Der Westen des Ostens

 

Das neu entflammte öffentliche und zeithistorische Interesse an der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation Ostdeutschlands nach dem Zusammenbruch der DDR kommt bisher meist ohne Seitenblicke auf die parallelen Entwicklungen in Ostmittel- und Osteuropa aus. Vielmehr wird die Frage, wie die DDR nach 1989/90 zu „Ostdeutschland“ wurde, immer noch im Wesentlichen innerhalb eines deutsch-deutschen Bezugsrahmens diskutiert. Seine neuerliche Brisanz gewinnt dieser unverkennbar aus der Gegenwart, in der viele westdeutsch Sozialisierte „den Osten“ aufs Neue zur hoffnungslosen Problemzone der ansonsten gefestigten bundesdeutschen Demokratie stilisieren. Dagegen greifen nicht wenige Ostdeutsche zur Selbstviktimisierung als identitätspolitischer Strategie und glauben, in der Treuhand jene Übeltäterin ausgemacht zu haben, die für alle Verletzungen der ostdeutschen Seele verantwortlich zu machen sei.

Auf diese Weise erscheint die ostdeutsche Transformation als einzigartiger Sonderfall, der je nach Position als unzureichend gewürdigte nationale Erfolgsgeschichte oder als Erfahrung kolonialer Demütigung gedeutet wird. Wenig Beachtung findet hingegen die offensichtliche Tatsache, dass das Schicksal der Ostdeutschen so außergewöhnlich nun auch wieder nicht war. Schließlich mussten in den 1990er-Jahren auch jenseits von Oder und Erzgebirge Millionen von Menschen am eigenen Leib erfahren, wie sich das „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ (Swetlana Alexijewitsch) anfühlte. Gerade wer die Spezifika der ostdeutschen Transformation verstehen will, ist deshalb gut beraten, die deutsch-deutsche Bauchnabelperspektive hinter sich zu lassen und einen vergleichenden Blick auf den Osten Europas zu werfen. Denn erst vor dem Panorama der verwandten und doch je verschiedenen Transformationsprozesse in Ostmittel- und Osteuropa wird das Allgemeingültige der ostdeutschen Erfahrungen, werden auch deren Besonderheiten sichtbar. Was also lässt sich über die postsozialistische Transformation in Ostdeutschland lernen, wenn man sie als Variante einer gemeinsamen ost(mittel)europäischen Entwicklung betrachtet?

 

Radikalität des Transformationsbruchs

Zunächst einmal erinnert der Blick nach Osteuropa daran, dass das gern bemühte Vorurteil, wonach die Ostdeutschen im Vergleich zu ihren östlichen Nachbarn in der Hängematte der westdeutschen Sozialtransfers weich gelandet seien, nur die eine Seite der Medaille widerspiegelt. Wahr ist nämlich auch, dass der ökonomische und institutionelle Bruch, der mit der Transformation einherging, kaum irgendwo so unvermittelt und tiefgreifend war wie in der untergegangenen DDR. Eine radikalere Schocktherapie als die schrankenlose Integration in den bundesdeutschen Wirtschaftsraum, wie sie mit der Wirtschafts- und Währungsunion im Juli 1990 vollzogen wurde, konnte es nicht geben.

Zwar erlaubte die Währungsunion den Ostdeutschen, ihre Löhne und Sparguthaben zu vorteilhaften Konditionen in die Ära der D-Mark mitzunehmen, während östlich der Oder Hyperinflation und knallharte Fiskalpolitik die Früchte ehrlicher Arbeit in der staatlichen Wirtschaft entwerteten. Auch ostdeutsche Rentner profitierten in erheblichem Maße von der Übertragung der bundesdeutschen Sozialsysteme. Doch die Konkurrenzfähigkeit vieler DDR-Betriebe war mit der schlagartigen Marktöffnung für Westprodukte und mit der Umstellung von Löhnen und Gehältern auf Westwährung ruiniert. Die Vorteile des Stabilitätsimports durch die rasche Wirtschafts- und Währungsunion und die anschließende Wiedervereinigung wurden also dadurch erkauft, dass die industrielle Basis der DDR einem Kahlschlag ohnegleichen preisgegeben wurde. Trotz der verbreiteten neoliberalen Rhetorik kam es nirgendwo sonst im östlichen Europa zu einer so rapiden Deindustrialisierung wie in Ostdeutschland.

