Die „Stunde der Wahrheit“ und ihre Voraussetzungen

Eine Woche vor der Ausstrahlung des ersten Teils von Holocaust, am 15. Januar 1979, schrieb Der Spiegel mit Blick auf den „Eiertanz“ um Bewertung, Einkauf und Sendebedingungen der „fragwürdigen US-Serie“: „Offenbar können die Deutschen auch die bunten Abziehbilder aus ihrer Vergangenheit nur mühsam bewältigen.“ Zwei Wochen später titelte das Magazin: „Holocaust – Der Judenmord bewegt die Deutschen“. Nun hatte sich der Tenor verschoben, alle vorher erörterten Fragen der historisch-ästhetischen Gestaltung des Films und des Umgangs mit ihm wurden nun von der unerwartet breiten und intensiven Zuschauerresonanz überlagert: „Im Haus des Henkers wurde vom Strick gesprochen wie nie zuvor, `Holocaust´ wurde zum Thema der Nation.“

Das Fernsehereignis – in der DDR nur schwierig zu empfangen, öffentlich nur am Rande erwähnt und mit einer Propagandakampagne gegen Verjährungsstreit und Neofaschismus in der Bundesrepublik gekontert – geriet zum breitenwirksamsten Werk der Massenkultur seit dem Bühnen-, Buch- und Filmerfolg des Tagebuchs der Anne Frank. Manche sprachen von einer „Sensation ersten Ranges“ (Julius H. Schoeps), andere deuteten diese „Stunde der Wahrheit“ als „das psychisch am tiefsten einschneidende Ereignis in der Nach-Hitler-Geschichte Deutschlands“ (Günther Anders).

Gewiss, bei allen generationellen Umbrüchen der Erinnerungskultur nach 1945 stand die filmische Visualisierung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen im Mittelpunkt: 1960/61, als die 14teilige westdeutsche Dokumentarserie Das Dritte Reich mit ungewöhnlichem Zuschauererfolg ausgestrahlt wurde, 1979, als Holocaust dem jüdischen Leiden Name und Gesicht gab und so landesweite Betroffenheit vor den Bildschirmen auslöste, und 1994, als Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ auch in Deutschlands Kinosälen ein Millionenpublikum bewegte. Stets wirft die kritische Öffentlichkeit in solchen Situationen die Frage nach dem Zusammenhang von Breiten- und Tiefenwirkung auf. Im Fall von Holocaust sind nicht nur die Folgen strittig, sondern auch die deutende Einordnung, welchen Anteil diese historisch-ästhetisch vielkritisierte und rezeptionsgeschichtlich hochgelobte TV-Produktion an der erinnerungskulturellen Wende Ende der siebziger Jahre hatte – vom philosemitisch verhüllten Beschweigen des „Judeozids“ (Arno J. Mayer) zu einer breitenwirksameren und selbstkritischeren Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen. War also gleichsam im Anfang Holocaust?

Vieles spricht dafür, dass die diskursprägende Kraft von Holocaust die anfangs noch gegenwärtigen Voraussetzungen dieses filmischen Erfolgs retrospektiv gewissermaßen “überschrieben“ hat. Die Bedingungen der Möglichkeit der jedenfalls kurzfristig außerordentlichen Wirkung des TV-Vierteilers sind zu suchen in dem seit den frühen siebziger Jahren sich verändernden Umgang mit Geschichte allgemein und der NS-Geschichte im besonderen. Denn der damals einsetzende Veränderungsprozess, in dem sozioökonomische, geschichtskulturelle und generationelle Aspekte eng miteinander verzahnt waren, hatte längst vor der deutschen Holocaust-Ausstrahlung Folgen gezeitigt, die jedoch im Rückblick oft chronologisch ungenau, zudem unkritisch und monokausal diesem Fernsehereignis zugeschrieben wurden. „Die Nation“ – um einen bekannten Buchtitel der Publikationswelle nach dem Fernsehereignis zu variieren – war bereits „betroffen“, als sie sich von der Geschichte der Familie Weiß so sehr anrühren ließ. Der „Holocaust-Schub“ (Hans Mommsen) war untrennbar auch ein Resultat dieses vorangehenden Umbruchs und somit zwar der stärkste, aber nicht der einzige Anstoß im Rahmen einer sich schon zuvor entfaltenden erinnerungskulturellen Wende.

