Westdeutschland 1988 – Opium für’s Volk

„Die Straßen sind überschwemmt von Drogen. Es gibt sie gegen Depressionen und gegen Schmerzen. Wir haben sie alle genommen. Wir hätten sogar Vitamin C gespritzt, wenn’s verboten gewesen wär.“
Trainspotting, 1996

Im Jahr 1988 stellt die Polizei der Bundesrepublik Deutschland 11.350 kg Cannabis, 496 kg Kokain und 537 kg Heroin sicher – im Vergleich mit den vorangegangen Jahren handelt es sich um Rekordzahlen.[1] Was wiederum in Trainspotting über die Drogenszene Edinburghs der späten 1980er Jahre erzählt wird, korrespondiert mit zeitgleichen Entwicklungen in vielen anderen europäischen Großstädten[2] – so auch in Hamburg, (West-)Berlin oder Frankfurt am Main. Wer das gesamte Spektrum an Rauschmitteln erfassen möchte, die 1988 im Umlauf sind, der findet sich schnell zwischen unzähligen Fachbegriffen aus der Psychologie, Chemie, Medizin und Pflanzenkunde wieder: Von „A“ wie Amphetamin bis „T“ wie Tranxilium ist alles vertreten – ob pflanzlich oder chemisch, legal oder illegal, harmlos oder lebensgefährlich.[3] Aber was wird angesichts dieser Vielfalt 1988 unter dem Begriff „Droge“ verstanden und welche Substanzen sind in diesem Jahr in der Bundesrepublik besonders präsent?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), 1948 als Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Genf gegründet, subsumiert Anfang der 1990er Jahre all jene Substanzen unter Drogen, „[…] die, wenn eingenommen, Einfluss auf mentale Prozesse [nehmen], zum Beispiel auf Wahrnehmung oder Emotion“.[4] Dazu zählen eben nicht allein Rauschgifte aller Art, sondern darüber hinaus auch „Arznei- und Giftstoffe“, wie der Kriminalhauptkommissar des Bundeskriminalamtes Wiesbaden, Peter Tresz, in seinem 1988 erscheinenden Leitfaden für Instrukteure und Ermittlungsbeamte auf dem Gebiet der Rauschgiftbekämpfung darlegt. Dies umfasst folglich auch Stoffe wie Koffein, Alkohol oder Nikotin. Ausschlaggebend ist jeweils der Aspekt der Illegalität – als illegal werden Stoffe zum einen aufgrund ihrer Schädlichkeit, zum anderen infolge einer gesellschaftlichen und kulturellen Intoleranz eingestuft.[5] Da die Vielfalt der Substanzen nahezu unüberschaubar ist, rücken im Folgenden die illegalen Drogen Cannabis, Kokain und Heroin ins Zentrum der Untersuchung. Sie stellen drei unterschiedliche Drogentypen dar, die im Grad der Abhängigmachung und der durch sie hervorgerufenen Gefährdung für den Körper variieren.

Im so genannten „Frühwarnsystem zur Erfassung von Veränderungen der Mißbrauchsmuster chemischer Substanzen in der Bundesrepublik“ (FWS) werden von 1976 bis 1990 pro Jahr zwischen 700 und 900 Patienten mit Missbrauchsproblemen in stationären Einrichtungen einer intensiven Befragung unterzogen.[6] Daraus ergibt sich: Aufgrund der besseren Verfügbarkeit beschränkt sich der Cannabis-Konsum in der Bundesrepublik Deutschland 1988 nahezu ausschließlich auf „Haschisch“, worunter gemeinhin das Harz der Hanfpflanze (Cannabis) verstanden wird.[7] Es ist in diesem Jahr das meist konsumierte Cannabis-Präparat in der Bundesrepublik: Rund 76,5% aller zwischen 1976 und 1990 im Frühwarnsystem Befragten konsumieren zu Beginn ihrer Missbrauchskarriere Haschisch. Entsprechend kommt der Substanz besondere Aufmerksamkeit als „Einstiegsdroge“ zu.[8] Kokain dagegen zählt zu den chemischen Drogen und ist ein aus der Kokapflanze gewonnenes Alkaloid. Da es als Pulver auf den Markt gelangt, wird es häufig geschnupft, kann allerdings auch gespritzt oder inhaliert werden. Seine Wirkung hält nur kurz an. Es erzeugt weniger eine körperliche als eine psychische Abhängigkeit. Als gefährlicher werden dagegen die ähnlichen Substanzen „Crack“ oder „Base“ eingestuft, welche erstmals im Jahre 1986 in Deutschland registriert werden konnten. Auffällig an den Drogenkonsumenten in der BRD ist die häufige Kombination aus Kokain- und Heroinmissbrauch.[9] Heroin gilt als am gefährlichsten, wird im Frühwarnsystem zugleich als die am meisten missbrauchte Droge aufgeführt. Kein Wunder, erzeugt ihr Konsum doch in gravierendem Maße körperliche und psychische Abhängigkeit, die die Konsumenten nicht selten in den Strudel der Beschaffungskriminalität treiben. Das auf der Straße erhältliche Heroin ist in der Regel ein Mischpräparat, das keine konstanten Stoffe beinhaltet und häufig mit anderen Substanzen verdünnt wird.[10]

