In der monumentalen Gedenkstätte Fort IX am Rande der litauischen Stadt Kaunas wird an 50.000 jüdischen Menschen erinnert, die hier während der deutschen Besatzung zwischen Ende Juni 1941 und Sommer 1944 von SS-Einheiten und litauischen Helfern ermordet wurden.[1] Die meisten von ihnen gehörten zur Bevölkerung der Stadt, aber auch aus Deutschland, Österreich und Frankreich kamen die Opfer. Bis zu 20.000 weitere Menschen fanden hier den Tod, darunter sowjetische Kriegsgefangene, politische Häftlinge, litauische und polnische Bürgerinnen und Bürger.
Die litauische Geschichte als Geschichte der Okkupationen
Als das Memorial in sowjetischer Zeit errichtet wurde, betonte es allgemein das Leiden der Zivilbevölkerung und den heldenhaften Kampf gegen den Faschismus. Im Gegensatz dazu erzählt die Ausstellung im IX Fort heute neben der Geschichte der deutschen Besatzung auch die der doppelten sowjetischen Okkupation. Als Folge des Hitler-Stalin-Pakts annektierte die Sowjetunion im Juni 1940 Litauen. Viele Personen, die zur Elite des selbstständigen Litauens gehörten, wurden verhaftet, ermordet oder deportiert. Ab Ende Juni 1941 bis August 1944 befand sich Litauen unter deutscher Besatzung. Dies ist eine Geschichte von Unterdrückung und Ausbeutung, aber auch von Mittäterschaft und Kollaboration, Themen, die noch immer nicht vollständig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht worden sind.[2] Darauf folgte die sogenannte Befreiung durch die Rote Armee und der Anschluss an die Sowjetunion. Der Widerstand dagegen wurde auch durch die Deportation von mehr als 100.000 Menschen nach Sibirien nicht gebrochen. Die litauischen Partisanen und Partisaninnen, die „Waldbrüder“ kämpften bis in die Mitte der 1950er Jahre gegen die sowjetische Besatzungsmacht. Auch wenn das Leben in den späteren Jahren der litauischen Sowjetrepublik friedlicher ausfiel, so endete die sowjetische Okkupation in litauischer Lesart erst mit der erneuten Selbstständigkeit des Landes im Jahr 1991. In das kollektive Gedächtnis hat sich damit tief eingebrannt, dass die Abwesenheit von Krieg nicht gleichbedeutend mit Frieden ist, dass Besatzung Gewalt, Deportation und Folter bedeutet.
Vom Trauma der Überlebenden
Als Kaunas 2022 Kulturhauptstadt Europas war, wurde Bruce Clarke, ein britischer Künstler jüdisch-litauischer Herkunft, eingeladen, sich im IX Fort künstlerisch mit der traumatischen Geschichte des Ortes auseinanderzusetzen. Er nannte sein Projekt „Those who Stayed“.
Eine seiner bedrückenden Installationen trägt den Titel „Survivors in Suspension“ (Überlebende in der Schwebe). Die Doppeldeutigkeit weist auf eine Form der Folter hin, die viele Häftlinge erleiden müssen, sowie auf den psychischen Zustand derer, die Gefängnis und Folter überlebten. Clarke bezieht sich dabei auf die Aussage eines Überlebenden des Völkermords in Ruanda. Dieser beschrieb ihm, dass er nur äußerlich der Alte sei, dass aber der Bruch in seinem Leben nie überwunden werden könne und er sich innerlich in einem fortwährenden Zustand der Entfremdung von der Welt und den Menschen fühle. Clarkes Installation bezieht sich auf alle, die sich grauenvollen Misshandlungen und systematischer Folter in ihrer Haft ausgesetzt sahen, sie kennt keine Opferhierarchien. Explizit verweist der Künstler auf die in der Ukraine verübten Gräueltaten. Es ist diese Art des emphatischen Mitleidens, das die allgegenwärtig zum Ausdruck gebrachte Solidarität der Litauerinnen und Litauer mit den Menschen in der Ukraine prägt. Sie beruht auf leidvoller und geteilter historischer Erfahrung und aus Sorge um die eigene Zukunft. „Wir sind mit Euch“ – lautet entsprechend der Satz auf der ukrainischen Flagge, die über den Haupteingang des Kunstmuseums in Kaunas hängt.