 

Geschichtspolitik und Geschichtskultur

Die Frage nach den politisch-kulturellen Voraussetzungen, die die Resonanz von Holocaust ermöglichten, muss sich vom unmittelbaren Ausstrahlungskontext lösen, um erinnerungskulturell wirksame Zusammenhänge in den Blick zu bekommen. Neben den vordergründigaktuellen Einflüssen, also der Erstausstrahlung im US-Fernsehen und der dortigen Debatte, der Kontroverse im Vorfeld der deutschen TV-Premiere um den Film und dessen massenkulturell gängige Machart, neben strukturellen Voraussetzungen wie der „aufgestauten, fast traumatischen Verdrängung“ der Thematik (Wolfgang Scheffler) markiert die veränderte politische und lebensweltliche Bedeutung von Geschichte einen entscheidenden Hintergrund – in allgemeiner Hinsicht und speziell mit Blick auf den internationalen Umbruch der Wahrnehmung der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Beide Ebenen, der internationale Kontext und die deutschen Zustände, sind dabei auf spezifische Weise miteinander verknüpft.

Wichtige Impulse gingen zunächst von den Veränderungen im politischen System der Bundesrepublik aus. Vor allem der sozialdemokratische „Machtwechsel“ und die damit einhergehende demokratisierende Politisierung des Landes erbrachten vielfältige Anstöße zu einem veränderten Umgang mit der deutschen Geschichte. Die Geschichtsbilder innerhalb der westdeutschen Politik und Gesellschaft wurden zunehmend selbstkritischer, pluraler, konkreter, auch weniger polarisierend in Richtung DDR. Im Rückblick zeigt sich, dass Willy Brandts Diktum „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ auch die Geschichtskultur und -politik beeinflusste. Es ging zum einen gegen die beklagte „Geschichtsmüdigkeit“, zum anderen um eine sowohl selbstkritische als auch demokratiegeschichtlich breiter fundierte und tiefergehende Aktivierung des Geschichtsbewusstseins, die sich etwa in den Initiativen des ersten sozialdemokratischen Bundespräsidenten, Gustav W. Heinemann, zeigte. Ihren sinnfälligen Ausdruck fand diese Veränderung in symbolpolitischen Akzentsetzungen, besonders 1970 durch Willy Brandts Kniefall am Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettoaufstandes, und sieben Jahre später, als Helmut Schmidt als erster deutscher Bundeskanzler Auschwitz besuchte.

Weitet man den Blick auf die generellen Ursachen der Bedeutungsveränderung von Geschichte in den siebziger Jahren, so wird ein komplexer Prozess erkennbar, der eng mit dem international zu beobachtenden, sozioökonomischen und -kulturellen Umbruch dieser Dekade zusammenhängt und der sich bald im vielschichtig fundierten, politisch-kulturellen Wechsel („Tendenzwende“) vom Leitbegriff „Emanzipation“ zur „Identitätskrise“ niederschlug. Dies führte zu deutlichen Öffnungen der Geschichtsbilder in West- (und Ost-)Deutschland und zu einem steigenden Bedarf nach historischer Legitimation. Vordergründig ist dies greifbar in einem sich binnen weniger Jahre umkehrenden Trend: Wurde Anfang der siebziger Jahre noch die verbreitete Klage über ein erodierendes historisches Bewusstsein geführt („Wozu noch Geschichte?“), verzeichnete die Geschichtskultur bis zum Ende des Jahrzehnts eine regelrechte Konjunktur, als sich ein bis dato unbekanntes, breites und elementares Interesse an der Vergangenheit bemerkbar machte, das auch die Zeitgeschichte einschloss. Die Frage nach den Gründen für diesen raschen Wandel verweist auf übergreifende strukturelle Verschiebungen. Im Zeichen der Krise des westlichen Wohlfahrtsstaates infolge von Ölkrise, beginnender Massenarbeitslosigkeit und ökologischen Bedrohungsszenarien wurden politisch-soziale Grundlagen und die damit verbundenen Zukunftsvorstellungen brüchig. Die dadurch angestoßene politisch-kulturelle Suchbewegung nach neuen Orientierungen, nicht weniger als eine „Umschichtung des zivilisatorischen Bewußtseins“ (Martin Broszat), veränderte die kollektiven temporalen Selbstverständnisse – und folglich auch die in der Gesellschaft umlaufenden Geschichtsbilder. Aus dieser krisenhaften Melange entstand ein existentiell und instrumentell motiviertes Wissen um die politische Bedeutung von Geschichte. In der geschichtskulturellen Arena war dabei die neue Verbindung von Geschichte, Massenmedien und Kommerzialisierung ein wesentlicher Faktor, der das Vergangene zur attraktiven Geschichte und zum marktgängigen Produkt werden ließ.

