Dreißig Jahre Tschernobyl
Zur Aktualität der Reaktorkatastrophe
Zur Aktualität der Reaktorkatastrophe * Von Joachim Radkau * April 2016 Was können wir aus der Geschichte der Atomtechnik für die Energiewende lernen? In langen Gesprächen, die ich gemeinsam mit Lothar Hahn und Klaus Töpfer führte, kristallisierte sich vor allem ein Punkt heraus: In der Frühphase der Atomenergiewirtschaft hatte sich ungeachtet aller Differenzen eine Community an Fachleuten herausgebildet. Sie alle kannten einander und trafen sich auf den Fachkonferenzen der Welt. Sie spielten, wenn es darauf ankam, einander die Bälle zu. Diese Community war entscheidend für den Aufstieg der Atomkraft, ungeachtet aller von Anfang an herrschenden Bedenken. Eine solche Community gibt es als Basis für die Energiewende bislang kaum. Stattdessen ertönt unendlich viel Polemik und es herrschen oft destruktive Kritikformen. Soweit ich es beurteilen kann, sind die Vorkämpfer der Energiewende derzeit in viele unterschiedliche Szenen aufgesplittert: in Anhänger der Windkraft und der Solartechnik, der zentralen und der dezentralen Energieerzeugung, der Förderung energiesparender Technologien, und schließlich der Bioenergie und Geothermie. Hier fehlt die Kommunikation zwischen den VertreterInnen der verschiedenen Konzepte, eine konstruktive Kritik und nicht zuletzt Solidarität untereinander. Das ist eine Herausforderung, der sich die junge Generation stellen sollte.
Die „Flüchtlingsfrage“ in Deutschland nach 1945 und heute
Ein Vergleich
Ein Vergleich * Von Matthias Beer * April 2016 Eindeutiger kann das Ergebnis eines Vergleichs der gegenwärtigen und der Flüchtlingsfrage nach 1945 nicht ausfallen. Die strukturellen Voraussetzungen sind, welche Parameter man auch betrachtet, grundverschieden. Für die beliebte Gleichsetzung der Flüchtlingsfrage nach 1945 und der gegenwärtigen, für eine Analogie oder auch nur eine Anspielung liefern die empirischen Befunde keine Grundlage. Der in der Öffentlichkeit, in der politischen Auseinandersetzung, in den Medien und auch in der Wissenschaft bemühte Vergleich führt daher nicht nur in die Irre, er ist auch falsch. Die gedeuteten, vermuteten oder angenommenen Gemeinsamkeiten der beiden Flüchtlingsfragen liegen nicht vor. Auch deshalb sollte der Griff in die Kiste der Geschichte Urteilen und Unterscheiden nicht ersetzen, auch nicht bei der gegenwärtigen Flüchtlingsfrage. Daraus aber im Umkehrschluss den Schluss zu ziehen, der Blick in die Vergangenheit sei zu vermeiden, wäre sicher voreilig. Denn gerade die Analyse einer Zwangsmigration von rund 12,5 Millionen Menschen mit den ihr eigenen Charakteristika und deren weitgehend erfolgreiche Integration und Assimilation in der Bundesrepublik erlaubt es, zumindest Schlüsse aus einem mittlerweile historisch gewordenen Prozess zu ziehen: Die Aufnahme von Millionen von Migranten in kurzer Zeit kann gelingen, ihre Integration kann erfolgreich verlaufen und die Flüchtlinge und die aufnehmende Gesellschaft können daraus Vorteile ziehen. All das kann, muss aber nicht eintreten und tritt schon gar nicht zwangsläufig ein.
Wie klingt Auschwitz?
Drei Perspektiven auf "Son of Saul"
Drei Perspektiven auf "Son of Saul" * Von Jakob Mühle, Maren Francke und René Schlott * März 2016 Das preisgekrönte Holocaustdrama „Son of Saul” des ungarischen Regisseurs László Nemes zeigt einen Tag im Oktober des Jahres 1944 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Im beklemmenden 4:3 Format heftet sich der Blick des Zuschauers an Saul Ausländer (eindrucksvoll gespielt von Géza Röhrig), einem Häftling des sogenannten jüdischen Sonderkommandos, das die Deutschen für den reibungslosen Ablauf der Massenvernichtung in den Gaskammern und Krematorien eingesetzt hatten. Der Protagonist Saul hetzt 107 Minuten lang durch das Lager. Er ist auf der Suche nach einem Rabbiner, um einen toten Jungen, den er für seinen Sohn hält, nach jüdischem Ritus zu begraben.
