Das Dossier zur Queeren Zeitgeschichte entstand auf Initiative und unter redaktioneller Leitung von Alina Müller.
Bald 20 Jahre ist dieser [siehe Artikelbild] Straßenprotest einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Inter*, Trans*, Schwulen, Lesben und anderen queeren Menschen in Berlin her. Die Aktion fand 2005 anlässlich eines Symposiums für Kinder- und Jugendgynäkologie statt, auf dem Ärzt*innen kosmetische Genitaloperationen an intergeschlechtlichen Kindern erneut als medizinisch geboten darstellten. Obwohl intergeschlechtliche Menschen in der Bundesrepublik schon seit Mitte der 1990er Jahre die Eingriffe eindringlich als traumatisierend und als Menschenrechtsverletzung kritisiert hatten.[1]
Die Norm der Zweigeschlechtlichkeit ist bis in die Gegenwart wirkmächtig und gewaltvoll. Das zeigt sich auch an den aktuellen Zahlen zu homo- und transfeindlichen Gewalttaten. Wie sich diese Norm in der Zeit seit 1945 ausprägte und wandelte, das ist eine zentrale Frage der queeren Zeitgeschichte. Queere Zeitgeschichte macht Geschlecht, Sexualität, Familie und Privatheit als nur scheinbar stabile Sedimente einer heteronormativen Ordnung einsichtig. Sie dekonstruiert und denaturalisiert diese Kategorien, das scheinbar Selbstverständliche wird zweifelhaft. Zu diesem Projekt gehört auch die historische Aufmerksamkeit für „intersektionale“ Konstellationen, in denen sich verschiedene Ungleichheitserfahrungen, sexistische, rassistische, klassistische etc. Diskriminierungen überlagern.[2]
Grundsätzlich sollte sich Queere Zeitgeschichte unserer Meinung nach am „thinking from the margins“ orientieren und vielfältigen sozialen Ausschlussmechanismen in ihrer Verwobenheit nachgehen, wie sie nicht nur in der „Mehrheitsgesellschaft“, sondern auch in und durch queere Communities reproduziert werden. Dass sie diesem Anspruch nicht immer gerecht wird, zeigt sich etwa daran, dass in der queeren zeithistorischen Forschung Inter*, also Menschen, die mit Variationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale geboren sind, nicht systematisch mitgedacht werden. Dabei offenbart sich gerade am gesellschaftlichen Umgang mit Inter*, wie wirkmächtig soziale Ängste vor Homosexualität und vor „Abweichungen“ vom männlich/weiblich-Raster sind.
Was für Inter* gilt, gilt auch für eine Reihe anderer Themen wie Asexualität, BPOC-Queers (also Black und People of Colour) und Queers mit Migrationsgeschichte, Trans* etc. Queere Zeitgeschichte beginnt erst nach und nach, sich für diese vermeintlich randständigen Themen innerhalb eines ohnehin randständigen Forschungsgebiets zu interessieren. Auf einige dieser noch kaum erforschten Aspekte gehen die Beiträge in diesem Dossier mit Fokus auf die west- und ostdeutsche Zeitgeschichte ein [Beitrag Asefi].
Queere Zeitgeschichte umfasst historische Forschung, die sich auseinandersetzt mit den Erfahrungen, Alltagspraktiken, Selbstverhältnissen, Begehrensformen, sexuellen Praktiken, Subkulturen und politischen Aktivitäten, auch Erinnerungspolitiken [Beitrag Tremblay], von Menschen, die sich mit den Buchstaben LSBTIQ* identifizieren können.[3] Sie interessiert sich darüber hinaus für all jene, die aus dem engen Rahmen heteronormativer Lebensentwürfe herausfallen [Beiträge Rottmann und Kunz/Nolte]. Repression, Verfolgung, Diskriminierung aufgrund der Assoziation mit der sogenannten „Lustseuche Aids“ erfuhren beispielsweise auch Junkies in den 1980er Jahren [Beitrag Januschke/Klöppel]. Und Menschen, die sich als heterosexuell begreifen, stellen unter Schlagwörtern wie „Gruppensex“ oder „Mehrfachbeziehungen“ seit den 1970er Jahren die monogame Ordnung in Frage.
