderen Ende des Landes, im südlichen Esch/Alzette, das Museum des Widerstands eingeweiht. Auf der Fassade des tempelartigen Gebäudes wird auch den Arbeitern Tribut gezollt, die „die wirtschaftliche Basis unserer Unabhängigkeit geschaffen haben“. Auch das Monument für die Zwangsrekrutierten, das 1981 im Stadtpark von Diekirch errichtet wurde, hat eine sakrale Dimension: Vierzehn Stationen umfasst der Leidensweg, der die Symbolik der Passion Christi aufgreift, aber bildsprachlich betont sachlich auf Betonpfeiler setzt. Die letzte Station bildet den Versuch einer nationalen Versöhnungsgeste. Im Mittelpunkt steht die (1968 gestiftete) "Médaille de la Reconnaissance" eingefasst von monumentalen 'Votivtafeln' mit Danksagungen an alle Helfer:innen der Fahnenflüchtigen und Resistenzaktionen, an die Alliierten und an "alle Luxemburger, die um sie gebangt und für sie gebetet haben". Den Wehrpflichtsverweigerern und Deserteuren sind die Stationen 9 und 10 gewidmet. Dieser Schritt in die Resistenz bildet einen unumgänglichen Teil des Narrativs der Zwangsrekrutierung.
In den letzten Jahrzehnten wurden vermehrt auch Ehrungen für die Alliierten und die (zivilen) Opfer der Ardennenoffensive vorgenommen. Den jüdischen Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung wurde 1969 ein Mahnmal in Fünfbrunnen (Cinqfontaines) gewidmet, auf dem Gelände eines ehemaligen Klosters, das, bis zu ihrer Deportation in die Vernichtungslager, als Zwischenlager für fast 300 jüdische Internierte gedient hat. Erst 2018 wurde in der Hauptstadt ein zentrales Kaddish-Denkmal für die ermordeten Juden Luxemburgs errichtet. Die Stolpersteine ergänzen diese kollektiven Monumente und verweisen darauf, dass die Menschen aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen wurden. Durch welche Umstände, aufgrund welcher Ideologien (denn auch Kriegsmobilisierung unterliegt einer Ideologie), ist nicht gleichgültig.
Das "Stolpern" ist in dem Sinne lediglich ein Anfang, damit kann der Denkprozess beginnen.
[1] So Victor Weitzel, Die Stolpersteine für Zwangsrekrutierte in Junglinster. Ein Essay über Erinnerungskultur und Geschichtsklitterung in Luxemburg, in: Forum 421 (Okt. 2021), S. 6-11.
[2] Peter Quadflieg, „Zwangssoldaten“ und „Ons Jongen“. Eupen-Malmedy und Luxemburg als Rekrutierungsgebiet der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, Aachen 2008, S. 156.
[3] Siehe Norbert Franz, Der deutsch-luxemburgische Vertrag vom 11. Juli 1959 und die westliche Reparationspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Musée d’Histoire de la Ville de Luxembourg (Hg.), … et wor net alles esou einfach. Questions sur le Luxembourg et la Deuxième Guerre mondiale. Fragen an die Geschichte Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg. Luxemburg 2002, S. 304-314.
[4] Loi du 25 février 1967 ayant pour objet diverses mesures en faveur de personnes devenues victimes d’actes illégaux de l‘occupant, in: Mémorial A n°12 (1967). URL: Die Entwicklung der Erinnerung an die Zwangsrekrutierung in Luxemburg bis 1944 bis heute, in: Musée National de la Résistance et des Droits Humains (Hg.), Le Luxembourg et le Troisième Reich / Luxemburg und das Dritte Reich. Sanem 2021, S. 868-879.
Erinnerungspolitik und –praxis in Luxemburg am Beispiel einer gegenwärtigen Kontroverse