Decolonizing Peterloo

Eine Mutter mit Kind. Den Blick gesenkt, hat sie ihre Aufmerksamkeit in diesem Moment ganz auf den kleinen Sohn gerichtet. Fest hält sie ihn im Arm, so als befürchte sie, dass ihr jemand ihr Ein und Alles nehmen könnte. Um sie herum verschwimmt die Welt in Dunkelheit. Es ist eine Szene voller Trauer und Hoffnung zugleich, ein würdevoller Augenblick, der in seiner Intimität fast spirituell anmutet – und das überlebensgroß. Festgehalten hat ihn der haitianisch-spanische Street-Art-Künstler Axel Void (bürgerlich: Alejandro Hugo Dorda Mevs) auf 9 mal 9 Metern Fläche einer Gebäudefassade direkt am River Irwell, der Stadtgrenze zwischen Manchester und Salford in Englands Nordwesten. Sein Werk, sagt der Künstler, sei den einfachen Leuten gewidmet, „those with nothing who gave their everything”. Gemeint seien all jene, denen (staatliches) Unrecht widerfuhr: Mutter und Kind stünden als Symbol für die Zehntausenden, „who came to St Peter’s Field that day”.[1] Worauf sich Void dabei konkret bezieht, wird anhand eines Wortes klar, das er quer über sein Bild geschrieben hat: Peterloo.

 

„Ye are many – they are few“[2]: Politischer Protest als Motor der Demokratie

Einem Aufruf der Manchester Patriotic Union Society folgend, versammelten sich am 16. August 1819 bis zu 80.000 Menschen aus Manchester und Umgebung auf dem St. Peter’s Field (heute: St. Peter’s Square), um friedlich gegen unfaire Getreidezölle und für demokratische Mitbestimmung zu demonstrieren. In ausgelassener Stimmung kamen sie im Sonntagsanzug mit ihren Familien, Nachbarn, Freunden. Die allermeisten wollten keinen Umsturz der Verhältnisse, sondern die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Der bis dato größten Kundgebung in der Geschichte Manchesters waren Jahre politischer Unruhen vorausgegangen: Immer wieder trieben Armut, Hunger und Krankheiten die Menschen gegen wirtschaftliche Ausbeutung und soziale Not auf die Straßen. Viele Zeitgenoss*innen, insbesondere die nicht begüterten, erlebten Manchester zu Beginn des 19. Jahrhunderts als „industrielles Höllenloch“, nirgendwo sonst klaffte die Schere zwischen Arm und Wohlhabend weiter auseinander als in der durch den Baumwollhandel reich gewordenen ersten Industriestadt der Welt. Im Chaos nach den Napoleonischen Kriegen blühten daher radikal-reformerische Bewegungen auf, Stimmen gegen die Regierungspolitik und für eine Parlamentsreform wurden immer lauter.[3]

Aus Angst vor Revolution unterdrückten die in London und Manchester Herrschenden jegliche Reformbestrebungen mit drakonischen Maßnahmen. Nachdem Militär und Polizei auch die Demonstration auf dem St. Peter’s Field an jenem Augusttag brutal beendet hatten, waren 17 Menschen tot und rund 600 schwer verletzt. Das Massaker ging unter dem Namen „Peterloo“ in die britische Demokratiegeschichte ein. Abgeleitet und zusammengesetzt aus dem Ort des Geschehens und der Schlacht von Waterloo als Sieg über Napoleon klang der Begriff wie ein Abgesang auf die Regierenden: Die staatlich verübte Gewalt gegen friedlich Demonstrierende hatte nicht die Stärke, sondern die Schwäche der Mächtigen offenbart und wirkte wie ein Brandbeschleuniger für die Reformbewegung. „Peterloo“, so der Autor Dave Haslam, „was the biggest single moment in Britain’s struggle towards democracy“ und habe durch die danach einsetzende gesellschaftliche Politisierung der Forderung nach Mitbestimmung erst zu breitem Durchbruch verholfen. Doch die Lesart von Peterloo als Geburtsstunde der modernen britischen Demokratie und damit als identitätsstiftendes Moment bekam erst im späten 20. Jahrhundert einen würdigen Platz im kulturellen Gedächtnis der Briten.[4]

Foto: Peterloo Massacre, print published by Richard Carlile, 1 Oct 1819, Quelle: Manchester Archives + via Flickr.com, Lizenz: CC BY-NC 2.0.