1988 wurden jedoch nicht nur in der Bundesrepublik Drogen in Rekordhöhe sicher gestellt, auch die American Drug Enforcement Agency (DEA) kann einen Coup verzeichnen: Sie verhaftet den Großdealer Howard Marks, der zu 25 Jahren Haft verurteilt wird, abzusitzen im „Terre Haute Federal Correctional Complex“, einem Hochsicherheitsgefängnis im US-Bundesstaat Indiana.[11] Marks, der unter anderem einen Abschluss zweiten Grades in Physik am Balliol College in Oxford erwarb, schmuggelt in seiner Karriere als Dealer Cannabisprodukte in großem Stil nach Amerika und Europa.[12] Sein Lebenslauf ist gespickt mit Anekdoten rund um den Cannabis-Konsum. Während Marks, der bereits zuvor regelmäßig ins Visier der Ermittler gerät, seine Haftstrafe antritt, erhält der Heroinabhängige Jan Christopher, 1951 in Hamburg geboren, in der Bundesrepublik erstmals Methadon als Heroinersatz.[13] Auch er dealte zuvor mit Cannabis-Produkten, war zu seiner ,besten Zeit‘ in der Elbe-Metropole als „Haschprinz“ bekannt. Doch anders als bei Marks endet seine Drogenkarriere nicht im Gefängnis, sondern mit der Diagnose AIDS. Aber was muss alles geschehen, bis sich ein Drogenabhängiger im Jahr 1988 dazu entschließt, im Rahmen einer Therapie kontrolliert Methadon einzunehmen, um seinen Körper wieder zu entwöhnen? Schauen wir uns dafür den typischen Verlauf einer Drogenkarriere an. Diese beginnt Ende der 1960er Jahre und steuert zwei Dekaden später auf einen unrühmlichen Höhepunkt zu.

Wie nicht wenige Heroinabhängige wächst Jan Christopher in „gutem Hause“ auf – die Eltern der meisten drogenabhängigen Jugendlichen sind Angestellte oder auch Selbstständige.[14] Nach der Schule möchte er eine Ausbildung beginnen oder studieren. Im Alter zwischen 14 und 17 Jahren probiert er erstmals Cannabis.[15] Er raucht es in einem Joint, wahrscheinlich zusammen mit gleichaltrigen Freunden – möglicherweise aus Neugier, vielleicht aber auch aus Trotz gegenüber seinem Elternhaus. Da der erste Joint die erhoffte Wirkung verfehlt, versucht er es noch einmal – dieses Mal mit dem gewünschten Ergebnis. Nur wenige Wochen später konsumiert er bereits regelmäßig Haschisch.[16] Der Drogenmissbrauch normalisiert sich, die Hemmschwelle, auch andere, härtere Drogen auszuprobieren, sinkt. Während er dabei ist, sich seine wöchentliche Ration Haschisch zu beschaffen, erzählt ihm eine neue Bekanntschaft von eigenen Heroin-Erfahrungen. Die Neugier wächst, die Angst vor möglichen Nebenwirkungen tritt angesichts des schillernden Erfahrungsberichtes zurück. Er spart Geld zusammen und kauft ein 1-Gramm-Briefchen Heroin für 300,- DM.[17] Da sich die eigenen Interessen und Wertvorstellungen schon lange nicht mehr mit denen der Eltern decken, zieht Jan aus. Die Schule schließt er allerdings noch ab, wenngleich mehr schlecht als recht. Bereits nach wenigen Wochen verliert der Haschischkonsum an Reiz. Das Heroin steht zunehmend im Vordergrund. Um sich den Konsum zu finanzieren, fängt Jan mit dem Dealen an und vertreibt fortan Haschisch auf der Straße. Er wird erwischt und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.[18] Aus der Haft entlassen, beginnt Jan eine Lehre, bricht diese jedoch schnell wieder ab. Er verliert sich in einem Strudel aus Beschaffungskriminalität, Besuchen in Therapiezentren und abgebrochenen Berufsausbildungen. Im Jahr 1983 landet er erneut im Gefängnis. Wenngleich Heroin dort nur schwer zu beschaffen ist, ergeben sich Möglichkeiten zum Konsum. Auch das dafür nötige Fixerbesteck ist nicht einfach zu organisieren, daher teilen sich Zellengenossen Schuss und Nadel, ohne dabei an die gesundheitlichen Konsequenzen zu denken.[19] Dass er sich auf diese Art mit AIDS ansteckt, wird Jan erst viel später erfahren. Er beginnt erneut eine Therapie. Wie zuvor führt der „kalte Entzug“ nicht zum Erfolg. 1988 erhält er schließlich die Ersatzdroge Methadon.[20]