Dieser weit gefasste Begriff von queer geht auch mit einem erweiterten Politik-Verständnis einher [Beitrag Wittrock]. In diesem Sinne bezieht die Analyse queerer politischer und aktivistischer Strategien auch Mikropolitiken, „eigensinnige“ und „messy“ Praktiken ein. Diese waren/sind zwar nicht unbedingt als politischer Protest intendiert, aber dennoch konnten/können sie die Kultur der Heteronormativität herausfordern und unterwandern.[4]
Da die historische Überlieferung gerade zu den Praktiken und Lebenswelten von gesellschaftlich marginalisierten Menschen, teils wegen ihrer versteckten Lebensführung, teils wegen des Desinteresses der großen Archive, bestenfalls lückenhaft ist, gehört zur Queeren Zeitgeschichte die Sensibilität für das Ungesagte oder das Angedeutete sowie das Hinterfragen von Leerstellen [Beitrag Klugbauer].[5] Ein selbstreflexiver Umgang mit den materiellen Bedingungen des eigenen Forschens und den oft eingeschränkten Möglichkeiten, dem Vergangenen gerecht zu werden, gehört (auch) für die Queere Zeitgeschichte zu den basics. Methoden kollaborativen Forschens etwa in der Oral History bieten sich daher, soweit möglich, auch für die Queere Zeitgeschichte an [Beitrag Binder/Gammerl].
Queere Perspektiven verändern die west- und ostdeutsche Zeitgeschichte allgemein. Sie sorgen für ein vielfältigeres Gesellschaftsbild und analysieren die Herausbildung und Funktion von Normen sowie von Machtbeziehungen zwischen der vermeintlichen gesellschaftlichen Mitte und ihren Rändern. Queere Zeitgeschichte beschreibt also in kritischer Absicht Praktiken der Homogenisierung, des Ausschlusses etc., die gesellschaftliche Normalität herstellen und stabilisieren. Das historiographische Verstehen dieser Mechanismen ermöglicht ein Hinterfragen des scheinbar Selbstverständlichen.
Indem Queere Zeitgeschichte Wechselwirkungen zwischen queeren Praktiken, Existenzen und Lebensweisen auf der einen und Demokratisierung, Diversifizierung sowie anderen gesellschaftlichen Transformationsprozessen auf der anderen Seite auslotet, trägt sie bei zu einer kritischen Reflexion gängiger historischer Narrative wie Liberalisierung, Individualisierung, Flexibilisierung von Lebensverhältnissen, Pluralisierung oder Normalisierung. Queere Perspektiven helfen der deutschen Zeitgeschichte, der Komplexität ihres Gegenstands gerecht zu werden.
[1] AG 1-0-1 intersex: 1-0-1 [One 'O One] Intersex. Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung. Dokumentation, Berlin: NGBK 2006.
[2] Begriff und Konzept der Intersektionalität gehen zurück auf die afroamerikanische Juristin Kimberlé Williams Crenshaw. Siehe z.B. Sumi Cho, Kimberlé Williams Crenshaw, and Leslie McCall: Toward a Field of Intersectionality Studies. Theory, Applications, and Praxis, in: Signs, 38 (2013), 4, 785–810.
[3] Vgl. zu dieser Debatte insbesondere Elisa Heinrich und Johann Karl Kirchknopf: Editorial. Homosexualitäten revisited, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 29 (2019), 2, 5-18; sowie Jennifer Evans: Introduction. Why Queer German History?, in: German History, 34 (2016), 3, 371-384.
[4] Vgl. Sara Ahmed: Willful Subjects, Durham: Duke University Press 2014; Martin F. Manalansan IV: The ‘Stuff’ of Archives. Mess, Migration, and Queer Lives, in: Radical History Review, 120 (2014), 94-107.
[5] Vgl. José Esteban Muñoz: Ephemera as Evidence. Introductory Notes to Queer Acts, in: Women & Performance, 8 (1996), 2, 5-16.