Sicherlich die stärksten Impulse gingen von den Produkten der populären Kultur aus. Bereits in den frühen siebziger Jahren setzte ein zunehmend breiteres Interesse an der Geschichte des „Dritten Reiches“ ein. Dies schlug sich mehrfach und intensiv in der Populärkultur nieder, so dass man schon für die Jahre vor Holocaust von einer neuen Anschaulichkeit des Themas sprechen kann. Ein neuer Diskurs formierte sich in jenen Jahren in der westlichen Welt und besonders auch in der Bundesrepublik. Die imaginäre Ebene der Bilder, Phantasmen und Gefühle ansprechend, zeigte er sich auf der politischen Rechten wie auf der Linken. Der israelische Historiker Saul Friedländer erkannte in seinem Essay Kitsch und Tod in Filmen wie Hans Jürgen Syberbergs Hitler – ein Film aus Deutschland (1977) oder in Joachim C. Fests Hitler – eine Karriere (1977) die Ablösung der zuvor dominanten moralischen Distanzierung vom Nazismus durch eine ästhetische Faszination und moralische Gespaltenheit. Den Grund hierfür sah er in einer Reduktion der Problematik auf ästhetische Kategorien. Dieser neue, vom Nazismus faszinierte Diskurs, der „Widerschein in der Nachgestaltung“, wirke in Richtung einer Exorzierung bzw. Neutralisierung des Nazismus, einer „Ausblendung seiner Verbrechen“, indem die Vergangenheit auf normale, auf erträgliche Dimensionen zurückgedrängt werde.

Tatsächlich, „das Thema des zwanzigsten Jahrhunderts: Hitler“ (Susan Sontag), erlebte in den Siebzigern eine nachhaltige Wiederbelebung. Kontrastierend zu den gleichzeitig weit verbreiteten Klagen über ein mangelndes Geschichtsinteresse war bereits seit 1973 von einer „HitlerWelle“ und „Hakenkreuznostalgie“ die Rede, die 1977/78 ihren Höhepunkt erlebte. Dabei verstärkten sich publizistische, wissenschaftliche, kommerzielle, politische und neonazistische Aktivitäten gegenseitig. Memoiren, Sachbücher, Bildbände, Filme, Schallplatten mit Hitler- und Goebbelsreden boomten in einem Klima weitverbreiteter, zynischer Judenwitze und füllten die Grauzonen zwischen Erinnerung und Dokumentation mit Banalisierung, Beschönigung und Verherrlichung des „Dritten Reiches“. Erst 1983, mit dem Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher des Stern, ging diese zwischen neuem Interesse und unbegriffener Faszination oszillierende Tendenz abrupt zu Ende.

Sowohl die zweifelhafte als auch die seriöse historische Publizistik trafen auf öffentliche Nachfrage. Erneuertes Interesse, neues Begreifen und alte Verdrängungen gingen Hand in Hand. Ein vieldiskutiertes Beispiel für die ambivalente, auf breite Käuferschichten zielende Vermarktung war die Zeitschrift „Das III. Reich“, die der Hamburger Jahr-Verlag seit 1974 herausgab. Mit diesem 14tägig erscheinenden bunten Magazin wurde einer tendenziell positivistischen Popularisierung der NS-Geschichte Vorschub geleistet. Doch derlei Produkte weckten auch kritische Gegentendenzen. Ein Indiz für den gelungenen Versuch, seriöse Informationen gegen das Spiel mit der historischen Faszination zu setzen, war die seit 1977 publizierte, verdienstvolle Fischer-Taschenbuchreihe „Die Zeit des Nationalsozialismus“ („Schwarze Reihe“). Auch die kritische Auseinandersetzung mit der „Kunst im 3. Reich“ – so der Titel der ersten großen Ausstellung nationalsozialistischer Bildwelten, die 1974 im Frankfurter Kunstverein gezeigt wurde – begann nun und legte die massenkulturell wirksame, ästhetische „Dekoration der Gewalt“ (Berthold Hinz) frei.