Einige Faktoren dieser recht typischen Drogenkarriere für die 1980er Jahre sind dabei besonders hervorzuheben: Der Betroffene muss nicht zwangsweise aus einem sozial schwachen Umfeld kommen. In der Regel gilt Cannabis als Einstiegsdroge; die Konsumenten sind eher dazu geneigt, auch andere, härtere Drogen auszuprobieren. Mit der Abhängigkeit insbesondere von Heroin wächst die Verstrickung in kriminelle Machenschaften – in den meisten Fällen handelt es sich dabei um „Beschaffungskriminalität“. Häufig geht eine AIDS- oder Hepatitis-Erkrankung mit der Abhängigkeit einher. Der zunehmende Drogenkonsum und die damit verbundene Kriminalität bereiten nicht nur staatlichen Behörden Probleme, sondern versetzen auch die Bevölkerung in Aufregung. Diverse Reportage-Reihen und Ratgeberliteratur prägen die mediale Berichterstattung des Jahres 1988.

„Alle drei Minuten wird eine Wohnung leergeräumt, alle 45 Sekunden ein Auto aufgebrochen. Die Täter sind [...] ,zum Großteil‘ Drogenabhängige.“[21]

Insgesamt 670 Drogentote sind in der offiziellen Statistik des Bundeskriminalamts für das Jahr 1988 verzeichnet. Hinzu kommen insgesamt 84.998 Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) und exakt 4.993 Fälle von direkter Beschaffungskriminalität.[22] Wie viele der weiteren registrierten Straftaten jedoch ebenfalls von Abhängigen begangen werden, ist nicht bekannt. Die Dunkelziffer wird jedoch als hoch eingeschätzt. Entsprechend intensiv und ausführlich berichtet die zeitgenössische Presse über den Drogenkonsum, Beschaffungskriminalität und AIDS-Infektionen. Zitate, wie das obige aus dem Spiegel, rechnen jede Straftat einem Drogenabhängigen zu und zeichnen dadurch das Bild einer Gesellschaft in Angst, die tagtäglich mit Drogentoten konfrontiert wird.

