Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Sobibor: Die Namen zahlreicher Vernichtungslager der Nationalsozialisten sind generationsübergreifend fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Es gibt kaum jemanden, der den Klang ihrer Namen nicht mit dem Leid und dem grausamen Tod von Millionen Opfern der nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungspolitik verbindet. Auch die sich überwiegend im damaligen Reichsgebiet befindlichen Konzentrationslager wie Dachau, Buchenwald oder Sachsenhausen sind in der öffentlichen Wahrnehmung sehr präsent. Es gehört jedoch zum Charakter der nationalsozialistischen „Bürokratie des Schreckens“, dass innerhalb des Lagersystems eine Kategorisierung der einzelnen Lager anhand ihrer spezifischen Funktion vorgenommen wurde. So existierten auch weniger bekannte KZ-Außenlager, Arbeitserziehungslager, Ghettos, Kriegsgefangenenlager und Zivilarbeiterlager. Ohne eine Bewertung des individuell erlittenen Leides vornehmen zu wollen, ist es dennoch nötig, auf diese Differenzierung hinzuweisen. Die Behandlung der Inhaftierten durch die Nationalsozialisten unterschied sich, entsprechend der Funktion des jeweiligen Lagers, teilweise beträchtlich. Innerhalb einer Lagerkategorie gab es im Umgang mit den Gefangenen eine nach der menschenverachtenden Rassenideologie ausgerichtete Hierarchisierung der Opfergruppen. Letztlich war die Nationalität beziehungsweise die imaginierte „Rassenzugehörigkeit“ das entscheidende Kriterium für den Umgang der Wachmannschaften mit den Häftlingen. Dies äußerte sich vor allem in großen Unterschieden bei der Unterbringung, den Verpflegungsmengen, den Arbeitseinsätzen und der medizinischen Versorgung. Gemeinsam war allen Lagerkategorien die Verpflichtung der Insassen zur Arbeit. Insgesamt hatten Schätzungen zufolge zwischen 1939 und 1945 ungefähr 12 Millionen Menschen unter der Aufsicht von SS und Wehrmacht im Deutschen Reich Zwangsarbeit zu verrichten.[1]
Einen speziellen Fall von Zwangsarbeit stellt die Ausbeutung der Kriegsgefangenen des Deutschen Reiches unter Missachtung jeglicher internationaler Konventionen dar. „Stalag X B“[2] ist der etwas kryptisch anmutende und im Allgemeinen wenig geläufige Name eines dieser Lager. Er bezeichnete während des Zweiten Weltkrieges das Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager B im Wehrkreis X in Sandbostel, nordöstlich von Bremen. Hunderttausende Kriegsgefangene, Militär- und Zivilinternierte und später auch Tausende KZ-Häftlinge aus insgesamt 55 Nationen wurden dort zunächst unter dem Oberkommando der Wehrmacht gefangen gehalten.
Von 1939 bis 1944 war das Lager der Wehrmacht unterstellt. Kriegsgefangene und Zivilinternierte waren nach Nationalität und Dienstgrad in einzelnen Lagerbereichen interniert, jeglicher Kontakt untereinander war verboten. Amerikanische und britische Gefangene wurden überwiegend entsprechend der Genfer Konventionen behandelt und erhielten bis zum Zusammenbruch der Versorgungslinien gegen Ende des Krieges zahlreiche Hilfspakete des Internationalen Roten Kreuzes. Westeuropäischen Kriegsgefangenen, beispielsweise aus Frankreich oder Belgien, und anderen hochrangigen Militärs wurden zumindest einige der Rechte Kriegsgefangener zugestanden.