 

200 Jahre Peterloo: Vielfältiges Gedenken – einstimmige Deutung?

In den Jahren 2018/19 gedachte die Stadt Manchester dem 200. Jahrestag des Ereignisses mit zahlreichen Aktionen. Eine davon ist Axel Voids Wandbild mit Mutter und Kind. Es erinnert gleichsam an das erste Todesopfer des Massakers, den zweijährigen William Fildes, der den Armen seiner Mutter entrissen und von den Pferdehufen der Kavallerie zu Tode getrampelt wurde. Zuvor hatten die Mächtigen gegen die Demonstrierenden Stimmung gemacht: „Considered less human, those like William and his mother had been vilified, criminalised and demonized”, so Void. Mit seiner Kunst wolle er den Opfern ein Gesicht geben, den Triumph von Freiheit und Menschenwürde über Gewalt und Unterdrückung feiern.[5] Es ist kein Zufall, dass Voids Wandbild an der Außenfassade des People’s History Museum (PHM) aufgebracht wurde. Das Museum – als National Museum of Labour History in London gegründet – befindet sich seit 1990 in Manchester, seit 2001 firmiert es unter dem aktuellen Namen und dem inoffiziellen Titel „National Museum of Democracy“.[6]

Aus der Zusammenarbeit des PHM mit Cities of Hope, einer international tätigen Street Art-Organisation, entstand die Idee für Voids Kunstaktion. Mitfinanziert hat sie die Londoner Firma Thin Man Films, die das fast zeitgleich zur Veröffentlichung des Wandbilds in britischen Kinos anlaufende Historiendrama „Peterloo“ coproduziert hat.[7] Dessen Regisseur Mike Leigh befeuerte schon im Vorfeld des Kinostarts am 2. November 2018 die öffentliche Debatte um das lange in der britischen Erinnerungskultur vernachlässigte Erbe von 1819 und weist auf dessen Aktualität angesichts zunehmender demokratiefeindlicher Strömungen und gesellschaftlicher Spaltung in Zeiten des Brexits hin.[8] Es sind die Opfer des Peterloo-Massakers, denen Leigh ein Denkmal setzen will und so könnte Voids Wandbild wahrlich keine bessere Werbung für seinen Film sein. Eigentlich. Doch als die Verantwortlichen bei Thin Man Films das fertige Werk sehen, beginnt ein wochenlanger Streit um den Inhalt des Bilds – infolgedessen sich die Firma weigert, Void das vereinbarte Honorar zu zahlen.[9]

 

Die aufgerüttelte Nation: Von Peterloo zu Windrush

Aufschluss über die Hintergründe der Auseinandersetzung gibt ein vom Künstler veröffentlichtes Statement. „If [Peterloo] happened in our time”, fragt Void, „who would these people be now?” Wer an dieser Stelle weiterliest, erfährt, dass Mutter und Kind reale Personen abbilden: Lydia, eine junge Frau aus Manchester, und ihren zwei Jahre alten Sohn Ezra. Wenn Peterloo als Symbol für (die Behauptung gegen) Unrecht, Diskriminierung und Ausgrenzung stünde, so der Künstler, sei es für beide keine Episode aus einer fernen Vergangenheit, sondern weiterhin Alltag: Lydia und Ezra sind Schwarz. „A daughter of a Windrush victim, the injustice experienced by Lydia connects to the injustices of the past.”[10] Damit setzt Void Peterloo direkt mit einem Ereignis in Beziehung, das Großbritannien nur wenige Monate vor Entstehung und Veröffentlichung des Wandbilds grundlegend erschüttert hat und dessen Folgen das Land bis heute begleiten: der Windrush-Skandal.