Die Furcht vor einer Infektion mit dem Immunschwäche-Virus wächst und wird zum Thema in der Berichterstattung, so beispielsweise in „Wer von uns dreien stirbt zuerst“, einem Artikel, der im Oktober in der Zeit erscheint. Das Kind zweier HIV-positiver Ex-Junkies hat das so genannte AIDS-Vollbild. Aufgrund der vielen Mythen um die hohe Ansteckungsgefahr, lassen andere Eltern ihre Kinder nicht mit dem Jungen spielen. Auch weitere Betroffene werden systematisch gemieden, bekommen anonyme Anrufe und Drohbriefe. Eine Umfrage zum Thema „Dürfen AIDS-kranke Frauen Kinder zur Welt bringen?“, reflektiert die Meinung prominenter Journalisten. Tagesthemen-Moderatorin Sabine Christiansen stuft das Risiko als zu hoch ein und Ruprecht Eser, Leiter des ZDF heute journals, plädiert in diesem Fall sogar für Abtreibung.[23] Die Illustrierte Quick wiederum berichtet über die 18-jährige Floristin Tina B., die irrtümlicherweise den Befund „HIV-positiv“ erhält. 56 Tage lang lebt sie mit der Fehldiagnose und ist geplagt von Selbstmordgedanken.[24] Schon zuvor hat ein mit Bibelversen theatralisch untermalter Artikel in der Süddeutschen Zeitung die Krankheit zur Seuche verteufelt und das Ganze mit dem apokalyptisch anmutenden Gemälde „Die Pest“ von Arnold Böcklin bebildert.[25] Der Spiegel-Artikel „Wer singt, kriegt eine Überdosis“ entfaltet dagegen ein Panorama aus Übergriffen Drogenabhängiger, die allesamt im Zusammenhang mit Beschaffungskriminalität stehen: Von Kaufhausdiebstahl bis Raubmord ist jede erdenkliche Straftat vertreten, illustriert mit Bildern von toten Konsumenten und verwüsteten Wohnungen.[26] Ein ähnliches Bild zeichnet eine Reportage über eine junge, drogenabhängige Frau in Frankfurt am Main.[27] Die Polizei wirkt machtlos, die Streetworker überfordert, das Ausmaß des Drogenmissbrauchs verheerend. Experten prophezeien „New Yorker Verhältnisse“. Die schonungslosen, ja mitunter drastischen Darstellungen finden auch jenseits der Mauer ihren Nachhall – nicht selten mit erhobenem Zeigefinger. Allerdings wird in der DDR nur den schlimmsten Fällen Beachtung geschenkt, wie Dealern, die Heroin an Schüler verschenken. Als Grund für die große Zahl an Drogensüchtigen führt der Journalist Wolfgang Much etwa im Januar des Jahres im Neuen Deutschland, wenig überraschend, die hohe Arbeitslosenquote und eine daraus resultierende Perspektivlosigkeit an – ohne dabei zu bedenken, dass die Erwerbslosigkeit nicht selten aus der Drogensucht resultiert.[28] Bereits 1981 veröffentlicht der ostdeutsche Journalist Peter Jacobs sein Buch Auf dem Regenbogen reitet der Tod, für dessen Recherche er durch die Bundesrepublik, Amerika und Südostasien reiste. Darin legt er bereits den später gängigen Grundtenor der DDR-Erzählungen über die westdeutsche Drogensucht fest, schreibt er doch der „kapitalistischen Gesellschaft“ die Schuld zu, sich die „Rauschgiftplage“ eingehandelt zu haben. Folglich müsse sie an den Konsequenzen leiden, die nur der „Preis der Komplizenschaft“ seien.[29]

Die westdeutsche Presse hingegen verbreitet allerdings nicht nur Schrecken, sondern thematisiert auch Erfolge in der Polizeiarbeit. Rauschgiftfahnder der Kriminalpolizei werden bei ihren Einsätzen durch München begleitet.[30] Andere Artikel leisten wiederum Aufklärungsarbeit, fassen beispielsweise die Diskussion um die Methadon-Vergabe zusammen oder informieren über mögliche Behandlungsmethoden. Ratgeberliteratur wie Else Meyers Hat ihr Kind Drogenprobleme? sollen Eltern helfen, die Drogensucht ihrer Kinder zu erkennen und damit umzugehen.[31] Auch Präventivmaßnahmen finden ihr mediales Echo – so die von der Kripo Baden-Württemberg veranstalteten „Infoparties“, in denen Rauschgiftfahnder als Showmaster auftreten und in lockerer Atmosphäre über Drogensucht informieren. In der AIDS-Aufklärung zeigt sich allerdings, dass die DDR der Bundesrepublik einen Schritt voraus ist. So berichtet der Stern von der in westdeutschen Klassenzimmern vorwiegend herrschenden Prüderie im Sexualkundeunterricht, die eine sachgemäße Aufklärung über Geschlechtskrankheiten und die Gefahr einer HIV-Infektion erschwere. In der DDR hingegen werde lockerer mit Sexualität umgegangen, folglich auch detaillierter aufgeklärt. Die Behörden fahren eine Doppelstrategie indem sie einerseits Kondome empfehlen, andererseits vor „leichtfertigen und flüchtigen Intim-Kontakten“ warnen.[32] Anlässlich der vielen erschreckenden Statistiken avancieren Rauschgift, AIDS und Kriminalität 1988 zu den „beliebtesten“ sozialen Themen der bundesrepublikanischen Presse. Da sich die Bundesregierung zunehmend mit aus der Drogensucht resultierenden Problemen konfrontiert sieht, intensiviert sie ihre Bemühungen, des Themas Herr zu werden.