„Das Buch der Deutschen“
Ein Gespräch mit Thomas Vordermayer über die Arbeit an der Edition von Hitlers „Mein Kampf“*
Thomas Vordermayer über die Arbeit an der Edition von Hitlers „Mein Kampf“ * Von Annette Schuhmann * Januar 2016 Am 8. Januar 2016 stellt das Institut für Zeitgeschichte in München die kommentierte Gesamtausgabe: „Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition" vor. Gut drei Jahre haben Historiker/innen des Instituts unter Leitung von Christian Hartmann an einer, im wörtlichen Sinne zu verstehenden, vollständigen Kommentierung dieser Kampfschrift gearbeitet. Der Zeitdruck, unter dem sie dabei standen, war enorm, schließlich erlosch das Urheberrecht im Besitz des Freistaates Bayern am 1. Januar 2016. Die Arbeiten an der Kommentierung wurden von großem öffentlichen Interesse und nicht selten kontrovers begleitet. Dies ist ein durchaus seltener Glücksfall für unsere Profession, der aber ebenfalls für Anspannung sorgte und die Mitarbeiter des IfZ wiederholt mit Forderungen nach der Legitimation des Projektes konfrontierte. In unserem Interview sollte es jedoch nicht um den Sinn der Edition gehen, den wir ohnehin nicht bezweifeln. Wichtiger waren für uns Fragen nach der Organisation des Forschungsprozesses, nach den persönlichen Eindrücken und dem „Leseerlebnis“, nach einer möglichen ironischen Distanz, die eine solche Arbeit begleiten kann, und danach, wie man als Wissenschaftler damit umgeht, auf ewig mit dem Titel „Mein Kampf“ in Verbindung gebracht zu werden. ..
Flucht und Asyl
Zeithistorische Bemerkungen zu einem aktuellen Problem
Zeithistorische Bemerkungen zu einem aktuellen Problem * Von Ulrich Herbert * Dezember 2015 Massenmigration, das hat dieser Überblick gezeigt, ist keine vorübergehende Ausnahme, deren Ende man erwarten kann, sondern in seiner modernen Form seit etwa einhundert Jahren feststellbar und sich stetig ausweitend. Außer in den Fällen der Vertreibung ethnischer Minderheiten ist sie in der Regel die Folge wirtschaftlicher Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten, oft im Kontext von bewaffneten Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen, und zwar im regionalen und nationalen Raum ebenso wie im kontinentalen oder globalen Rahmen. Sie entzieht sich als solche wertender Betrachtung – Migration an sich ist weder gut noch schlecht. Kulturelle Begegnung, Vermischung, Kommunikation ist der eine Teil davon; Sklaverei, Ausbeutung, Zwangsarbeit, Entwurzelung, Xenophobie der andere. Dabei zeigt der Blick in die Geschichte der Wanderungsbewegungen zum einen etwas von der Langfristigkeit, der Diversität, der räumlichen und zeitlichen Dimension dieser Prozesse und von den relativ begrenzten Möglichkeiten, sie außer mit kriegerischer Gewalt zu steuern. Das behütet einen vor allzu großem Optimismus, was die politische Einflussnahme angeht. Er zeigt zum anderen aber auch, dass es richtig ist, Migration und die davon ausgehenden Auswirkungen nicht als den Sonderfall, sondern als das Normale zu betrachten, das uns lange, immer erhalten bleiben wird. Und die Vorstellung, es gebe eine „Lösung“ der Migrationsproblematik, ist ein gewichtiger Teil der Problematik selbst...
Paris – Syrien
Über zu kurze Wege in der öffentlichen Debatte nach den Anschlägen vom 13. November 2015 in Paris
Öffentlichen Debatte nach den Anschlägen vom 13. November 2015 in Paris * Von Teresa Koloma Beck * Dezember 2015 Am Abend des 13. November 2015 kamen in Paris mindestens 150 Menschen in einer Serie koordinierter Anschläge ums Leben. Politische Gewalt dieses Ausmaßes hat es in Europa seit den Zuganschlägen von Madrid am 3. April 2004 nicht mehr gegeben. Rasch werden Verbindungen der Täter zur militärisch im Irak und Syrien operierenden bewaffneten Gruppe »Islamischer Staat« (IS) deutlich. Seitdem scheint die Agenda der europäischen Politik von diesem Thema bestimmt: Wie war das möglich? Und was ist nun zu tun?
Die Komplexität von Integration
Arbeitsmigration in die Bundesrepublik Deutschland von den fünfziger bis in die siebziger Jahre
Was wir von der Geschichte der „Gastarbeiter“ lernen können, die von den fünfziger bis in die siebziger Jahre nach Deutschland kamen, erscheint vielen Kommentatoren und Zeitanalysten offensichtlich zu sein: Die Bundesrepublik hat damals total versagt, weil sie an eine Integration der Arbeitsmigranten nicht einmal gedacht hat.
Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess als Medienereignis
Die Berichterstattung durch die Rundfunksender in den westalliierten Besatzungszonen 1945/46
Die „zweite Geschichte“ des Nationalsozialismus: Der Nürnberger Prozess und die Medien
Es war einmal eine Aufnahmegesellschaft…
Frankreich oder die Krise der republikanischen Willkommenskultur
Am 16. September 2015 wiederholte der Premierminister Frankreichs und gebürtige Spanier Manuel Valls vor der Nationalversammlung die „Berufung Frankreichs, Menschen aufzunehmen, die wegen ihres Gedankenguts verfolgt werden oder die Gefahr an Leib und Leben ausgesetzt sind“[1].