Anfang 2018 deckte die Guardian-Journalistin Amelia Gentleman auf, welche Auswirkungen die 2012 von der konservativen Regierung unter David Cameron beschlossene und gegen illegale Migration gerichtete „Politik der unfreundlichen Umgebung“ (hostile environment policy) auf britische Staatsbürger*innen mit Wurzeln in den ehemaligen Kolonien zeitigte: Tausende, die sich vor Jahrzehnten in Großbritannien niedergelassen, ein Leben aufgebaut und Familien gegründet hatten, verloren quasi über Nacht ihre Krankenversicherung, ihren Job, ihre Wohnung, wurden eingesperrt und sogar abgeschoben – weil sie keine gültigen Aufenthaltspapiere vorlegen konnten. Die Verschärfung der Migrationspolitik traf dabei auf jahrzehntelanges Behördenversagen: Denn betroffen waren insbesondere Brit*innen, die zwischen 1948 und 1971 aus der Karibik eingewandert waren und als Commonwealth-Bürger*innen eine unbefristete Duldung besaßen – die sie aber nicht nachweisen konnten, da das Innenministerium in London es bislang versäumt hatte, entsprechende Papiere auszustellen.[11]

 

Gleich, aber nicht gleichberechtigt: Commonwealth-Bürger*innen im Vereinigten Königreich

Dabei war es die britische Regierung selbst gewesen, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Einwohner*innen der nunmehr in eigenständigen Commonwealth-Staaten aufgegangenen früheren Kolonien händeringend um Unterstützung beim Wiederaufbau des zerstörten „Mutterlands“ ersucht hatte. Inoffiziell hoffte man dabei auf den Zuzug vor allem Weißer Arbeitskräfte etwa aus Kanada oder Neuseeland. Selbst Osteuropäer*innen waren aufgrund ihrer angeblichen genetischen Ähnlichkeit auf dem Arbeitsmarkt lieber gesehen als diejenigen, die wirklich kamen: Schwarze aus den zum Commonwealth gehörenden Karibikstaaten, die durch den British National Act 1948 formal als britische Staatsbürger*innen anerkannt waren.[12] Den symbolischen Beginn dieser Nachkriegsmigration nach Großbritannien markierte die Ankunft der „Empire Windrush“, eines Passagierschiffes, das mit 492 Menschen an Bord (viele davon Frauen und Kinder) am 22. Juni 1948 in Tilbury Docks südöstlich von London anlegte. „Those who walked the gang plank at Tilbury laid the foundation for the following generations of blacks to arrive but most importantly transformed British thinking about ideas of empire, race and citizenship”, so der Historiker Kenny Monrose.[13] Die „Empire Windrush“ war dabei nicht das erste und auch nicht das letzte Schiff mit Übersiedler*innen aus den ehemaligen Kolonien. Sie ist aber zu einer – vielfach auch in Liedern und Gedichten verewigten – Ikone für das Image eines Großbritanniens geworden, das sich auf der Suche nach einer neuen Identität nach dem Ende des Empires nicht mehr als von Unterdrückung und Ausbeutung profitierender Kolonialmacht, sondern als modernes, multikulturelles und demokratisches Einwanderungsland verstand.[14]

Foto: Migration, Empire Windrush mural in St Paul's, Bristol, Quelle: Gioconda Beekman via Flickr.com, Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0.

Als Windrush-Generation wurden infolge jene mehr als 500.000 Menschen bezeichnet, die im Commonwealth geboren und vor 1971 nach Großbritannien eingewandert waren. Der überwiegende Teil von ihnen war in den Herkunftsländern mit britischen Werten sozialisiert worden, nicht wenige sahen sich als Patriot*innen, die bereits im Weltkrieg an der Seite des Vereinigten Königreiches gekämpft hatten. Sie verstanden die Einladung der britischen Regierung als Ehre und zugleich als Chance auf eine Verbesserung ihres Lebensstandards.[15] Die Art, wie sie nach ihrer Ankunft behandelt wurden, offenbart jedoch das bis heute gespaltene Verhältnis der Weißen Mehrheitsgesellschaft zu ihren Schwarzen Mitbürger*innen und deren, mittlerweile in Großbritannien geborenen und aufgewachsenen (Kindes-)Kindern. Denn dieses beruhte von Anfang auf einem Missverständnis: Während die Aufnahmegesellschaft von den Einwander*innen erwartete, nach getaner Arbeit in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, kamen die meisten von ihnen, um zu bleiben. Struktureller Rassismus, der sich auf weitgehend erhalten gebliebenen kolonialen Stereotypen gründete, erschwerte dabei die Begegnung auf Augenhöhe. Schwarze galten als ungebildet, faul und gerade gut genug, um für die einfachsten Tätigkeiten eingesetzt zu werden – vor allem aber für Arbeit, für die sich Weiße zu schade waren.[16]

 