„I want a drug free America – and this will not be easy to achieve. But I want to enlist the help of some people who are rarely included. Tonight I challenge the young people of our country to shut down the drug dealers around the world. Unite with us, work with us. ,Zero tolerance‘ isn’t just a policy, it’s an attitude.“[33]
George Bush, Acceptance Speech vom 18. August 1988.

Zwei Wochen, bevor George Bush in seiner Wahlkampfrede an die Jugend des Landes appelliert, kehrt Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth (CDU) von ihrer zehntägigen USA-Reise zurück. Konfrontiert mit den Methadon-Programmen der US-Regierung, kündigt sie gegenüber dem Spiegel an, sie wolle die Meinung der Bundesregierung in der Frage der Methadon-Abgabe an Heroinsüchtige neu überdenken.[34] Rita Süssmuth und der sie auf ihrer Reise begleitende Hermann Schnipkoweit, CDU-Sozialminister aus Niedersachsen, haben sich bereits von den Vorteilen der Therapie überzeugen lassen, doch der allgemeine Tenor in der bundesrepublikanischen Methadon-Diskussion ist noch ablehnend. Die so genannte Abstinenztherapie, in der sich der abhängige Patient dem „kalten Entzug“ unterzieht, bleibt die favorisierte Variante. Die Vergabe von Ersatzdrogen, die Substitutionstherapie, findet in Westdeutschland kaum Fürsprecher. Es gilt der allgemeine Konsens, die Therapie bekämpfe nicht die Sucht, sondern ersetze nur ein Mittel durch ein anderes, ja schmälere damit zudem die Therapiebereitschaft der Süchtigen. Darüber hinaus sei eine Ausweitung des illegalen Marktes zu erwarten, generell würden die Entzugssymptome bei Süchtigen überschätzt.[35] Doch über die 1970er und 1980er Jahre nimmt das Problem des Rauschgiftmissbrauchs in der Bundesrepublik immer größere Ausmaße an. Bei geschätzten 60.000 bis 100.000 Rauschgiftabhängigen steigt auch die Kriminalitätsrate stetig an. Anfang der 1980er Jahre finden sich schließlich mehr Abhängige im Strafvollzug wieder als in den Therapiezentren.[36] Dieser Zustand macht eine Überarbeitung der bisherigen Antidrogenpolitik und der gängigen Drogentherapien erforderlich. Unter dem Titel „Therapie statt Strafe“ soll das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) reformiert werden. Ziel ist es, „kleinen bis mittleren“ drogenabhängigen Straftätern die Chance zu einer Therapie einzuräumen, bei deren erfolgreichem Abschluss auf den Strafvollzug verzichtet werden soll.[37] Die Verantwortlichen erhoffen sich dadurch, drogenabhängige Straftäter würden sich über diesen Weg freiwillig in Therapie begeben, um einem Gefängnisaufenthalt aus dem Weg zu gehen. Im Zuge dieser viele Jahre andauernden Novellierung wird auch die Substitutionstherapie erneut verhandelt. Noch im April 1980 wurde diese durch die Abgeordneten in einer durch den Bundestagsausschuss veranstalteten Expertenanhörung als „Irrlehre“ abgetan. Dieser Umstand ist allerdings nicht verwunderlich, waren die ausgewählten Experten doch durch die Bank als ausgesprochene Gegner des Einsatzes von Methadon bekannt.[38] Kritiker wie der Soziologe Karl-Heinz Reuband monieren in der Folgezeit eine „Kreuzzugsmentalität“ der Experten, da ihre Stellungnahmen entweder auf Belege verzichten oder nur solche anführen, die gegen die Vergabe von Methadon argumentieren.[39] Sowohl der größte Teil der Ärzteschaft, als auch die meisten deutschen Politiker sprechen sich folglich dafür aus, den Weg zur Heilung der Drogensucht weiterhin in der therapeutischen Langzeit- oder der Abstinenztherapie zu suchen. Daher stelle es sich auch als problematisch dar, Ärzte für die Durchführung eines möglichen Methadonprogramms zu gewinnen. Die Hamburger Ärztekammer soll sogar dazu gezwungen worden sein, für diesen Zweck Stellen auszuschreiben, da sich kaum Ärzte fanden, die zur Mitarbeit an Methadonprogrammen bereit waren.[40] Dem Gesetz nach ist es Ärzten nahezu unmöglich, Abhängigen Methadon zu verschreiben, da dies nur in Ausnahmefällen, bestätigt durch ein ärztliches Gutachten, geschehen kann. Die Grundsätze für eine so genannte „ärztliche Begründetheit“ sind jedoch per Gesetz festgelegt; bei Zuwiderhandlung kann es zur Anklage des betroffenen Arztes kommen.[41] Für die Einstufung liegt eine Indikationsliste vor, erstellt von der Bundesärztekammer, der zur Folge „Methadon ausschließlich aus medizinisch-gesundheitlichen Gründen an Opiatabhängige abgegeben werden [soll]“.[42] Die Indikationskriterien variieren jedoch von Bundesland zu Bundesland und können sowohl rein medizinische als auch sozialmedizinische Indikatoren beinhalten.