 

Verschiedene Wege der Privatisierung

Dennoch war die konkrete Ausgestaltung der Privatisierungspolitik in weitaus geringerem Maße „alternativlos“, als es die politisch motivierte Vorab-Festlegung der Treuhandanstalt auf schnelles Verkaufen oder Abwickeln suggerierte. Während das einstige Volkseigentum der DDR der demokratischen Kontrolle seitens der ostdeutschen Bevölkerung mit der Wiedervereinigung und der Übertragung der Aufsicht über die Treuhandanstalt an die gesamtdeutsche Bundesregierung de facto entzogen war, wurde in den ostmitteleuropäischen Nachbarländern kontrovers über den richtigen Weg zum Umbau der Wirtschaft diskutiert.

Folglich beschritten die Ostmitteleuropäer in der Privatisierungspolitik durchaus unterschiedliche Wege. Das reichte von der zügigen Verteilung des staatlichen Eigentums an die Bürger mittels Coupon-Privatisierung in Tschechien bis hin zu Experimenten mit Belegschaftseigentum in Polen. Während Polen die Privatisierung der Wirtschaft insgesamt recht zögerlich anging und in industriellen Kernbranchen wie dem Bergbau und der Energiewirtschaft bis heute einen bedeutenden Staatssektor aufweist, setzte Ungarn – ebenso wie die Treuhand – auf den raschen Verkauf der Staatsbetriebe an westliche Investoren. Neben nationalen Befindlichkeiten und politischen Kräfteverhältnissen (wie etwa Wahlerfolgen der Postkommunisten) spielte bei der Privatisierungsstrategie auch die Höhe der aus staatssozialistischer Zeit geerbten Auslandsverschuldung eine Rolle. Deren geringer Umfang erlaubte es zum Beispiel der ökonomisch vergleichsweise stabilen Tschechoslowakei, bei der Privatisierung nur in Ausnahmefällen auf westliches Kapital zurückzugreifen. Wohin die politische Fixierung auf eine schnelle Privatisierung ohne funktionierende rechtsstaatliche Institutionen führen konnte, lässt sich dagegen bis heute in Russland und anderen postsowjetischen Staaten besichtigen: Dort öffnete diese Tür und Tor für einen ungezügelten Oligarchenkapitalismus.

 

Fallhöhe der Peripherisierungserfahrung

Zu den einschneidendsten Folgen der Transformation gehörte fast überall in Ostmitteleuropa (außer in Tschechien) der Verlust sicher geglaubter Arbeitsplätze infolge von Massenentlassungen und Betriebsschließungen. Die jahrelange, strukturell verfestigte Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland stellte insofern keine Ausnahme dar; allerdings war die Fallhöhe in der Selbstwahrnehmung der Betroffenen hier weitaus größer als anderswo.

Entscheidend für Frustration und das sprichwörtliche Gefühl, verraten und verkauft worden zu sein, war nämlich nicht allein der reale Verlust lebensweltlicher Sicherheiten, sondern auch das eklatante Auseinanderfallen von Erwartungshaltungen und tatsächlichen Erfahrungen. Gerade für Beschäftigte einstiger Vorzeigebetriebe der DDR-Wirtschaft tat sich hier eine schmerzliche Kluft auf: Wie etwa Jessica Elsner am Beispiel des „Wartburg“-Produzenten Automobilwerk Eisenach herausarbeitet, sahen die Belegschaften solcher Betriebe der neuen marktwirtschaftlichen Ordnung anfangs überwiegend mit Selbstgewissheit und der Annahme entgegen, nun endlich die bürokratischen Hemmnisse der DDR-Planwirtschaft hinter sich zu lassen und sich im Wettbewerb bewähren zu können.[1] Umso härter war die Enttäuschung, als gerade hochqualifizierte Mitarbeiter aus den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen zuerst gehen mussten, weil sich die DDR-Produkte vielfach als nicht marktgängig erwiesen und ihre Hersteller im besten Falle zur verlängerten Werkbank westdeutscher Konzerne degradiert wurden.