Mit Blick auf die politische Kultur gilt ebenfalls: Die breite Resonanz auf Holocaust fiel nicht vom Himmel. Da war zum einen die fortdauernde und doch spezifisch neubelebte Debatte um die Gegenwartsrelevanz der NS-Vergangenheit – ablesbar in öffentlichkeitswirksamen Kontroversen, in denen die „Salonfähigkeit der unwahrhaftigen Wahrnehmungsverweigerung“ (Michael Hereth) mit kritischen Gegenpositionen konfrontiert wurde: etwa in den Diskussionen um die „Hitler-Welle“, 1976 in der ersten Fassbinder-Debatte um die Aufführung des Stückes Der Müll, die Stadt und der Tod, im selben Jahr anlässlich des skandalösen „Falles Rudel“ oder auch in den politischen Auseinandersetzungen der Jahre 1977 und 1978 um die biographische Belastung einzelner Spitzenpolitiker wie Karl Carstens, Hans Filbinger und Hans Puvogel. Ende 1975 begann der bis 1981 andauernde Majdanek-Prozeß gegen 15 ehemalige SS-Leute. Und seit 1978 wurde – wieder – über die Frage der Verjährung von NSVerbrechen diskutiert. Nach der Holocaust-Ausstrahlung, die in diesem Punkt tatsächlich Wirkung zeigte, hob dann der Deutsche Bundestag 1979 jegliche Verjährungsfrist für Mord prinzipiell auf.

Zum anderen zählte zu den wichtigen Voraussetzungen der Wirkung des Films auch die seit etwa 1976 zunehmend größere Besorgnis um die Entwicklung der politisch-kulturellen Fundamente der Republik. Denn parallel und auf eigentümliche Weise verschlungen mit den Vergangenheitsdebatten wogte ein Extremismus-Diskurs, der vor und nach dem „Deutschen Herbst“ des Jahres 1977 das Thema Nationalsozialismus immer wieder aktualisierte: sowohl infolge der politischen Debatte um die Verknüpfung des RAF-Terrorismus mit der deutschen Unheilsgeschichte (sei es als Streit um die Wiederkehr des Verdrängten, sei es als Kontroverse um die Verirrung ursprünglich antifaschistisch gesinnter Linker) als auch durch die zur gleichen Zeit besorgniserregende Zunahme rechtsextremer und neonazistischer Vorfälle.

So gaben der Linksterrorismus und die staatliche Reaktion darauf vielen Beobachtern ebenso zu denken wie der gleichzeitige Aufschwung von Antisemitismus und terroristischem Rechtsextremismus (u.a. „Wehrsportgruppe Hoffmann“, Manfred Roeder, Michael Kühnen); letzterer gipfelte nicht nur in Bombenanschlägen auf Sendeanlagen kurz vor der HolocaustAusstrahlung, sondern auch im blutigen Attentat auf das Münchner Oktoberfest am 29. September 1980. Die erste größere öffentliche Diskussion um die Frage des Umgangs mit der neonazistischen Propaganda der „Auschwitz-Lüge“ fiel in die zweite Hälfte der siebziger Jahre. Unter anderem darin und in begleitenden, alarmierenden Studien zum geschichtlichen Wissen der jüngsten Generation („Boßmann-Studie“) war die konzertierte geschichtskulturelle Aktion einer bildungs- und jugendpolitischen Offensive begründet, die erstmals im Vorfeld des 40. Jahrestages des Novemberpogroms 1978 zum Tragen kam. Dieser politische Gedenktag markiert einen maßgeblichen Faktor der erinnerungskulturellen Wende, da er aus Anlass der NS-Judenverfolgung erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine wirklich breitenwirksame politische Aktivität und entsprechende mediale Begleitung evozierte – ein zentrales Substrat der Holocaust-Wirkung.

 

Politische Gedenktage im Wandel – die Erinnerung an das Novemberpogrom

Dass sich die Erinnerungskultur unter der Ägide sozialdemokratischer Demokratisierungspolitik seit den frühen siebziger Jahren sowohl „von oben“ wie auch „von unten“ veränderte, zeichnete sich an den politisch bedeutsamen Gedenktagen ab; etwa am neuen Umgang mit dem geschichtspolitisch schwierigen Datum des 8. Mai 1945, dessen symbolpolitischer Stellenwert aufgewertet wurde, während gleichzeitig die damit verknüpften historischen Deutungen komplexer und kritischer wurden.