Im Herbst 1986 aber dreht der nordrheinwestfälische Gesundheitsminister Hermann Heinemann den Spieß um. Er veranstaltet ein Methadon-Symposium, um die Thematik erneut zur Sprache zu bringen. Anstatt wie der Bundestagsausschuss ausschließlich Methadon-Gegner einzuladen, lädt er allein Fürsprecher des Programms ein: Experten aus dem In- und Ausland informieren über Erfahrungen mit Methadon-Programmen.[43] Während einer zweiten Tagung am 25. und 26. Juni 1987 berichten Beteiligte der Drogenhilfe über die bisherigen Erfolge ihrer Arbeit und diskutieren die Weiterentwicklung des Drogenhilfekonzepts.[44] Daraufhin beschließt die NRW-Landesregierung die Erprobung eines Ersatzprogramms für Drogenabhängige und kann1988 erstmals Patienten in Bochum, Essen und Düsseldorf mit Polamidon behandeln.[45] Die Substitutionstherapie ist allerdings an strenge Regeln für die Patienten geknüpft: Der Patient muss mindestens 22 Jahre alt sein, mehrere Jahre Drogen abhängig gewesen sein und bereits zwei gescheiterte Therapien hinter sich haben. Patienten mit einer HIV-Infektion müssen mindestens 18 Jahre alt sein und auf eine mehrmonatige erfolglose oder abgebrochene Abstinenztherapie zurückblicken können. HIV-infizierte Prostituierte wiederum sollen ebenfalls in das Programm aufgenommen werden können, um ihnen einen Ausstieg aus der Beschaffungsprostitution zu ermöglichen.[46]

„Für mich sind Drogenabhängige Kranke. Viele Kranke benötigen zeitlebens Medikamente. Wir wollen versuchen Fixer mit Hilfe von Methadon aus der Drogenszene herauszulösen und ihnen eine Chance zur beruflichen und sozialen Integration zu geben.“[47]
Hermann Heinemann

Die Bemühungen des Sozialdemokraten bleiben nicht ohne Folgen. Auch die Hamburger FDP spricht sich nun für ein Methadon-Programm aus. Heinemann bemüht sich darum, auch Bremen und Schleswig-Holstein zu überzeugen.[48] Allerdings leistet der Bremer Bürgermeister und Sozialminister Henning Scherf energischen Widerstand und liefert sich mit seinem Kontrahenten unter der Moderation des Spiegels ein heftiges Streitgespräch über das Methadon-Programm.[49] Die miteinander befreundeten Politiker gehören beide der SPD an und verdeutlichen in ihrem Gespräch, dass die Debatte auch Parteien in zwei Lager zu teilen vermag. Scherf lässt sich sogar zu der Behauptung hinreißen, die „Männergesellschaft“ wolle mit dem Methadon-Programm nur sicher gehen, nicht mit HIV-positiven Prostituierten zu verkehren.[50] Nachdem die beiden Beteiligten ihre Standpunkte dargelegt und jeden erdenklichen Einwand diskutiert haben, steht jedoch – wie schon so oft zuvor – kein eindeutiges Ergebnis fest. Eine Lösung zum Umgang mit Drogenabhängigen und drogenabhängigen Straftätern bleibt auch im Jahr 1988 vorerst aus.