Was sich in solchen Betrieben auf der Mikroebene abspielte, lässt sich als exemplarisch für die Situation in Ostdeutschland insgesamt verstehen: Nirgendwo sonst im östlichen Europa war die Fallhöhe vom industriellen Musterländle des Staatssozialismus zur deindustrialisierten Semi-Peripherie des reichen Westens so groß wie hier. Fast überall im östlichen Europa mussten Menschen die schlagartige Entwertung ihrer Erwerbsbiographien und das Wegbrechen betrieblich geprägter sozialer Räume verkraften. In Ostdeutschland fiel dies aber besonders schmerzhaft ins Gewicht, weil die arbeiterlich gefärbte Sinnwelt der staatssozialistischen Industriemoderne in der DDR bis zum Ende größeren Rückhalt genoss als etwa im krisengeschüttelten Polen, wo der Staatssozialismus das Vertrauen in seine wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit schon weit vor 1989 gründlich verspielt hatte.[2] Die Wahlkampfrhetorik westdeutscher Politiker tat ein Übriges, die optimistischen Erwartungen vieler Ostdeutscher zusätzlich zu schüren – bis diese durch die wirtschaftliche Realität der Transformation umso bitterer enttäuscht werden sollten.

Es ist zwar nicht von der Hand zu weisen, dass dieser tiefe Fall materiell durch milliardenschwere Transferzahlungen abgefedert wurde, von denen man anderswo im östlichen Europa nur träumen konnte. Die immateriellen Wunden, die die abrupte Peripherisierungs- und Deklassierungserfahrung in Ostdeutschland gerissen hat, waren auf diese Weise aber nicht zu heilen. Der Mensch lebt eben nicht vom Brot allein.

 

Europäische Geschichte, eastern style

Die ostdeutsche Transformationsgeschichte im ostmitteleuropäischen Kontext zu betrachten, schärft also zum einen den Blick für die enorme Bedeutung vermeintlich „weicher“, kultureller Faktoren für die gesellschaftlichen Folgewirkungen der Transformation. Während die Transformationsverlierer in Ostdeutschland trotz allem auf vergleichsweise gute soziale Sicherheitsnetze zählen konnten, waren kollektive und individuelle Erfahrungen von Deklassierung und Kontrollverlust hier besonders schwerwiegend. Die sichtbare Präsenz neuer, aus Westdeutschland importierter Eliten führte den Ostdeutschen den Verlust an lebensweltlicher Handlungs- und Deutungsmacht zudem viel greifbarer vor Augen, als das in den östlichen Nachbarländern der Fall war.

Im ostmitteleuropäischen Vergleich wird zum anderen deutlich, dass viele Probleme der ostdeutschen Transformation nicht auf vermeintliche Schrullen der „Ossis“ zurückzuführen waren, sondern aus grundsätzlichen Widersprüchen der doppelten Transformation von der kommunistischen Diktatur zur parlamentarischen Demokratie und von der Plan- zur Marktwirtschaft herrührten. Auch andere Länder des östlichen Europas hatten mit ihnen zu kämpfen; in Ostdeutschland traten sie aufgrund des einzigartigen Tempos und der Radikalität der Peripherisierungserfahrung bloß früher und schärfer zutage. So sollte sich etwa die millionenfache Abwanderung nach Westdeutschland in den ersten Jahren nach dem Wegfall der innerdeutschen Grenze später auf ähnliche Weise in den inneren Peripherien des östlichen Europas wiederholen – mit allen negativen Folgen für die Selbstwahrnehmung der Zurückgebliebenen, die gerade in ländlichen Regionen den Eindruck gewinnen mussten, von der Jugend, den Frauen und von der Zukunft verlassen worden zu sein.

Ostdeutschland als Teil eines weiteren osteuropäischen Zusammenhangs zu verstehen, beugt zum dritten auch einer Exotisierung des Ostens insgesamt vor. Denn es bietet eine geeignete komparative Basis, um grundsätzliche Fragen an das prekäre Verhältnis zwischen Kapitalismus und liberaler Demokratie zu richten, die sonst meist ungestellt bleiben. Das Bewusstsein, dass die Schwierigkeiten der vielbeschworenen „inneren Einheit“ im Kern nichts anderes als europäische Schwierigkeiten im Kleinen waren (und sind), mag auch helfen, asymmetrische Zentrum-Peripherie-Beziehungen innerhalb der Europäischen Union zu problematisieren. Dass illiberale und rechtspopulistische Strömungen keineswegs nur in Ostdeutschland und Ostmitteleuropa, sondern auch in anderen Regionen des globalen Westens auf dem Vormarsch sind, deutet jedenfalls darauf hin, dass die Erfahrungen des Ostens mit Deindustrialisierung, Peripherisierung und Deklassierung weit mehr als nur regionalgeschichtlich relevant sind.