Methoden queeren Forschens
Queere Methoden – der Begriff ist ebenso unklar wie widersprüchlich. Wie kann so etwas wie Methoden, die für Ordnung und Übersichtlichkeit stehen, mit queer in Verbindung gebracht werden, also mit den damit verbundenen flüchtigen, widerspenstigen Praktiken und Subjektpositionen oder gar mit einem Theoriekorpus, der alle normativen Setzungen zu unterlaufen verspricht? Zunächst ließe sich vermuten, dass queeres Forschen sich mit queeren Themen, Lebensweisen und Selbstverständnissen beschäftigt – so wie sich die historische Forschung mit der Vergangenheit auseinandersetzt.
Frauengefängnisse als Räume der queeren DDR-Geschichte
Im Kontext der deutschen Zeitgeschichte mag es überraschend erscheinen, Frauengefängnisse als bedeutsame Räume lesbischen und queeren Lebens zu untersuchen.[1] Schließlich fielen Beziehungen zwischen Frauen weder in der BRD noch in der DDR unter den §175 StGB, der männliche Homosexualität kriminalisierte und tausende Männer vor allem in der BRD aufgrund von einvernehmlichem Sex ins Gefängnis brachte.[2] Es war aber nicht nur das Strafrecht, auch nicht allein das Recht, das die heteronormative Ordnung dieser beiden dur
Lesbische* Frauen* in einer westdeutschen Psychiatrie in den ersten Nachkriegsjahren
In einer explorativen Stichprobenuntersuchung der Krankenakten der Heidelberger Psychiatrischen Klinik haben wir in einem Kooperationsprojekt der Universitäten Heidelberg und Freiburg[1] rund 700 Patient*innenakten aus den Jahren 1946, 1948, 1951 und 1952 gründlich durchgelesen, denn nur so lassen sich Andeutungen, Umschreibungen und auch explizites Verhalten jenseits der Heteronormativität erfassen.
Diana auf dem Sonderpfad
„Wir interessieren uns nicht nur für die Verfolgten und Geschlagenen, wir interessieren uns auch für die, die leben, queer lieben, kämpfen und glücklich sind.“[1]
Aids-Bewegung in der Bundesrepublik
Bis zur Einführung der Kombinationstherapie Mitte der 1990er Jahre führte das HI-Virus zu schweren Krankheiten und Tod, vor allem unter Schwulen.
Stern.Zeichen
Zwischen Weihnachten und Neujahr 1982 und 1983 fand im Frankfurter Theater am Turm (TAT) jeweils das Festival Stern.Zeichen statt, das im Untertitel „Homosexualität im Theater“ hieß. Zu den großen Entdeckungen der ersten Ausgabe zählte Georgette Dee, jene androgyne Künstler*in, die seit den frühen 1980er Jahren in ihren Bühnenauftritten unterschiedlichste Facetten von Geschlechtlichkeit aufführt, die sich nicht in einer einzelnen Identitätskategorie auflösen lassen. Für die zweite Ausgabe 1983 wurde Georgette Dee eingeladen, eine Weihnachts-Gala zu moderieren (und zu organisieren).
Keine Erinnerungskultur ohne Debatten
Wer in der westdeutschen Metropole Köln am Rheinufer spazieren geht, kann neben der Hohenzollernbrücke einen Moment innehalten und einen Blick auf das im Sommer 1995 eingeweihte steinerne Denkmal werfen. Am Ufer des Flusses, in der Nähe eines beliebten queeren Cruising Spot in einer Stadt, die für ihre lebendige queere Szene bekannt ist, erinnert das Denkmal an das Schicksal der und ehrt die queeren Opfer des NS-Regimes. Mehrere rosafarbene und schwarze Keile bilden einen Rosa Winkel mit folgender Inschrift: „Den schwulen und lesbischen Opfern des Nationalsozialismus”.
QPoC Solidarity in West Berlin in the 1980s
The 1980s were a decade of political liberation struggles across the Global South. Despite the tragic end to most of these attempts, anti-imperialist and anti-capitalist politics, a legacy in a way of the 1970s, were at the center of these ongoing conflicts.