 

[1]     Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 1988. Wiesbaden 1989, S. 163.
[2]     „Irvine Welsh plans Trainspotting prequel“, in: The Sunday Times, vom 16. März 2008.
[3]     Wolfram Keup, Mißbrauchsmuster bei Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten und Drogen. Frühwarnsystem-Daten für die Bundesrepublik Deutschland 1976–1990. Freiburg 1993, S. 757–809.
[4]     „Psychoactive Drug or Substance“, in: World Health Organization (Hg.), Lexicon of Alcohol and Drug Terms. Genf 1993, S. 53.
[5]     Peter L. Tresz, Leitfaden für Instrukteure und Ermittlungsbeamte auf dem Gebiet der Rauschgiftbekämpfung. Wiesbaden 1988, S. 38.
[6]     Die statistischen Angaben zu den hier erläuterten Substanzen im Untersuchungszeitraum des Jahres 1988 beziehen sich auf die Daten des Frühwarnsystems für die Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1976–1990. Siehe Keup, Mißbrauchsmuster bei Abhängigkeit (wie Anm. 2), S. 14.
[7]     „Marihuana“ hingegen ist das getrocknete Kraut der Pflanze.
[8]     Keup, Mißbrauchsmuster bei Abhängigkeit (wie Anm. 2), S. 607–617.
[9]     Ebd., S. 546–559 sowie „Cocaine“, in: World Health Organization (Hg.), Lexicon of Alcohol and Drug Terms. Genf 1993, S. 23.
[10]    Keup, Mißbrauchsmuster bei Abhängigkeit (wie Anm. 2), S. 130.
[11]    Howard Marks – gleichnamige Homepage, online abrufbar unter http://howardmarks.name/about/ [19.1.2014].
[12]    Howard Marks, Mr Nice. Autobiographie. München 2010, S. 84.
[13]    Stefan Aust, Der Pirat. Die Drogenkarriere des Jan C. Hamburg 1990, S. 10. Aust anonymisierte den Namen des Betroffenen, der ihm in mitgeschnittenen Gesprächen sein Leben erzählte. Auf zahlreiche weitere Quellen zurückgreifend, steht der Name im Folgenden für den durchschnittlichen Heroinkonsumenten in der Bundesrepublik Deutschland.
[14]    Keup, Mißbrauchsmuster bei Abhängigkeit (wie Anm. 2), S. 45.
[15]    Herbert Berger/Karl-Heinz Reuband/Ulrike Widlitzek, Wege in die Heroinabhängigkeit. Zur Entwicklung abweichender Karrieren. München 1980, S. 49.
[16]    Uschi Entenmann, „,Bitte helft mir noch ein letztes Mal.‘ Gespräche mit Fixer, Dealer, Polizist und Therapeut“, in: Dietmar Schlee (Hg.), Drogen rauben unsere Kinder: Schauplätze – Hintergründe – Antworten. Brennpunkt Aktuell. Bonn 1990, S. 23–37, hier S. 24.
[17]    Bruno Schrep, „Strich, schlafen, Hotel – mehr nicht. Zwei Hamburger Heroin-Abhängige über Beschaffungskriminalität und Prostitution“, in: Der Spiegel, Nr. 30, vom 25. Juli 1988, S. 43–49.
[18]    Entenmann, Bitte helft mir noch ein letztes Mal (wie Anm. 16), S. 24f.
[19]    Aust, Der Pirat (wie Anm. 13), S. 13–16.
[20]    Ebd., S. 348f.
[21]    „Wer singt, kriegt eine Überdosis“, in: Der Spiegel, Nr. 30, vom 25. Juli 1988, S. 30–42, hier S. 30.
[22]    Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik (wie Anm. 1), S. 163 und S. 159.
[23]    Christel Hofmann, „Wer von uns dreien stirbt zuerst? HIV-positiv und ,Vollbild‘ – das Leid einer Familie“, in: Die Zeit, Nr. 42, vom 14. Oktober 1988, S. 97 und „Aidskrank. ,Ein Kind ist kein Glücksspiel‘“, in: Quick, Nr. 22, vom 25. Mai 1988, S. 106f.
[24]    Armin Zipzer, „Der Alptraum der Tina B.“, in: Quick, Nr. 16, vom 13. April 1988, S. 8–11.
[25]    Heidrun Graupner, „Der unerträgliche Schock. Aids – die neue Seuche und die uralten Ängste“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 168, vom 23./24. Juli 1988, S. 81.
[26]    Wer singt, kriegt eine Überdosis (wie Anm. 21), S. 30–42.
[27]    Wolfgang Metzner/Thomas Hagenbart, „Die Geschichte der Fixerin Anna. ,Leben wie ein Stück Dreck‘“, in: Stern, Nr. 45, vom 3. November 1988, S. 20–35.