Anhand der Geschichte des Gedenktages zur „Reichskristallnacht“ wird der außerordentliche Aufschwung einer breitenwirksamen öffentlichen Thematisierung der rassistischen NSVerbrechen deutlich. Die Erinnerung an das nationalsozialistisch gesteuerte, reichsweite Pogrom gegen die deutschen Juden hatte sich Ende der fünfziger Jahre als wichtiger Teil der jungen westdeutschen Erinnerungskultur etablieren können. Das öffentliche Zelebrieren dieses Gedenkens übernahm zusehends die Funktion einer pauschalen Erinnerung an die nationalsozialistische Judenverfolgung. Den tatsächlichen Durchbruch des Gedenktages innerhalb der bundesrepublikanischen Geschichtskultur brachten jedoch erst die vielschichtigen Veränderungsprozesse der siebziger Jahre.

Der 40. Jahrestag im November 1978 markierte in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur; es war die intensivste, öffentlichkeits- und breitenwirksamste Vergegenwärtigung der NSJudenverfolgung, die die Bundesrepublik bis dato gesehen hatte. Schon wochen-, ja teilweise monatelang vor der vierzigsten Wiederkehr des Datums kündigte sich eine Welle unterschiedlichster Gedenkveranstaltungen an. Die bundesweite Mobilisierung führte in der breiten Öffentlichkeit und besonders in der jüngeren Generation zu einer umfassenden Sensibilisierung für die Thematik der Judenverfolgung im „Dritten Reich“. Erstmals in der Gedenktagsgeschichte war die historische Publizistik besonders geprägt von personalisierender und empathischer Anschaulichkeit, von Berichten damaliger Augenzeugen und Opfern der Pogrome. Ein außerordentlicher Schub öffentlichen Interesses, dies ist für die chronologische und kausale Genese der bundesdeutschen Erinnerungskultur maßgeblich, begann somit bereits im November 1978. So setzte denn auch die große Nachfrage nach historischem Informationsmaterial bei den Institutionen politischer Bildung infolge der großen Öffentlichkeitswirkung der 40. kalendarischen Wiederkehr der „Kristallnacht“ schon weit vor der Holocaust-Ausstrahlung ein.

Einen Monat nach dem 40. Jahrestag schrieb Hans Steinitz, Chefredakteur und Herausgeber der einst von deutsch-jüdischen Emigranten gegründeten New Yorker Zeitung Aufbau, mit Blick auf die überraschende Resonanz dieses Datums, „es ist, als sei ein Damm geborsten und mit elementarer Wucht ein neues Bewusstsein über Deutschland hereingebrochen“. Der zweieinhalb Monate spätere massenmediale Erfolg von Holocaust hat diesen wesentlichen Teil seiner Wirkungs-Vorgeschichte marginalisiert und bald vergessen lassen.

Die Erinnerungskultur der DDR hatte bis dato einen anderen Schwerpunkt. Den NSVerfolgten wurde summarisch am „Tag der Opfer des Faschismus“ gedacht, während der wichtigste politische Gedenktag in diesem Kontext der 8. Mai 1945 war, der „Tag der Befreiung“. Seit den siebziger Jahren verschob sich dieser Schwerpunkt langsam. Nicht nur, dass der 8. Mai bereits Ende der sechziger Jahre vom arbeitsfreien Staatsfeiertag zum normalen Gedenktag zurückgestuft worden war, vielmehr rückte umgekehrt der Pogromjahrestag nun immer mehr von der Peripherie ins Zentrum der ostdeutschen politischen Kultur (wo er dann 1988, am 50. Jahrestag, angekommen war). So markierte – in gewisser Hinsicht parallel, und doch unter ganz anderen politischen Bedingungen als in der Bundesrepublik – der 40. Jahrestag der Pogrome auch in der DDR eine Zäsur. Denn im November 1978 war die Erinnerung an das Novemberpogrom erstmals sowohl für die Staatsführung als auch für die Evangelischen Kirchen (als dem für die Entwicklung der politischen Kultur wichtigen, weil einzig in einer relativen Autonomie agierenden gesellschaftlichen Akteur) zu einem herausragenden Datum des öffentlichen Erinnerns geworden, wie sich besonders an der beträchtlich gestiegenen Zahl der Gedenkakte, an der herausgehobenen Platzierung in den Medien und der verstärkten offiziellen und internen Bedeutungszumessung zeigte. Freilich war die diktatorische Überformung des Gedenkens, wie es die SED bis zum Ende der DDR praktizierte, Kennzeichen einer anderen, auf den „Antifaschismus“ zentrierten deutschen Erinnerungskultur, in der nun aber zunehmend auch Juden als „Opfer des Faschismus“ öffentliche Aufmerksamkeit erhielten.