Ohne Aufarbeitung und Bestrafung keine Läuterung
Der Prozess einer differenzierten Betrachtung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Besatzungsgeschichten ist durch den russischen Angriffskrieg ins Stocken geraten.[3] Zu viele Ereignisse wirken auf die litauische Gesellschaft wie ein Déjà-vu. Die Bilder aus Butscha wirkten retraumatisierend auf die litauische Gesellschaft. Die Willkür und absolute Brutalität des Massakers vom Frühjahr 2022, die Exhumierung der geschändeten und gefolterten Leichen, rief die Erinnerung an Massengräber aus der Zeit des Stalinismus hervor. Zwischen den von der Roten Armee oder dem NKVD (Narodnyj komissariat vnutrennich del, dt. Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) verübten und den aktuellen von der Russischen Armee begangenen Kriegsverbrechen besteht ein Zusammenhang. Auch die Art der Verschleierung und die Desinformationen von russischer Seite wecken diese Assoziation. Nicht nur in Litauen diskutiert man die Gründe für die ungebremste Gewaltbereitschaft der russischen Soldaten. Hier wie in den anderen baltischen Staaten oder in Polen wird eine Erklärung in der fehlenden Aufarbeitung des Stalinismus und der ebenso ausgebliebenen Bestrafung der Täter gesehen. Während die nationalsozialistischen Verbrechen bei den Nürnberger Prozessen und nachfolgenden Prozessen verurteilt worden seien, habe es ein vergleichbares Verfahren gegen den Stalinismus nie gegeben. Eine Läuterung der russischen Gesellschaft und eine demokratische Entwicklung Russlands sei aufgrund der fehlenden Aufarbeitung des Stalinismus und der Straffreiheit für die Täterinnen und Täter nicht in Gang gekommen. Die Verherrlichung von Gewalt und die imperialistischen Träume seien eine unmittelbare Folge davon. Insofern lautet eine Forderung Litauens heute, dieses Versäumnis endlich nachzuholen. Folgerichtig zieht dieser Gedankengang den Wunsch nach der Verurteilung und Bestrafung derjenigen nach sich, die gegenwärtig Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben oder dafür die Verantwortung tragen. In Litauen und ebenso in Estland und Lettland ist deshalb der Satz „Putin, Den Haag wartet auf Dich!“ im öffentlichen Raum präsent.[4]
Angesichts der jüngsten amerikanisch-russischen Verhandlungen, die einen gefährlichen Trump-Putin-Pakt zur Folge haben könnten, klingt die Forderung nach Bestrafung vergeblich. Falsch ist sie deshalb nicht und die Aufarbeitung des Stalinismus bleibt eine Aufgabe, der sich nicht nur Russland zu stellen hat.
[1] Die Frage der Täter- und Mittäterschaft an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung wird für den Fall Litauen in der Forschung ausführlich diskutiert und lässt sich nicht in zwei Sätzen abhandeln. Konsens besteht, dass die Federführung beim SS-Einsatzkommando A unter Führung von Walter Stahlecker lag und die Beteiligung von litauischen Aufständischen, antisowjetischen Partisanen und später litauischer Sicherheitspolizei als sehr hoch einzuschätzen ist. Die Rolle der Wehrmacht bzw. das Maß der Mitverantwortung kann bisher nicht abschließend beurteilt werden. Sie scheint vor allem eine Rolle bei der logistischen Unterstützung der Massenerschießungen gehabt zu haben. Zudem liegt das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen – auf litauischem Gebiet wird von 170.000 Toten ausgegangen – in ihrer Verantwortung.
[2] Vgl. Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, 2 Bände, Wallstein, Göttingen 2011; Ekaterina Makhotina, Erinnerungen an den Krieg – Krieg der Erinnerungen. Litauen und der Zweite Weltkrieg, Göttingen 2017; Arvydas Anušauskas (Hg.), Lithuania in 1940-1991. The History of Occupied Lithuania, Vilnius 2015.
[3] Einen kurzen Überblick bei: Eva-Clarita Pettai, Erinnerungsdiskurse und Geschichtspolitik in den baltischen Staaten, in: APuZ 8/2017, (12.02.2025).
[4] Am 17. März 2023 wurde vom Internationalen Strafgerichtshof ein Haftbefehl gegen Vladimir Putin erlassen, der sich auf dem Verdacht gründet, dass Putin die Verantwortung an der Deportation ukrainischer Kinder nach Russland trägt, vgl. https://www.icc-cpi.int/news/situation-ukraine-icc-judges-issue-arrest-warrants-against-vladimir-vladimirovich-putin-and (12.02.2025).
Zitation
Corinna Kuhr-Korolev, Den Haag wartet. Litauische Erinnerungskultur und der Angriff Russlands auf die Ukraine als Déjà-vu , in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://dev.zeitgeschichte-online.de/index.php/themen/den-haag-wartet