Neue Perspektiven in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts

Am 6. Dezember wird Timothy Snyder der Hannah-Arendt-Preis im Bremer Rathaus verliehen. Sein Buch „Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin“, das 2010 in den USA und 2011 in deutscher Übersetzung erschien, hat die Geschichtsschreibung nachhaltig verändert.
Erstmals hat ein Historiker explizit die Massenmorde des nationalsozialistischen und stalinistischen Regimes in Beziehung gesetzt und jene ostmitteleuropäische Region von Zentralpolen, der Ukraine und den baltischen Staaten bis Weißrussland in den Mittelpunkt gestellt, in der von 1917 bis 1947/48 etwa 14 Millionen Menschen starben, keine Soldaten, sondern wehrlose Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder – die „Bloodlands“.

Bereits der sowjetische Bürgerkrieg, der von antisemitischen Pogromen und Hungerkatastrophen begleitet war, kostete Hunderttausende das Leben, Millionen Menschen flohen, wurden deportiert oder vertrieben. Der Entschluss, die Sowjetunion rasch zu industrialisieren, konnte nur verwirklicht werden, wenn man die Bauern brutal ausbeutete und die landwirtschaftliche Produktion unter staatliche Kontrolle stellte, um mit dem Export von Getreide den Kauf von Maschinen zu finanzieren. Die Zwangskollektivierung führte Anfang der dreißiger Jahre in der Ukraine, Kasachstan, im Nordkaukasus und anderen Gebieten zu einer ungeheuren Hungersnot, in der nach heutigen Schätzungen allein in der Ukraine über drei Millionen Menschen, insgesamt etwa sechs Millionen starben. Im „Großen Terror“ der Jahre 1937/38 wurden über 700.000 Menschen ermordet und wiederum Millionen deportiert und in den Zwangsarbeitslagern des Gulag interniert.

Der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 bildet bei Snyder die zentrale Achse, lassen sich doch von hier aus die gemeinsamen imperialen Ziele sowie die ebenbürtige Mordpraxis in den jeweiligen besetzten Gebieten klar belegen. Beide Regime okkupierten nicht nur, sondern annektierten, wollten ihren Teil Polens unterwerfen, ausbeuten und langfristig in das eigene Imperium integrieren. NS-Deutschland annektierte die westpolnischen Gebiete, um sie zu „germanisieren“. SS, Polizei und volksdeutsche Milizen ermordeten die polnische Führungsschicht - Pfarrer, Lehrer, Ärzte, politische Funktionäre. Die polnischen Juden sollten in das sogenannte Generalgouvernement vertrieben werden, nicht-jüdische Polen gleichermaßen, um ihre Wohnungen und Höfe den aus dem Baltikum und der Sowjetunion hereinströmenden Volksdeutschen zur Verfügung zu stellen.

Ähnlich ging die Sowjetunion in Ostpolen vor. Die polnische Elite wurde erschossen oder deportiert. Der systematische Mord an rund 15.000 polnischen Offizieren, die vor den deutschen Truppen im Osten Zuflucht gesucht hatten, sollte die polnische Armee buchstäblich enthaupten. Eine der drei Exekutionsstätten, Katyn, ist bis heute der Erinnerungsort für dieses Massenverbrechen geblieben.
Dieser polnische „Bias“ lässt Snyder mitunter blind werden gegenüber dem polnischen Antisemitismus. Das Massaker an den Juden in Jedwabne 1941 kommt in seinem Buch nicht vor und die zentrale Stelle, die die imperiale Teilung Polens zwischen NS-Deutschland und stalinistischer Sowjetunion bei Snyder einnimmt, überschattet zu sehr die Dimensionen der Massenmode, die mit dem Angriff auf die Sowjetunion einsetzten. Schon in den Planungen kalkulierte die NS-Führung den Tod von Millionen Menschen. „Der Krieg ist nur weiterzuführen“, hielt eine Runde von Staatssekretären im Mai 1941 fest, „wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Russland ernährt wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.“ Städte wie Leningrad, Kiew, Charkow sollten ausgehungert werden, damit die Wehrmacht in keinem Fall die Versorgung der städtischen Bevölkerung hätte übernehmen müssen. Die sowjetischen Kriegsgefangenen überließ die Wehrmacht zynisch ihrem Schicksal in den Lagern; von den insgesamt drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschem Gewahrsam starben bis Anfang 1942 zwei Millionen an Hunger, Krankheiten und Erschöpfung.
Bis Ende des Jahres 1941 erschossen die Einsatzgruppen der SS und der Polizei, unterstützt von der Wehrmacht, in den besetzten sowjetischen Gebieten eine Million Juden, zunächst die Männer in wehrfähigem Alter, dann auch Frauen, Kinder, Greise. Aber auch Roma und Sinti oder psychisch Kranke fielen den Mordkommandos zum Opfer.