 

Geschichtswissenschaft

Der Spiegel schrieb nach der eruptiven öffentlichen Anteilnahme an der HolocaustAusstrahlung in der Bundesrepublik, der Tag der Sendung sei ein „Schwarzer Freitag für die Geschichtswissenschaft“ gewesen. Tatsächlich waren die Historiker im Negativen wie im Positiven in den konstitutiven kulturellen Wirkungskontext des Films eingebunden. Einerseits war die akademische Geschichtsschreibung seit einigen Jahren in einem methodischthematischen Erweiterungsprozess begriffen, der auch dem Thema Nationalsozialismus und Judenverfolgung größere fachliche und öffentliche Resonanz brachte. So war die Geschichtswissenschaft und besonders die allgemeine historische Publizistik am geschichtskulturellen Glacis der Sendung beteiligt: mit ebenso brillanten (pars pro toto: Sebastian Haffners Anmerkungen zu Hitler, 1978), aufsehenerregenden (Albert Speers Spandauer Tagebücher, 1975) wie bedenklichen Bestsellern (Hellmut Diwalds Geschichte der Deutschen, 1978). Andererseits – und darauf zielte das Spiegel-Verdikt – trugen manifeste thematische Lücken der Zeithistorie und auffallende Mängel in der öffentlichen Vermittlung des Stoffes zu der überraschenden Wirkung bei. Der fachwissenschaftliche Umbruch fand im Spannungsfeld zwischen öffentlichen Diskussionen um die gesellschaftliche Bedeutung von Geschichte und einem Methodenstreit um die Annäherung an die Sozialwissenschaften statt, eng verknüpft mit der ungewöhnlich scharfen Kontroverse um den wissenschaftlichen und politischen Stellenwert von Totalitarismus- und Faschismustheorien. Dieser sozialgeschichtliche Paradigmenwechsel zeitigte binnen eines Jahrzehnts Folgen: die langsame Etablierung einer unter dem Stichwort „Historische Sozialwissenschaft“ firmierenden Gesellschaftsgeschichte, das Aufkommen einer „Geschichte von unten“, einer Alltagsgeschichte, die sich für die konkreten individuellen Schicksale besonders der „Verlierer“, Opfer und Ausgegrenzten interessierte, ebenso eine bewusstseinsschärfende Fachkontroverse über den Zusammenhang von Form und Erkenntnisgehalt der Geschichtsschreibung (Theorie versus Erzählung).

Für die westdeutsche Zeitgeschichtsforschung, genauer: die NS-Forschung, die bis dahin primär herkömmliche Politikgeschichtsschreibung betrieben hatte, erbrachte diese Neuorientierung nicht nur eine langsame Öffnung für die Erfahrungsgeschichte auch der jüdischen NSOpfer, sondern auch strukturgeschichtliche Fragen nach dem NS-Herrschaftsapparat und der Rolle Hitlers darin: War Hitler in gewisser Hinsicht auch ein „schwacher Diktator“ (Hans Mommsen)? Welche Herrschaftsstruktur prägte den NS-Staat, Polykratie oder Monokratie? Gab es einen Befehl Hitlers zur Vernichtung der Juden Europas oder war diese ein Resultat sich steigernder struktureller Radikalisierung? Die sozial- und alltagsgeschichtliche Erweiterung der Forschung zog nicht nur eine Ausweitung des Themenkanons nach sich, sondern auch substantielle Erkenntnisfortschritte, etwa in dem seit 1977 publizierten Projekt „Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933-1945“ des Instituts für Zeitgeschichte, ebenso in dem von Lutz Niethammer verantworteten Oral-History-Projekt „Lebenslage und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960“.