Wer die Transformationsgeschichte Ostdeutschlands in ihrem ostmitteleuropäischen Kontext betrachtet, entgeht somit der Gefahr, diese als bloße Fortsetzung einer partikularen DDR-Geschichte zu begreifen. Stattdessen bietet sich die Chance, mit der Transformation des ehemaligen Ostblocks in eine Semi-Peripherie des globalisierten Kapitalismus den paradigmatischen Schauplatz eines fundamentalen ökonomischen und sinnweltlichen Bruchs von europäischer Relevanz zu untersuchen. Eine zeithistorische Forschung, die auch an der Genealogie der Gegenwart interessiert ist, sollte sich diese Chance nicht entgehen lassen.


[1] Siehe die Projektbeschreibung von Jessica Elsner: Arbeitsverhältnisse, Geschlecht und soziale Ungleichheit im Automobilbau der DDR (Teilprojekt im Rahmen des Promotionskollegs Soziale Folgen des Wandels der Arbeitswelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts); vgl. ähnlich auch Birgit Müller: Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Ethnologische Erkundungen in ostdeutschen Betrieben. Frankfurt/Main 2002, S. 18f., 133f., [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].
[2] Siehe dazu Wolfgang Engler: Von der arbeiterlichen Gesellschaft zur Marktwirtschaft. Der Umbruch der Arbeitswelt im Osten. In: Martin Sabrow / Alexander Koch (Hg.): Experiment Einheit. Zeithistorische Essays. Göttingen 2015, S. 75-93.

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Das neu entflammte öffentliche und zeithistorische Interesse an der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation Ostdeutschlands nach dem Zusammenbruch der DDR kommt bisher meist ohne Seitenblicke auf die parallelen Entwicklungen in Ostmittel- und Osteuropa aus. Vielmehr wird die Frage, wie die DDR nach 1989/90 zu „Ostdeutschland“ wurde, immer noch im Wesentlichen innerhalb eines deutsch-deutschen Bezugsrahmens diskutiert. Seine neuerliche Brisanz gewinnt dieser unverkennbar aus der Gegenwart, in der viele westdeutsch Sozialisierte „den Osten“ aufs Neue zur hoffnungslosen Problemzone der ansonsten gefestigten bundesdeutschen Demokratie stilisieren. Dagegen greifen nicht wenige Ostdeutsche zur Selbstviktimisierung als identitätspolitischer Strategie und glauben, in der Treuhand jene Übeltäterin ausgemacht zu haben, die für alle Verletzungen der ostdeutschen Seele verantwortlich zu machen sei.

Auf diese Weise erscheint die ostdeutsche Transformation als einzigartiger Sonderfall, der je nach Position als unzureichend gewürdigte nationale Erfolgsgeschichte oder als Erfahrung kolonialer Demütigung gedeutet wird. Wenig Beachtung findet hingegen die offensichtliche Tatsache, dass das Schicksal der Ostdeutschen so außergewöhnlich nun auch wieder nicht war. Schließlich mussten in den 1990er-Jahren auch jenseits von Oder und Erzgebirge Millionen von Menschen am eigenen Leib erfahren, wie sich das „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ (Swetlana Alexijewitsch) anfühlte. Gerade wer die Spezifika der ostdeutschen Transformation verstehen will, ist deshalb gut beraten, die deutsch-deutsche Bauchnabelperspektive hinter sich zu lassen und einen vergleichenden Blick auf den Osten Europas zu werfen. Denn erst vor dem Panorama der verwandten und doch je verschiedenen Transformationsprozesse in Ostmittel- und Osteuropa wird das Allgemeingültige der ostdeutschen Erfahrungen, werden auch deren Besonderheiten sichtbar. Was also lässt sich über die postsozialistische Transformation in Ostdeutschland lernen, wenn man sie als Variante einer gemeinsamen ost(mittel)europäischen Entwicklung betrachtet?