So sehr sich der Einsatz von Hunger als Waffe gegen die Zivilbevölkerung bei beiden Regimen glich, so erkennbar sind doch zugleich die Unterschiede. Die Millionen Hungertoten in der Sowjetunion Anfang der 1930er Jahren waren die Folge – zweifellos voraussehbar und von der stalinistischen Führung bewusst in Kauf genommen – einer brutalen Industrialisierungspolitik auf Kosten der ländlichen Bevölkerung. Die Millionen Hungertoten 1941/42 waren seitens der deutschen Führung von Anfang an beabsichtigt. Sie sollten sterben, damit deutsche Soldaten und die deutsche „Volksgemeinschaft“ ausreichend ernährt werden konnten.

Darin liegt die analytische Schwierigkeit. Nimmt man Osteuropa als zentralen Ort der Massenmorde genauer in den Blick, verändern sich die bislang eindeutigen Zuordnungen. Zwar war die jüdische Bevölkerung zweifellos das Ziel eines systematischen Massenmords, aber auch Roma, Polen, Ukrainer, Weißrussen, Litauer und andere fielen der Vernichtungspolitik zum Opfer.
Auch die Täter vervielfachen sich. Obwohl außer Zweifel steht, dass die deutsche Vernichtungspolitik für die Massenmorde verantwortlich war, so war ihre Verwirklichung nicht ohne die Mittäterschaft der einheimischen Bevölkerung möglich. Das deutsche Besatzungspersonal war viel zu gering, um die großen sowjetischen Gebiete allein beherrschen zu können. Die Motive von Einheimischen, sich an der Besatzungsherrschaft zu beteiligen, waren durchaus unterschiedlich. Der Raub am jüdischen Vermögen spielte ebenso eine gewichtige Rolle wie das Kalkül, im Rahmen einer eigenen Nationalstaatsbildung eine ethnisch „reine“, „judenfreie“ Nation zu schaffen, oder auch die Möglichkeit, in den Gewaltverhältnissen eine Chance des eigenen Überlebens durch das Mitmachen zu suchen und damit auch Gelegenheiten des Aufstiegs und Machtzuwachses zu ergreifen.

Dan Diner hat durchaus recht, wenn er in seiner Kritik an Snyder feststellt, dass dort Auschwitz nicht mehr den zentralen Stellenwert einnimmt. Doch er irrt, wenn er dies als eine Einebnung der Gewalttaten bezeichnet. Der systematische Massenmord an den europäischen Juden in den Vernichtungsstätten Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Belzec bleibt, wie Richard von Weizsäcker 1985 in seiner viel beachteten Rede festgehalten hat, „beispiellos“. Aber eine Gegenüberstellung von nationalsozialistischem Genozid an den europäischen Juden auf der einen und Massengewalt im 20. Jahrhundert auf der anderen Seite, wie sie Dan Diner fordert, verstellt die Fragen, die eben eine solche Geschichte der Gewalt aufwirft.

Obwohl Snyders dramatische Fokussierung auf die „Bloodlands“ andere Gewalträume in der Welt, die – setzt man die Todesrate ins Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung – mindestens ebenso mörderisch waren wie diese Region in der Mitte des 20. Jahrhunderts, eröffnet doch der spatial turn neue Perspektiven auf Gewalt. Neben staatlichen Akteuren wie das Militär, die die Analysen bestimmen, rücken lokale Gruppen stärker in den Vordergrund, die ihrerseits aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus zur Eskalation der Gewalt beigetragen haben. Der Blick auf den Raum weitet auch die Zeit. Snyders Buch endet nicht 1945, sondern bezieht die Vertreibungen von Deutschen, Polen, Ukrainern zum und nach dem Ende des Krieges gleichfalls ein.

Die Vielzahl von Beweggründen, Gewalträume zu öffnen, aber auch wieder zu schließen, durchbricht jedwede monokausale Erklärung der Massenmorde des 20. Jahrhunderts. Snyders Buch wendet sich explizit gegen die Abtrennung des Mordes an den europäischen Juden von den anderen Jahrhundertverbrechen. Fragen nach Situationen, Dynamiken, Akteuren, vor allem nach der Gesellschaft, aus der heraus Gewalt entsteht, verübt und legitimiert wird, bestimmen die neuere wissenschaftliche Debatte. 

Die analytische Schneise, die Snyder mit seinem Buch in die bisherigen, mittlerweile erstarrten Analysemuster schlägt, ist beachtlich und wird zahlreiche andere Studien folgen lassen. Es verbindet auf beeindruckende Weise west- und osteuropäische Geschichte, wie sie bislang nicht unternommen worden ist. Die große Resonanz, die sein Buch findet, zeigt, dass es zur rechten Zeit kommt und die Bereitschaft erhöht, die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts unter neuen, produktiven Perspektiven zu erforschen. Die Shoah gehört in diesen Gewaltzusammenhang des 20. Jahrhunderts wie die stalinistische Politik und die europäische koloniale Gewalt in Afrika, Asien und Lateinamerika – als vielfach verflochtene, aufeinander Bezug nehmende, aber eben keineswegs gleichzusetzende Geschichte.

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Neue Perspektiven in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts

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Timothy Snyder erhält den Hannah-Arendt-Preis

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