Mit den frühen siebziger Jahren setzte eine internationale Shoah-Forschung ein (begleitet von der Diskussion um eine „Nach-Auschwitz-Theologie“). In der westdeutschen Zeithistorie machte sich dies bald bemerkbar, fand doch in diesen Jahren eine thematische Verschiebung des Zeit- und Themenhorizontes statt; so widmeten sich die Historikertage 1974 und 1978 erstmals auch jüdischen Themen (freilich der vor-nationalsozialistischen Zeit). Nach der systematischen Aufarbeitung der Vorgeschichte des „Dritten Reiches“ und der Folgen der NS„Machtergreifung“, wie sie die ersten beiden Jahrzehnte der Nachkriegszeitgeschichte kennzeichnete, wandten sich zunehmend mehr bundesdeutsche Historiker der Geschichte von Ausgrenzung, Verfolgung und Massenmord zu, teils infolge des erwähnten fachlichen Umbruches, mitunter auch in Reaktion auf den rechtsextremen Revisionismus in Sachen Völkermord an den Juden. Beispiele hierfür sind etwa Uwe Adams Studie zur Judenpolitik im Dritten Reich, 1972, Martin Broszats Analyse der Genesis der „Endlösung“, 1977 und Christian Streits Pionierstudie Keine Kameraden zum Umgang der Wehrmacht mit den sowjetischen Kriegsgefangenen, 1978. In dem Maße, in dem sich westdeutsche Historiker dem rassistischen Genozid zuwandten, fiel auch die fortdauernde Randexistenz dieses Themas in der DDR-Historie auf, die zwar in diesen Jahren ebenfalls vorsichtige thematische Weiterungen wagte, aber gegenüber dem NS-Antisemitismus und den darin gründenden Verfolgungsverbrechen infolge der SED-Geschichtsideologie und deren Konzentration auf die kommunistischen Widerstandskämpfer arge Deutungsprobleme hatte.

Auch von den fachwissenschaftlichen Veränderungen erhielt die gesamte westdeutsche Geschichtskultur bald Impulse – und umgekehrt nahmen Zeithistoriker Vorstöße der zunächst als „Barfußhistoriker“ verniedlichten Geschichtsbewegung auf. Schüler, Studenten und vor Ort Interessierte gingen daran, die Geschichte des Alltags im NS-Staat zu rekonstruieren. Was vordem sowohl in den öffentlichen Geschichtsbildern als auch den professionellen Studien nur randständig oder ganz ausgespart geblieben war, wurde – teils seit Anfang der siebziger, teils seit Beginn der achtziger Jahre – nun nach und nach untersucht; etwa der sozialdemokratische und kommunistische Widerstand oder besonders auch die Vielzahl bisher scheinbar vergessener Opfergruppen: von den Sinti und Roma über die Homosexuellen bis zu den Zeugen Jehovas. So wuchs beispielsweise die Zahl der Publikationen zum Thema Konzentrationslager seit etwa 1978, nun widmete sich die Forschung zunehmend auch den zuvor kaum beachteten Außen-, Zwangsarbeits- und Strafgefangenenlagern; Beispiele hierfür sind die frühe Arbeit von Falk Pingel (Häftlinge unter SS-Herrschaft, 1978) oder ein von Herwart Vorländer herausgegebener Sammelband (Nationalsozialistische Konzentrationslager im Dienst der totalen Kriegführung, 1978). Insgesamt begann so eine zunächst begrenzte, bald aber nachhaltige Erweiterung der Themenfelder von Historiographie und Öffentlichkeit, in deren Fokus nun langsam, doch stetig die Opfergeschichte des „Dritten Reiches“ rückte. Diese Verschiebung zur verfolgungs- und opferzentrierten Perspektive war bereits vor Holocaust im Gang und wurde durch den emotionalen Erfolg des Films noch zusätzlich verstärkt.

 

Auswahlbibliographie

a) zeitgenössische Literatur

Adam, Uwe, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972.

Bergmann, Klaus/Hans-Jürgen Pandel (Hg.), Geschichte und Zukunft. Didaktische Reflexionen über veröffentlichtes Geschichtsbewußtsein, Frankfurt am Main 1975.

Bossmann, Dieter (Hg.), „Was ich über Hitler gehört habe...“. Folgen eines Tabus – Auszüge aus Schüler-Aufsätzen von heute, Frankfurt a.M. 1977.