Einhellige Empörung mit langfristiger Wirkung? Lehren aus dem Windrush-Skandal

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erschwerte systematische Diskriminierung vielen Schwarzen den Zugang zu angemessener Arbeit, gerechter Bezahlung und annehmbaren Wohnverhältnissen. Die Folgen waren Armut, Segregation, Gewalt. Immer wieder kam es zu sozialen Spannungen und Ausschreitungen in vor allem von der (in sich selbst heterogenen) Schwarzen Community bewohnten „Problemvierteln“[17]. Angeheizt auch durch eine Regierungspolitik, die unter einem neuen „one-nation Conservatism“ die Regeln für Einwanderung stetig weiter verschärfte und in der Weißen Mehrheitsgesellschaft Stimmung gegen Migrant*innen machte: „The fear that Black immigration to the UK would change the ‚racial character‘ of Britishness was voiced by high representatives of the state, such as Labour Prime Minister Clement Attlee as early as in 1948, immediately after the arrival of the Empire Windrush“, stellt die Politikwissenschaftlerin Eva Garau fest. Der von der konservativen Macmillan-Regierung verfasste Commonwealth Immigrants Act beendete 1962 die Privilegien für Commonwealth-Bürger*innen beim Zuzug nach Großbritannien, „creating de facto a new second-class British citizenship“.[18] Zwar brachte das Kabinett unter Labour-Chef Harold Wilson 1965 mit dem Race Relations Act ein Antidiskriminierungsgesetz durchs Parlament. Dieses blieb aber weitgehend folgenlos. Mehr noch: 1968 bezeichnete der konservative Politiker Enoch Powell in einer Rede die Einwanderung von Schwarzen offen als Gefahr für das Wohlergehen der britischen Nation. Was vorher nur hinter vorgehaltener Hand gesagt worden war, wurde nun salonfähig.[19]

Von Powell führte ein direkter Weg zur Stigmatisierung und Kriminalisierung ethnischer Minderheiten und der gegen Schwarze und People of Colour gerichteten Polizeigewalt in der Thatcher-Ära, die die Punk-Band The Clash 1979 in ihrem Song „The Guns of Brixton“ – noch vor den Ausschreitungen im gleichnamigen Londoner Stadtteil 1981 – aus Sicht eines dort lebenden jamaikanisch-stämmigen Einwohners thematisierte, bis zur „Politik der unfreundlichen Umgebung“ der Cameron-Regierung.[20] Diese fiel Premierministerin Theresa May, als damalige Innenministerin gleichsam Initiatorin der Verschärfungen, 2018 auch deshalb auf die Füße, weil der Umgang mit der Windrush-Generation erstmals einhellige Empörung über politische Lagergrenzen hinweg auslöste. Der Druck war so groß, dass die amtierende Innenministerin Amber Rudd im April 2018 zurücktreten musste und May sich öffentlich entschuldigte. Ausgestanden ist die Sache damit nicht: Ein Untersuchungsausschuss kam 2020 zu dem Ergebnis, dass der Skandal nicht nur durch historisches Wissen und umsichtiges Agieren hätte vermieden werden können – tausende Betroffene wurden daraufhin entschädigt.[21] Doch Wiedergutmachung allein löste nicht ein grundsätzliches gesellschaftliches Problem – nämlich, dass „viele Aspekte des britischen Lebens nicht für alle Bürger gelten und dass Unterschiede nicht wertgeschätzt werden.“[22] Und genau das trifft den Kern des Streits um Axel Voids Wandbild.

 

Whose heritage? Blinde Flecken in der britischen Erinnerungskultur

Denn neben seiner Kritik am Umgang der Regierung mit den Folgen ihrer Einwanderungspolitik hinterfragt der Künstler die – von einem dezidiert Weißen Blickwinkel dominierte und von alternativen Deutungen weitgehend befreite – Stilisierung historischer Ereignisse als identitätsstiftende und damit machtvolle, weil realitätsprägende Narrative. Die Erzählung von Peterloo als Geburtsstunde der britischen Demokratie etwa oder die Geschichte der Ankunft der „Empire Windrush“ als Beginn eines multikulturellen, postkolonialen Großbritanniens verschleiern allzu oft, dass hier längst nicht alle gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können und dass insbesondere Schwarze und ethnische Minderheiten auf bestimmten Schlüsselfeldern immer noch ungenügend repräsentiert sind. In ihrer dominanten Lesart sind beide Ereignisse von den Problemen der Gegenwart weitgehend entkoppelten Wohlfühl-Narrativen für die Weiße Mehrheitsgesellschaft geworden, welche die ihr innewohnenden Spannungen, die Kontinuitäten von Rassismus und Diskriminierung sowie den Mangel an kritischer Auseinandersetzung über die historische Rolle des Landes als Kolonialmacht (und dem ihr zugrundeliegenden Nationalismus und Chauvinismus) zu überdecken helfen.

