von
Kateryna Chernii

Der Krieg begleitet ein Drittel meines Lebens. Die ‘russische Welt‘ in ihren verschiedenen Formen bedroht die Ukraine seit Jahrhunderten. Wenn mir 2013 jemand gesagt hätte, dass ein Krieg in der Ukraine möglich ist, hätte ich es damals nicht geglaubt. Das schien unmöglich zu sein. Inzwischen ist bekannt, dass sich Russland jahrelang auf den Krieg gegen die Ukraine vorbereitet hat.[1] Die neue Realität kam 2014, als Russland die ukrainische Krym und Teile der Ostukraine besetzte. Seitdem herrscht wieder Krieg in Europa. So schnell kam der Realitätswechsel. Doch viele wollten diesen Krieg nicht als solchen wahrnehmen. Er wurde überwiegend als ‘Ukraine-Krise‘ markiert, mit dem Aggressor wurde verhandelt, auf dessen ‘geopolitische‘ Interessen wurde geachtet. 

Seit 2014 leben die Eltern meiner Freundin El’zara unter russischer Besatzung auf der Krym. Sie sind die Krimtataren, die autochthone Bevölkerung der Halbinsel Krym. Im Mai 1944 wurde das gesamte krimtatarische Volk (etwa 200 000 Menschen) von Stalin in Viehwaggons nach Zentralasien deportiert, von denen die Hälfte den Weg nicht überlebte.[2] Die Familie von El’zara kehrte erst in den 1990er Jahren in ihre Heimat zurück. Und nun leben El’zaras Eltern seit mehr als zehn Jahren in einem Schwebezustand, in latenter Angst und Lebensgefahr. Sie leben unter russischen Besatzung, ohne aktiven Krieg, aber auch ohne Frieden. Denn auch wenn manche das glauben wollen: Besatzung ist kein Frieden.[3]

Am 24. Februar 2022 begann Russland den Angriffskrieg, der nun schon drei lange Jahre andauert. Im Februar 2022 standen die russischen Panzer keine 15 Minuten von meiner Wohnung in Kyjiv entfernt, auf der Straße, auf der mein Vater mich jeden Tag zur Schule brachte. Unser Haus im Kyjiver Gebiet befindet sich nur wenige Kilometer von Borodjanka entfernt, wo die russische Armee nach ihrem Einmarsch schreckliche Gräueltaten verübte. Ich kenne die Straße, auf der nach der Befreiung der Stadt im März 2022 die Leichen ermordeter Zivilisten gefunden wurden, ziemlich gut. Am 31. Dezember 2022 trafen Teile einer russischen Rakete das Wohnhaus meiner Großmutter in Kyjiv. Seit drei Jahren führt Russland einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, gegen die demokratische Ordnung und gegen den Frieden in Europa.

Warum erzähle ich das? Weil zwischen der Unvorstellbarkeit des Krieges und den russischen Panzern vor meinem Haus in Kyjiv keine zehn Jahre lagen. Unsere Erfahrungen (auch generationsübergreifend) formieren in vielerlei Hinsicht unsere Weltwahrnehmung. In Deutschland fühle ich mich als Ukrainerin oft nicht verstanden. Das liegt unter anderem an den unterschiedlichen Erfahrungen. Auch nach drei Jahren russischem Angriffskrieg finde ich mich häufig in der Situation, das Existenzrecht der Ukraine behaupten und die rechten und linken Narrative von Krieg und Frieden (oft erfolglos) widerlegen zu müssen. Die russische Propaganda ist in Deutschland tief verwurzelt. Man wird ständig mit naiven, aber dadurch nicht weniger gefährlichen Vorstellungen konfrontiert, die den Aggressor verharmlosen und den Kern der Gefahr übersehen. Während in Deutschland über Waffenlieferungen diskutiert wird, bezahlt die Ukraine mit ihren Menschen für die Zukunft Europas. Es erstaunt mich immer wieder, dass man in Deutschland erklären muss, dass es ohne Sicherheit keinen Wohlstand gibt und dass man für Demokratie kämpfen muss, nicht nur mit schönen Parolen. Auch das Recht auf ein eigenes Land und Freiheit sind nicht selbstverständlich. Das kennen die Ukrainer:innen leider nur zu gut.

Nach drei Jahren des russischen Angriffskrieges sind die Menschen in der Ukraine extrem erschöpft. Moralisch, mental, materiell. Jeder ist von diesem Krieg in der Ukraine betroffen. Jeden Tag verliert die Ukraine Menschen, sowohl an der Front als auch durch die ständigen russischen Angriffe auf ukrainische Städte. Der Druck ist enorm, so wie die existenzielle Gefahr für die Ukraine, aber auch für Europa. Wir leben in schwierigen und historischen Zeiten. Umso wichtiger ist die Verantwortung, die jede/r von uns dafür trägt, wen er wählt, wofür er steht und was er tut. Die Ukraine verdient Frieden, die Ukraine verdient die Gerechtigkeit.

 


[1] Ukraine Crisis Media Center, „Tesy do druhoji ričnyci rosijs’koji agresij [Thesen zum zweiten Jahrestag der russischen Aggression gegen die Ukraine], 18.02.2016.
[2] Viktor Savchuk, „18. Mai 1944: Das Trauma der Deportation in der krimtatarischen Kultur“, in: Ukraine Verstehen, 18.05.2021.
[3] Nataliya Gumenyuk, „Putin’s Ukraine: The End of War and the Price of Russian Occupation, in: Foreign Affairs, 12.02.2025.

 

Zitation

Kateryna Chernii , Die Ukraine verdient Frieden, die Ukraine verdient die Gerechtigkeit, in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://dev.zeitgeschichte-online.de/index.php/themen/die-ukraine-verdient-frieden-die-ukraine-verdient-die-gerechtigkeit

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