Broszat, Martin u.a. (Hg.), Bayern in der NS-Zeit, 6 Bde., München u.a. 1977-1983.

Broszat, Martin, Hitler und die Genesis der „Endlösung“. Zur Kritik der Thesen von David Irving, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), S. 739-775.

Diwald, Hellmut, Geschichte der Deutschen, Frankfurt am Main u.a. 1978.

Fest, Joachim C., Hitler. Eine Biographie, Frankfurt am Main u.a. 1973.

Haffner, Sebastian. Anmerkungen zu Hitler, München 1978.

van Kampen, Wilhelm/Hans Georg Kirchhoff (Hg.), Geschichte in der Öffentlichkeit. Tagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom 5. bis 8. Oktober 1977 in Osnabrück, Stuttgart 1979.

Meyer, Alwin /Karl-Klaus Rabe, Phantomdemokraten oder Die alltägliche Gegenwart der Vergangenheit. 34 bundesdeutsche Reaktionen. Ein Lesebuch, Reinbek 1979.

Pingel, Falk, Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Konzentrationslager, Hamburg 1978.

Speer, Albert, Spandauer Tagebücher, Frankfurt am Main u.a. 1975.

Streit, Christian, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945, Stuttgart 1978.

Vorländer, Herwart (Hg.), Nationalsozialistische Konzentrationslager im Dienst der totalen Kriegführung. Sieben württembergische Außenkommandos des Konzentrationslagers Natzweiler/Elsaß, Stuttgart 1978.

 

b) Sekundärliteratur

Berg, Nicolas, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003.

Broszat, Martin, „Holocaust“ und die Geschichtswissenschaft, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 27 (1979), S. 285-298.

Friedländer, Saul, Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, erw. Neuausg., Frankfurt am Main 1999 (frz. 1982/dt. 1984).

Jeismann, Karl-Ernst, „Identität“ statt „Emanzipation“? Zum Geschichtsbewußtsein in der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 20-21 (1986), S. 3-16.

Käppner, Joachim, Erstarrte Geschichte. Faschismus und Holocaust im Spiegel der Geschichtswissenschaft und Geschichtspropaganda der DDR, Hamburg 1999

Knilli, Friedrich/Siegfried Zielinski (Hg.), Holocaust zur Unterhaltung. Anatomie eines internationalen Bestsellers. Fakten – Fotos – Forschungsreportagen, Berlin 1982

Kwiet, Konrad, Zur historiographischen Behandlung der Judenverfolgung im Dritten Reich, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 27 (1980), S. 149-192.

Märthesheimer, Peter/Ivo Frenzel (Hg.), Im Kreuzfeuer: Der Fernsehfilm `Holocaust´. Eine Nation ist betroffen, Frankfurt am Main 1979. Meyer, Claus Heinrich, Der veredelte Hitler der siebziger Jahre. Das Dritte Reich als Markenartikel, in: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 19 (1980) 75, S. 85100.

Mommsen, Hans, Die Last der Vergangenheit, in: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur `Geistigen Situation der Zeit´. Bd. 1: Nation und Republik, Frankfurt am Main 1979, S. 164-184. Novick, Peter, Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, Stuttgart u.a. 2001. Schmid, Harald, Erinnern an den „Tag der Schuld“. Das Novemberpogrom von 1938 in der deutschen Geschichtspolitik, Hamburg 2001.

Schmid, Harald, Antifaschismus und Judenverfolgung. Die „Reichskristallnacht“ als politischer Gedenktag in der DDR, Göttingen 2004 (im Druck, erscheint April/Mai 2004)

Thiele, Martina, Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film (Beiträge aus dem Zentrum für interdisziplinäre Medienwissenschaft der Universität Göttingen 1), München u.a. 2002.

 

Zitierempfehlung:

Harald Schmid, Die „Stunde der Wahrheit“ und ihre Voraussetzungen. Zum geschichtskulturellen Wirkungskontext von „Holocaust“, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Die Fernsehserie „Holocaust“ – Rückblicke auf eine „betroffene Nation“, hrsg. von Christoph Classen, März 2004, URL: <http://www.zeitgeschichte-online.de/md=FSHolocaust-Schmid>

 

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Die „Stunde der Wahrheit“ und ihre Voraussetzungen

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Zum geschichtskulturellen Wirkungskontext von „Holocaust“

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