[28]    Wolfgang Much, „Im vergangenen Jahr über 450 Drogentote in der BRD“, in: Neues Deutschland, Nr. 22, vom 27. Januar 1988, S. 1.
[29]    Peter Jacobs, Auf dem Regenbogen reitet der Tod: Hintergründe des Rauschgiftmissbrauchs in der kapitalistischen Welt. 6. Aufl. Berlin 1988, S. 166.
[30]    Johann Freudenreich, „Jagd auf den Stoff, aus dem die Alpträume sind“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 186, vom 13. August 1988, S. 18.
[31]    Else Meyer, Hat ihr Kind Drogenprobleme? (Hilfe zur Selbsthilfe; Bd. 12). Heidelberg 1988.
[32]    Michael Haller, „Opium fürs Volk. Politiker und Ärzte feiern die Kunstdroge Methadon als Wundermittel gegen die Rauschgiftsucht“, in: Die Zeit, Nr. 35, vom 26. August 1988, S. 9f.; Claudia Hinkofer, „Lieber tanzen als fixen“, in: Stern, Nr. 12, vom 17. März 1988, S. 256–258; Marlies Prigge, „AIDS I. Noch siegt die Prüderie“, in: Stern, Nr. 9, vom 25. Februar 1988, S. 257 und Peter Pragal, „AIDS II. Sex ist kein Sport“, in: Stern, Nr. 9, vom 25. Februar 1988, S. 258.
[33]    George Bush, „Address Accepting the Presidential Nomination at the Republican National Convention in New Orleans, August 18, 1988“, auf Gerhard Peters/John T. Woolley, The American Presidency Project.
[34]    „Bröckelnde Front“, in: Der Spiegel, Nr. 32, vom 8. August 1988, S. 29f.
[35]    Julia Bettina Schumacher, Methadon als Ersatzdroge? Die Suchtstoffsubstitution aus strafrechtlicher Sicht. Frankfurt am Main u.a. 1989, S. 120. und Horst Bossong, „Möglichkeiten und Grenzen der Methadonsubstitution. Eine Übersicht über Forschung, Praxis und bundesdeutsche Diskussion“, in: Horst Bossong/Heino Stöver (Hg.), Methadonbehandlung. Ein Leitfaden. Frankfurt am Main/New York 1992, S. 17–43, hier S. 20.
[36]    Julia Bettina Schumacher, Methadon als Ersatzdroge? (wie Anm. 35), S. 122.
[37]    Nach § 35 des BtMG gilt dies für Straftäter, deren Strafmaß eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren nicht überschreitet.
[38]    Schumacher, Methadon als Ersatzdroge? (wie Anm. 35), S. 123.
[39]    Karl-Heinz Reuband, „Drogen AIDS und Methadon. Kritische Bemerkungen zur neuen Diskussion“, in: Neue Praxis, Jg. (1989), S. 455–462, hier S. 456.
[40]    Ebd., S. 455.
[41]    Schumacher, Methadon als Ersatzdroge? (wie Anm. 35), S. 140–143. Ein treffendes Beispiel bietet der Fall des Arztes Johannes Kapuste, der sich wegen illegaler Methadon-Vergabe vor dem Strafgericht verantworten musste.
[42]    Felix Vogt, Methadon. Substitution im Widerstreit. Freiburg im Breisgau 1994, S. 19f.
[43]    Schumacher, Methadon als Ersatzdroge? (wie Anm. 35), S. 140–143 und 129.
[44]    Johannes Hellebrand, Methadon – Chance oder Illusion. Der Einsatz von Methadon in der Drogen- und AIDS-Hilfe am Beispiel Nordrhein-Westfalens. Bonn 1988, S. 1.
[45]    Ebd. Bei Polamidon handelt es sich um eine nicht injizierbare Methadon-Lösung.
[46]    Ebd., S. 18.
[47]    Ariane Barth/Dieter Uentzelmann, „Das bringt euch alle in den Knast. Gesundheitsminister Heinemann und Sozialsenator Scherf über Aids, Prostitution und die Staatsdroge Methadon“, in: Der Spiegel, Nr. 5, vom 1. Februar 1988, S. 82–92, hier S. 87.
[48]    Hans-Ulrich Jörges, „Düsseldorf: Methadon-Therapie ausweiten. Minister Heinemann will zunächst Bremen und Schleswig-Holstein gewinnen“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 183, vom 10. August 1988, S. 5.
[49]    Barth/Uentzelmann, Das bringt euch alle in den Knast (wie Anm. 47), S. 82–92.
[50]    Ebd., S. 83.

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Westdeutschland 1988 – Opium für’s Volk

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Drogenmissbrauch in West- und Ostdeutschland

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