Die Situation für sowjetische Kriegsgefangene war besonders schlecht, die hygienischen Zustände katastrophal. Die Gefangenen erhielten kaum Nahrung, viele starben an Hunger, Entkräftung, Fleckfieber oder Tuberkulose. Die medizinische Versorgung wurde ihnen komplett verweigert. Die unmenschliche Unterbringung der Häftlinge trug ebenfalls zur hohen Sterblichkeitsrate bei: Eine Baracke war für 250 Gefangene ausgelegt, wurde aber teilweise mit bis zu 360 Menschen überbelegt. Der Begriff „Sterbelager“, der von vielen Überlebenden des „Stalag X B“ in Sandbostel verwendet wird, macht die Situation mehr als deutlich.[3]
Im Jahr 1944 wurde das Lager schließlich der SS unterstellt, was kurz vor Kriegsende den Transport von Häftlingen aus dem KZ Neuengamme bei Hamburg nach Sandbostel ermöglichte. Anfang April 1945 erreichten die ersten Gefangenen aus dem gerade geräumten KZ und seinen elf Außenlagern das „Stalag X B“. Auf Todesmärschen ohne Lebensmittelreserven kreuz und quer durch das Deutsche Reich verschleppt, starb oft schon die Hälfte der Gefangenen, bevor sie ihr Ziel erreichten. Ungefähr 9.500 KZ-Häftlinge wurden letztlich in Sandbostel im „Marlag“[4], einem abgezäunten und streng bewachten Lager im Lager interniert. Es gab weder Latrinen noch Wasser, Nahrung oder medizinische Versorgung. Die KZ-Häftlinge wurden sich weitgehend selbst überlassen. Aufgrund dieser furchtbaren Zustände grassierten bald Typhus und andere Epidemien.
Die Wachleute schossen auf jeden, der das „Marlag“ verlassen wollte. Auch auf Kriegsgefangene, die ihre eigene, karge Ration mit den Eingeschlossenen teilen wollten, wurde geschossen. Am 20. April 1945 kam es zu einer „Hungerrevolte" der Häftlinge. Sie brachen aus dem „Marlag“ aus und versuchten sich unter den Kriegsgefangenen in den anderen Lagern zu verstecken oder flohen ins Umland. Einige gelangten in die Lagerküche und plünderten die Vorräte. Da ihre Körper durch die Transporte und die Zeit im Lager ohne Lebensmittelversorgung extrem geschwächt und unterernährt waren, konnten sie die Nahrung nicht verdauen, viele der Häftlinge starben.[5] Außerdem wurden einige hundert Aufständische von den Wachmannschaften getötet.
In derselben Nacht brachte die SS etwa 500 Häftlinge nach Norden, und der bisherige Kommandant Oberst Lühe, die SS-Mitglieder und einige Wehrmachtsangehörige flohen. Die anderen Wachmannschaften blieben bis zur Befreiung des Lagers und gingen anschließend in britische Gefangenschaft. Nach der Hungerrevolte erlaubte die verbliebene deutsche Lagerleitung in der für sie ausweglosen Situation, dass die Kriegsgefangenen die Obhut über die KZ-Häftlinge übernahmen. 7.000 KZ-Häftlinge und 14.000 Kriegsgefangene erlebten so gemeinsam am 29. April 1945 die Befreiung durch Soldaten der britischen Armee. Dennoch starben auch nach der Befreiung viele hundert der ausgemergelten KZ-Häftlinge an den Folgen von Unterernährung und Krankheiten.
Heute ist das „Marlag“ ein Maisfeld, dessen Eigentümer den Überlebenden das Anbringen eines Gedenkschildes verweigert. Die Aufarbeitung der Geschichte des Lagers in Sandbostel und das Gedenken an die Opfer gestalteten sich viele Jahre problematisch beziehungsweise fanden lange nicht statt.
Ab 1948 wurde das Lager vom Justizministerium Niedersachsen als Justizanstalt genutzt, vier Jahre später vom Bundesvertriebenenministerium übernommen und zur Unterbringung von männlichen, jugendlichen DDR-Flüchtlingen benutzt.
Zwischen 1954 und 1956 wurden die toten KZ-Häftlinge, die zunächst in mehreren Massengräbern um das „Stalag X B“ herum bestattet worden waren, exhumiert und auf den Lagerfriedhof, der in der örtlichen Presse stets irreführend als „Ausländerfriedhof“ bezeichnet wurde, umgebettet.