 

Radikalität des Transformationsbruchs

Zunächst einmal erinnert der Blick nach Osteuropa daran, dass das gern bemühte Vorurteil, wonach die Ostdeutschen im Vergleich zu ihren östlichen Nachbarn in der Hängematte der westdeutschen Sozialtransfers weich gelandet seien, nur die eine Seite der Medaille widerspiegelt. Wahr ist nämlich auch, dass der ökonomische und institutionelle Bruch, der mit der Transformation einherging, kaum irgendwo so unvermittelt und tiefgreifend war wie in der untergegangenen DDR. Eine radikalere Schocktherapie als die schrankenlose Integration in den bundesdeutschen Wirtschaftsraum, wie sie mit der Wirtschafts- und Währungsunion im Juli 1990 vollzogen wurde, konnte es nicht geben.

Zwar erlaubte die Währungsunion den Ostdeutschen, ihre Löhne und Sparguthaben zu vorteilhaften Konditionen in die Ära der D-Mark mitzunehmen, während östlich der Oder Hyperinflation und knallharte Fiskalpolitik die Früchte ehrlicher Arbeit in der staatlichen Wirtschaft entwerteten. Auch ostdeutsche Rentner profitierten in erheblichem Maße von der Übertragung der bundesdeutschen Sozialsysteme. Doch die Konkurrenzfähigkeit vieler DDR-Betriebe war mit der schlagartigen Marktöffnung für Westprodukte und mit der Umstellung von Löhnen und Gehältern auf Westwährung ruiniert. Die Vorteile des Stabilitätsimports durch die rasche Wirtschafts- und Währungsunion und die anschließende Wiedervereinigung wurden also dadurch erkauft, dass die industrielle Basis der DDR einem Kahlschlag ohnegleichen preisgegeben wurde. Trotz der verbreiteten neoliberalen Rhetorik kam es nirgendwo sonst im östlichen Europa zu einer so rapiden Deindustrialisierung wie in Ostdeutschland.

 

Verschiedene Wege der Privatisierung

Dennoch war die konkrete Ausgestaltung der Privatisierungspolitik in weitaus geringerem Maße „alternativlos“, als es die politisch motivierte Vorab-Festlegung der Treuhandanstalt auf schnelles Verkaufen oder Abwickeln suggerierte. Während das einstige Volkseigentum der DDR der demokratischen Kontrolle seitens der ostdeutschen Bevölkerung mit der Wiedervereinigung und der Übertragung der Aufsicht über die Treuhandanstalt an die gesamtdeutsche Bundesregierung de facto entzogen war, wurde in den ostmitteleuropäischen Nachbarländern kontrovers über den richtigen Weg zum Umbau der Wirtschaft diskutiert.

Folglich beschritten die Ostmitteleuropäer in der Privatisierungspolitik durchaus unterschiedliche Wege. Das reichte von der zügigen Verteilung des staatlichen Eigentums an die Bürger mittels Coupon-Privatisierung in Tschechien bis hin zu Experimenten mit Belegschaftseigentum in Polen. Während Polen die Privatisierung der Wirtschaft insgesamt recht zögerlich anging und in industriellen Kernbranchen wie dem Bergbau und der Energiewirtschaft bis heute einen bedeutenden Staatssektor aufweist, setzte Ungarn – ebenso wie die Treuhand – auf den raschen Verkauf der Staatsbetriebe an westliche Investoren. Neben nationalen Befindlichkeiten und politischen Kräfteverhältnissen (wie etwa Wahlerfolgen der Postkommunisten) spielte bei der Privatisierungsstrategie auch die Höhe der aus staatssozialistischer Zeit geerbten Auslandsverschuldung eine Rolle. Deren geringer Umfang erlaubte es zum Beispiel der ökonomisch vergleichsweise stabilen Tschechoslowakei, bei der Privatisierung nur in Ausnahmefällen auf westliches Kapital zurückzugreifen. Wohin die politische Fixierung auf eine schnelle Privatisierung ohne funktionierende rechtsstaatliche Institutionen führen konnte, lässt sich dagegen bis heute in Russland und anderen postsowjetischen Staaten besichtigen: Dort öffnete diese Tür und Tor für einen ungezügelten Oligarchenkapitalismus.