Zum anderen ist die Verkürzung von Peterloo auf den Mythos der sich gegen die Oberen auflehnenden, unterdrückten Massen mindestens eine ambivalente Geschichte von ‚Empowerment‘. Nicht nur wurden die friedlichen Proteste am 16. August 1819 von einem breiteren gesellschaftlichen Bündnis getragen, das über Fabrikarbeiter*innen oder Angehörige der sogenannten ‚Unterschicht‘ hinaus reichte.[23] Sondern das Narrativ „unten gegen oben“, nicht selten in „wir gegen sie“ übersetzt, ist in vielerlei Richtungen anschlussfähig – und zwar auch in nationalistisch-exkludierender Form. Der Historiker Peter Poole schreibt, dass der in den Reformbewegungen nach den Napoleonischen Kriegen 1816 bis 1819 geäußerte politische Protest sich auch gegen einen verhassten britischen Staat richtete, der bis 1800 durch die Vereinigung der Königreiche England, Schottland und Irland entstanden war und von nicht wenigen Zeitgenoss*innen als übermächtiges, fremdes Gebilde wahrgenommen wurde. Mit dem Erbe dieses „English Uprising“ wird auch 200 Jahre später (weiter) Politik gemacht: Beim Brexit-Referendum 2016 war die auf Emotionen gründende Stimmungsmache gegen die EU als supranationale Entität, die die Eigenständigkeit Großbritanniens unterlaufen und den Brit*innen ihre Identität nehmen würde, einer der wichtigsten Treiber der Leave-Kampagne.[24]

Stellt Axel Voids Bild nun einen angemessenen historischen Vergleich oder eine grenzüberschreitende Provokation dar? Darüber lässt sich (an anderer Stelle) treffend streiten. Zum Nachdenken regt Void uns allemal an. Er zeigt uns, dass die Vergangenheit nicht in sich abgeschlossen ist, historische Ereignisse selten isoliert nebeneinanderstehen, sondern Lokal- und Globalgeschichte eng miteinander verknüpft sind: Was wir (wie) erinnern, geht weit über eine rein historische Betrachtung hinaus, denn es prägt Gegenwart und ermöglicht Zukunft. So ist Voids Kunst ein wichtiges Statement in einer Zeit gesellschaftlicher Polarisierung, in der hochrangige britische Politiker*innen von der Wiederherstellung vermeintlicher alter Macht und Größe träumen.[25] Und diese Botschaft kommt an: Nur wenige Wochen nach Fertigstellung des Bildes Anfang Oktober 2018 wählten die User der Plattform „Street Art United States“ das Wandbild mit Mutter und Kind – Lydia und Ezra – unter die Top Ten der einflussreichsten Street-Art-Motive der Welt.[26] Mag sein, dass es gerade auch diesem Erfolg geschuldet ist, dass die Filmfirma schließlich einlenkte und dem Künstler das verdiente Honorar auszahlte.

 


[1] Axel Void's tribute to Peterloo, People's History Museum; Fran: Axel Void pays tribute to Peterloo, in: Urbanite, 24.10.2018, beide abgerufen am 7.11.2020.

[2] Wörtlich: „Wir sind viele, sie wenige“. Letzte Zeile des in Reaktion auf Peterloo entstandenen Gedichts „The Mask of Anarchy“ des Dichters Percy B. Shelley (1792-1822). Auch 200 Jahre später wird sie als Slogan für verschiedene (politische) Ziele verwendet. (Vgl. Stemmler, Theo: „Ye are many – they are few“: Bis heute ein Kampfruf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.8.2019, abgerufen am 29.11.2020.)

[3] Vgl. Haslam, Dave: Manchester, England. The story of the pop cult city, London 1999, S. 10-15.