Eine befremdliche Episode ereignete sich 1956: Das kurz nach Kriegsende errichtete sowjetische Ehrenmal auf dem Lagerfriedhof in Sandbostel wurde im Auftrag der niedersächsischen Landesregierung gesprengt. Die Zahl von 46.000 russischen Toten erschien dem Kreistag und vielen Anderen in der Region „übertrieben hoch“.[6] Spätere Forschungen ergaben nahezu identische Opferzahlen und machen den Versuch, die Geschichte des Lagers zu verharmlosen oder zu verschweigen, mehr als deutlich.
Einige Jahre später übernahm die Bundeswehr den noch vorhandenen Bereich des ehemaligen Lagers und nutzte die Baracken für die Lagerung von Sanitätsmaterial. Das Lagergelände wurde schließlich privatisiert und 1974 in das Gewerbegebiet „Immenhain“ mit Straßenmeisterei, Holzhandlung und Ferienhof umgewidmet. Zeitweise existierten dort auch eine Hundepension, ein Militaria- und ein Baustoffhandel. Auch dies war ein Versuch, das Lager aus der öffentlichen Wahrnehmung endgültig zu tilgen.
Erst Anfang der 1980er Jahre wurde das Lager erstmals in der Zeitschrift ehemaliger französischer Kriegsgefangener „Le Lien“ erwähnt, da die Geschichte des Lagers in der Jubiläumsschrift „400 Jahre Dorf Sandbostel“ stark verklärt dargestellt worden war. Anfang der neunziger Jahre veröffentlichten die aus der Region stammenden Geschichtslehrer Werner Borgsen und Klaus Volland die erste Monographie zur Geschichte des Lagers. Ende 2004 wurde die Gedenkstätte „Lager Sandbostel“ gegründet; sie erwarb in den folgenden Jahren insgesamt 3,2 Hektar des ehemaligen Lagergeländes mit 11 erhaltenen historischen Gebäuden, um dort eine Dokumentations-, Gedenk- und Begegnungsstätte aufzubauen. Der historische Gebäudebestand wurde saniert, zwei Gebäude zu Ausstellungsräumen umgestaltet und eine Dauerausstellung zur Geschichte und Nachkriegsnutzung des „Stalag X B“ erarbeitet. Im April 2013 wurde die neugestaltete Gedenkstätte Lager Sandbostel schließlich eröffnet.
(Die Rechte sämtlicher im Themenschwerpunkt verwendeten Fotos liegen bei Sarah Mayr.)
Die Redaktion von Zeitgeschichte-online bedankt sich bei dem Projektleiter der Gedenkstätte Lager Sandbostel, Andreas Ehresmann, für die freundliche Zusammenarbeit und die Bereitstellung von Materialien aus dem Archiv der Gedenkstätte. Die kommenden Veranstaltungen der Gedenkstätte Lager Sandbostel können Sie dem Halbjahresprogramm entnehmen.
Digitaler Rundgang Gedenkstätte Lager Sandbostel:
[1] Vgl. Das Portal zur Zwangsarbeit im NS-Staat des Bundesarchivs.
[2] „Stalag“ ist die Abkürzung für Stammlager. Außerdem gab es beispielsweis „Oflags“ (Offizierslager) oder „Dulags“ (Durchgangslager). Neueste Forschungen gehen von circa 1.000 Kriegsgefangenenlagern der Wehrmacht aus.
[3] Roger Cottyn und Ernest Sharrock, zwei Überlebende des Stalags, sprechen davon in ihren Interviews. Sergej Litwin erzählt in seinem Interview von der Situation der russischen Kriegsgefangenen.
[4] Das „Marlag“ (Marinelager) war vorher das Lager für die Besatzungen britischer Kriegsschiffe gewesen.
[5] Raymond Gourlin und Pascal Vallicioni berichten davon.
[6] Werner Borgsen und Klaus Volland: Stalag X B Sandbostel. Zur Geschichte eines Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglagers in Norddeutschland 1939-1945, Bremen 1991, S. 248.
Verleugnete Erinnerung
Das Kriegsgefangenenlager Sandbostel in Niedersachsen