 

Fallhöhe der Peripherisierungserfahrung

Zu den einschneidendsten Folgen der Transformation gehörte fast überall in Ostmitteleuropa (außer in Tschechien) der Verlust sicher geglaubter Arbeitsplätze infolge von Massenentlassungen und Betriebsschließungen. Die jahrelange, strukturell verfestigte Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland stellte insofern keine Ausnahme dar; allerdings war die Fallhöhe in der Selbstwahrnehmung der Betroffenen hier weitaus größer als anderswo.

Entscheidend für Frustration und das sprichwörtliche Gefühl, verraten und verkauft worden zu sein, war nämlich nicht allein der reale Verlust lebensweltlicher Sicherheiten, sondern auch das eklatante Auseinanderfallen von Erwartungshaltungen und tatsächlichen Erfahrungen. Gerade für Beschäftigte einstiger Vorzeigebetriebe der DDR-Wirtschaft tat sich hier eine schmerzliche Kluft auf: Wie etwa Jessica Elsner am Beispiel des „Wartburg“-Produzenten Automobilwerk Eisenach herausarbeitet, sahen die Belegschaften solcher Betriebe der neuen marktwirtschaftlichen Ordnung anfangs überwiegend mit Selbstgewissheit und der Annahme entgegen, nun endlich die bürokratischen Hemmnisse der DDR-Planwirtschaft hinter sich zu lassen und sich im Wettbewerb bewähren zu können.[1] Umso härter war die Enttäuschung, als gerade hochqualifizierte Mitarbeiter aus den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen zuerst gehen mussten, weil sich die DDR-Produkte vielfach als nicht marktgängig erwiesen und ihre Hersteller im besten Falle zur verlängerten Werkbank westdeutscher Konzerne degradiert wurden.

Was sich in solchen Betrieben auf der Mikroebene abspielte, lässt sich als exemplarisch für die Situation in Ostdeutschland insgesamt verstehen: Nirgendwo sonst im östlichen Europa war die Fallhöhe vom industriellen Musterländle des Staatssozialismus zur deindustrialisierten Semi-Peripherie des reichen Westens so groß wie hier. Fast überall im östlichen Europa mussten Menschen die schlagartige Entwertung ihrer Erwerbsbiographien und das Wegbrechen betrieblich geprägter sozialer Räume verkraften. In Ostdeutschland fiel dies aber besonders schmerzhaft ins Gewicht, weil die arbeiterlich gefärbte Sinnwelt der staatssozialistischen Industriemoderne in der DDR bis zum Ende größeren Rückhalt genoss als etwa im krisengeschüttelten Polen, wo der Staatssozialismus das Vertrauen in seine wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit schon weit vor 1989 gründlich verspielt hatte.[2] Die Wahlkampfrhetorik westdeutscher Politiker tat ein Übriges, die optimistischen Erwartungen vieler Ostdeutscher zusätzlich zu schüren – bis diese durch die wirtschaftliche Realität der Transformation umso bitterer enttäuscht werden sollten.

Es ist zwar nicht von der Hand zu weisen, dass dieser tiefe Fall materiell durch milliardenschwere Transferzahlungen abgefedert wurde, von denen man anderswo im östlichen Europa nur träumen konnte. Die immateriellen Wunden, die die abrupte Peripherisierungs- und Deklassierungserfahrung in Ostdeutschland gerissen hat, waren auf diese Weise aber nicht zu heilen. Der Mensch lebt eben nicht vom Brot allein.

 

Europäische Geschichte, eastern style

Die ostdeutsche Transformationsgeschichte im ostmitteleuropäischen Kontext zu betrachten, schärft also zum einen den Blick für die enorme Bedeutung vermeintlich „weicher“, kultureller Faktoren für die gesellschaftlichen Folgewirkungen der Transformation. Während die Transformationsverlierer in Ostdeutschland trotz allem auf vergleichsweise gute soziale Sicherheitsnetze zählen konnten, waren kollektive und individuelle Erfahrungen von Deklassierung und Kontrollverlust hier besonders schwerwiegend. Die sichtbare Präsenz neuer, aus Westdeutschland importierter Eliten führte den Ostdeutschen den Verlust an lebensweltlicher Handlungs- und Deutungsmacht zudem viel greifbarer vor Augen, als das in den östlichen Nachbarländern der Fall war.