[4] Vgl. Demson, Michael / Hewitt, Regina (Hrsg.): Commemorating Peterloo. Violence, Resilience and Claim-making during the Romantic Era, Edinburgh 2019, S. 1; Haslam, Manchester, S. 15.

[5] Axel Void's tribute to Peterloo, People's History Museum, abgerufen am 7.11.2020.

[6] Vgl. Child, Danielle: Whose history? Why the People’s History Museum is vital, 8.7.2019, abgerufen am 14.11.2020.

[7] Siehe "Peterloo", in: British Council Film, abgerufen am 14.11.2020.

[8] Vgl. Poole, Robert: Peterloo. The English Uprising, Oxford 2019, S. 2.

[9] Vgl. E-Mail des PHM an die Autorin vom 4.3.2019.

[10] Siehe Axel Void's tribute to Peterloo, People's History Museum, abgerufen am 14.11.2020.

[11] Vgl. Pfister, Sandra: Amelia Gentleman – „Der ‚Windrush‘-Verrat“, in: Deutschlandfunk, 9.12.2019, abgerufen am 20.11.2020; Khan, Yasmin: Refugees, Migrants, Windrush and Brexit, in: Ward, Stuart / Rasch, Astrid (Hrsg.): Embers of Empire in Brexit Britain, London 2019, S. 101-110, hier S. 105.

[12] Vgl. Belchem, John: Before the Windrush: Race Relations in 20th-Century Liverpool, Liverpool 2014, S. 122.

[13] Monrose, Kenny: Black Men in Britain: An Ethnographic Portrait of the Post-Windrush Generation, Abingdon 2020, S. 12.

[14] Vgl. Garau, Eva: Britain between identity politics and immigration. The Conservative approach from the Empire Windrush to the “rivers of blood” speech, 1948–1968, in: Laschi, Giuliana / Deplano, Valeria / Pes, Alessandro (Hrsg.): Europe between Migrations, Decolonization and Integration (1945-1992), Abingdon 2020, S. 170-182, hier S. 170; Grant, Colin: The Story of Windrush. The history and impact of the people who characterised mass migration in Britain, abgerufen am 14.11.2020.

[15] Monrose, Black Men in Britain, 11-12; Windrush generation: Who are they and why are they facing problems?, in: BBC, 31.7.2020, abgerufen am 14.11.2020.

[16] Vgl. Garau, Britain between identity politics and immigration, S. 173 und 175.

[17] Vgl. Belchem, Before the Windrush, S. 147 und 163. Siehe auch: Hammond Perry, Kennetta: London Is the Place for Me. Black Britons, Citizenship and the Politics of Race. Oxford: Oxford University Press 2016.

[18] Garau, Britain between identity politics and immigration, S. 172 und 174-175.

[19] Vgl. Monrose, Black Men in Britain, S. 14-15; Garau, Britain between identity politics and immigration, S. 176 und 178; Phillips, Trevor: 2048. Europe one hundred years on from Windrush, in: Harris, Trevor (Hrsg.): Windrush (1948) and Rivers of Blood (1968). Legacy and Assessment, Abingdon 2020, S. 3-13, hier S. 5.

[20] Vgl. Monrose, Black Men in Britain, S. 21-23.

[21] Entschädigt wurden dabei ausschließlich britische Bürger*innen karibischer Herkunft. Yasmin Khan merkt an, dass dies nur der Anfang sein könne, da auch Menschen aus anderen Commonwealth-Staaten von der Migrationspolitik Mays betroffen waren. (Vgl. Khan, Refugees, Migrants, Windrush and Brexit, S. 106-107.)

[22] Shackle, Samira: Der Windrush-Skandal wirft Schatten auf die britische Einwanderungspolitik, in: DW, 21.04.2018; Windrush generation: Who are they and why are they facing problems?, in: BBC, 31.7.2020, beide abgerufen am 21.11.2020.

[23] Vgl. Poole, Peterloo, S. 364.

[24] Vgl. Poole, Peterloo, S. 388.

[25] Vgl. Campanella, Eduardo: A Diminished Nation in Search of an Empire, in: Foreign Policy, 24.102019, abgerufen am 21.11.2020.

[26] Vgl. Margolin, Rachel: SAUS’ Ten Influential Murals of 2018, 7.1.2019, abgerufen am 29.11.2020.

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