Im ostmitteleuropäischen Vergleich wird zum anderen deutlich, dass viele Probleme der ostdeutschen Transformation nicht auf vermeintliche Schrullen der „Ossis“ zurückzuführen waren, sondern aus grundsätzlichen Widersprüchen der doppelten Transformation von der kommunistischen Diktatur zur parlamentarischen Demokratie und von der Plan- zur Marktwirtschaft herrührten. Auch andere Länder des östlichen Europas hatten mit ihnen zu kämpfen; in Ostdeutschland traten sie aufgrund des einzigartigen Tempos und der Radikalität der Peripherisierungserfahrung bloß früher und schärfer zutage. So sollte sich etwa die millionenfache Abwanderung nach Westdeutschland in den ersten Jahren nach dem Wegfall der innerdeutschen Grenze später auf ähnliche Weise in den inneren Peripherien des östlichen Europas wiederholen – mit allen negativen Folgen für die Selbstwahrnehmung der Zurückgebliebenen, die gerade in ländlichen Regionen den Eindruck gewinnen mussten, von der Jugend, den Frauen und von der Zukunft verlassen worden zu sein.

Ostdeutschland als Teil eines weiteren osteuropäischen Zusammenhangs zu verstehen, beugt zum dritten auch einer Exotisierung des Ostens insgesamt vor. Denn es bietet eine geeignete komparative Basis, um grundsätzliche Fragen an das prekäre Verhältnis zwischen Kapitalismus und liberaler Demokratie zu richten, die sonst meist ungestellt bleiben. Das Bewusstsein, dass die Schwierigkeiten der vielbeschworenen „inneren Einheit“ im Kern nichts anderes als europäische Schwierigkeiten im Kleinen waren (und sind), mag auch helfen, asymmetrische Zentrum-Peripherie-Beziehungen innerhalb der Europäischen Union zu problematisieren. Dass illiberale und rechtspopulistische Strömungen keineswegs nur in Ostdeutschland und Ostmitteleuropa, sondern auch in anderen Regionen des globalen Westens auf dem Vormarsch sind, deutet jedenfalls darauf hin, dass die Erfahrungen des Ostens mit Deindustrialisierung, Peripherisierung und Deklassierung weit mehr als nur regionalgeschichtlich relevant sind.

Wer die Transformationsgeschichte Ostdeutschlands in ihrem ostmitteleuropäischen Kontext betrachtet, entgeht somit der Gefahr, diese als bloße Fortsetzung einer partikularen DDR-Geschichte zu begreifen. Stattdessen bietet sich die Chance, mit der Transformation des ehemaligen Ostblocks in eine Semi-Peripherie des globalisierten Kapitalismus den paradigmatischen Schauplatz eines fundamentalen ökonomischen und sinnweltlichen Bruchs von europäischer Relevanz zu untersuchen. Eine zeithistorische Forschung, die auch an der Genealogie der Gegenwart interessiert ist, sollte sich diese Chance nicht entgehen lassen.


[1] Siehe die Projektbeschreibung von Jessica Elsner: Arbeitsverhältnisse, Geschlecht und soziale Ungleichheit im Automobilbau der DDR (Teilprojekt im Rahmen des Promotionskollegs Soziale Folgen des Wandels der Arbeitswelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts); vgl. ähnlich auch Birgit Müller: Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Ethnologische Erkundungen in ostdeutschen Betrieben. Frankfurt/Main 2002, S. 18f., 133f., [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].
[2] Siehe dazu Wolfgang Engler: Von der arbeiterlichen Gesellschaft zur Marktwirtschaft. Der Umbruch der Arbeitswelt im Osten. In: Martin Sabrow / Alexander Koch (Hg.): Experiment Einheit. Zeithistorische Essays. Göttingen 2015, S. 75-93.

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Der Westen des Ostens

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Ostmitteleuropäische Perspektiven auf die postsozialistische Transformation in Ostdeutschland

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